Alfred Eggenspieler   -   ein Porträt

Meine früheste Erinnerung an ihn: Er unter den Diakonen, die in weissen Chorröcken und weisser Stola an Festtagen zum Hochamt in der Kathedrale kamen. Er fiel auf, durch seinen Gang, sein Gesicht. Er hatte für mich ein geistliches Gesicht. Wenn ich je das Wort "geistlich" begriff damals, mit meinen kaum zehn Jahren, dann durch seine Erscheinung. Zu dieser Zeit wussten weder er noch ich, dass er mich später durchs Leben begleiten würde, freundschaftlich bis zu seinem Tod. Sein Haar hatte damals schon einen grauen Schimmer. Er sei wohl ein Spätberufener, sagte meine Mutter. Ob spät oder früh, berufen schienen in den Augen der Gläubigen zurzeit meiner Kindheit alle zu sein, die da singend und betend in die Kathedrale kamen. Und er war es ohne Zweifel. Man sah es ihm an. Meditation war seine innere Atmosphäre. Ein Versunkensein in eine Präsenz, die er eben Gott oder später oft, wie die Griechen, das Göttliche nannte. Er blieb glaubhaft als Priester auch dann noch, als die Kirche es für mich längst nicht mehr war. Und so erging es vielen, die ihn kannten.

Wenig später wurde er mein Religionslehrer am Gymnasium. Krieg herrschte rund um uns. Da er kein Feldprediger war, konnte er einspringen. Er war, wie man hörte, Spitalpfarrer und kam als Hilfslehrer zu uns. Vermutlich redete er über die Köpfe hinweg. Was er jedenfalls gab, war nicht gewöhnliche "Christenlehre". Er war auch unter den Lehrern der ganz Andere, Auffallende. Man lobte in der Stadt seine Toleranz. Seine Toleranz entsprang dem Geisteshorizont, den er hatte. Philosophie und Theologie, Naturwissenschaft und Psychologie, Dichtung und Kunst. All das lag im weiten Kreis seines enthusiastischen Interesses. Wenn er so daherkam, beschwingt und gelöst (in seinem Gesicht stets ein Lächeln, ein frei sich bewegendes Versunkensein in Gedanken), ging etwas heiter Meditatives von ihm aus. Er hielt seinen Kopf, als überblickte er einen weiten Gesichtskreis, wie Sören Kierkegaard auf der Silberstiftzeichnung, in einem Buch über die Geschichte der Philosophie, in dem ich damals eifrig las. Er war das Inbild eines Philosophen für mich. Die Philosophie war es denn auch, die uns bald verband. Mich, den blutjungen Schüler, und ihn, den Lehrer, der mit dreissig Priester geworden war und nun fortan etwas Seltenes darstellte: den Philosophen im geistlichen Gewand. Er war Denker und Seelsorger, beides zugleich.

Zurzeit, da er mein Lehrer war, beschäftigten mich Gottesbeweise. Als er uns die Geschichte der Schöpfung vortrug, unterbrach ich ihn. Ich fragte, wie man denn Gott beweisen könne. Die Frage beschwingte ihn. Er schweifte noch so gern ins Philosophische ab. "Rein ontologisch", gab er mir zur Antwort. Und er erklärte uns den sogenannten ontologischen Gottesbeweis. Da war er in seinem Element. Kürzlich fand ich ein handgeschriebenes Blatt von ihm. Es lag in jenem "Grundriss der Geschichte der Philosophie", in der ich damals viel gelesen hatte. Mit "Gottesbeweis nach Aristoteles" war das kleine Blatt überschrieben. Und die ersten Sätze lauteten: "Alle Dinge der sichtbaren Welt unterstehen dem Werden. Ein Ding, das wird, ist nicht notwendig, sonst hätte es immer sein müssen." Und so weiter bis zur Schlussfolgerung:

"Dieses notwendige Sein nennen wir Gott." ARISTOTELES, das war der Name, dem er anhing. Wenn er ihn aussprach, war es wie eine frenetische Beschwörung der Wahrheit des Seins.

Ich erinnere mich an Winterabende in Solothurn. Er wohnte oben auf der Anhöhe des Bürgerspitals, in einem alten Bauernhaus. Die Wände seiner zwei Kammern bestanden aus Büchern. Die Holzdecke drückte, die Fenster waren niedrig und schmal. In dieser Denkstube breitete er mir seine philosophische Lehre von der EINHEIT IN DER UNTERSCHEIDUNG aus, von den Entelechien des Kosmos, der dynamischen Natur des Seins. AKT und POTENZ waren die Schlüsselbegriffe. Er sprach sie baslerisch energisch und präzis. Wo immer ich heute auf die beiden Wörter stosse, nehmen sie den Tonfall an, den er ihnen gab, und ich höre sie wie aus seinem Mund. Ich war blutjung, um Philosophie heiss bemüht, wenn auch noch unverständig für vieles. Dennoch. Ich nahm sein Denken atmosphärisch in mich auf. Und es wurde so etwas wie ein ontologisches Plankton fürs Leben. Sein Denken war enthusiastisch. Es riss hin, wie auch sein Glaube an den menschgewordenen Gott. In jenem Winter war ich oft bei ihm. Es war der letzte, den er in Solothurn verbrachte.

Es kam zum Streit mit dem Bischof oder "Gnädigen Herrn". Der Streit hatte Folgen. Eggenspieler wurde nach Basel versetzt, als Vikar. Sein Wunsch war es gewesen, die universitäre Laufbahn einzuschlagen. Innsbruck bot ihm die Möglichkeit. Der Gnädige Herr von S. befand anders, und der junge Priester fügte sich. Hierarchische Repressionen überwand man zu jener Zeit im Gebet. Aber verwundet blieb man zeitlebens. So auch er. Weltläufig hatte es begonnen mit ihm. In Paris das Studium der Philosophie, in Rom die Theologie. Dann die Pfarrstelle am Spital und Hilfslehrer für Religion. Und nun Basel, die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war. Mit Eifer und Passion setzte er auf die Seelsorge und liess die Philosophie. Wenn er predigte, füllten sich die Kirchen. Wenn er Beichte hörte, kamen die Gläubigen in Scharen. Verstossene, Gekränkte, Gescheiterte, Arme suchten ihn auf. Die ganze Pathologie einer Grenzstadt kehrte bei ihm ein. Auch in der Seelsorge war er der Ungewöhnliche, Auffallende. Doch blieb er Vikar. Der "Gnädige Herr" gab ihm spät erst eine Pfarrstelle, Klingenzell im Thurgau. Er, der urbane Seelsorger aus Basel wurde Landpfarrer über vierzehn Familien. Als hätte sich die Kirche Unterdrückung ihrer Talente je leisten können. Als hätte sie nicht, gemäss ihrem Apostel Paulus, die Aemter nach Geist und Gabe zu verteilen. Gleichviel. Alfred Eggenspieler versah auch das kleine Amt mit Elan. Es gab ihm Zeit für seine Philosophie. Ihr konnte er sich erneut verschreiben. Ihr und der modernen Kunst. Auch sie war in seinen Augen Offenbarung. Er entdeckte in ihr archetypische Analogien und deutete das Entdeckte christologisch. Es entstanden Aufsätze über brennende Themen. Der grosse Schatten Hegels erhob sich. Er rang mit ihm, er bekämpfte ihn. In ihm sah er den Antipoden der eigenen Philosophie. Und machte ihn ähnlich wie Hugo Ball für staatlichen Absolutismus, für das politisch Totalitäre, verantwortlich.

Weltläufig hatte es begonnen mit ihm; urban endete es. Von Klingenzell ging er nach Zürich, frei von allen Aemtern. Hier sind seine letzten Schriften entstanden, etwa die grossen Aufsätze über Hölderlin. Und manches andere, was mit in diesem Buch gesammelt erscheint. Mit vier-, fünfundzwanzig hatte er sein erstes Werk geschrieben: "Durée et Instant", ein Essai über die Analogie des Seins, erschienen 1933 in Paris bei Vrin. Ein junger Hochbegabter schreibt seinen Erstling, und es ist ein Wurf. In französischer Sprache schreibt er ihn und erweckt das Interesse der philosophischen Kreise von Paris. Um Bergson und Bachelard horchte man auf. Gaston Bachelard (seine poetologischen und philosophischen Schriften werden gerade zurzeit wiederentdeckt) rühmte Eggenspielers Buch. Es gehe "un charme métaphysique" von ihm aus, schrieb er in den "Recherches philosophiques". Er lobte die ungewöhnliche "konzentrierte Rationalität" und die "souveränen Klarheiten" seines Denkens. Bachelards Ausdruck vom "charme métaphysique" mutet im nachhinein wie ein Wesenssignet Alfred Eggenspielers an. Er selbst, als Mensch, hatte einen metaphysischen Charme.

Durée et Instant war wie das Urmolekül seines Denkens. Hier hatte er den Seinskode des Aristoteles entdeckt. Mit ihm entschlüsselte er fortan Kunst und Dichtung, Gesellschaft und Kirche, Philosophie und Theologie. Was er von Kardinal Newman schrieb, gilt in gleichem Masse von ihm selbst: "Den neuzeitlichen Spaltungserscheinungen, die heute gerne in verharmlosender und beschönigender Weise unter den Begriff des gesellschaftlichen Pluralismus gestellt werden, setzte er in seiner Integration das ganzheitliche Denken und Leben entgegen."

Herbert Meier


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