Indem Hegel das potentielle oder relative Nicht-Sein unterschlug, glaubte er sich zur Leugnung des transzendent Göttlichen berechtigt. Deshalb müssten aber der tragischen Dialektik zwischen Absolutem Sein und absolutem Nichts, zwischen Identität und Widerspruch verfallen. Vermeidet man jedoch das Polare oder das relative Sein und relative Nicht-Sein aufzuspalten, führt es zur Entdeckung des geschaffenen oder kontingenten Seienden und damit zur Erkenntnis des wahren Absoluten oder überweltlichen Gottes. Schon Humanisten, Aufklärer und Modernisten waren sich in der Ablehnung der Scholastik einig.
Allerdings ist es auch möglich, dass sich der Widerstand gegen ein Zerrbild der Scholastik, gegen ihre Entartung richtet. Von dieser kritischen Unterscheidung aus wird man auf die oben gestellte Frage mit Ja und Nein antworten. Eine gewisse Tragik scheint gerade darin zu liegen, dass die scholastische Philosophie, trotz wertvollster Prinzipien, bisweilen auch einem unbeweglichen Routinedenken, das sich zu sehr auf einmal getroffene Lösungen stützt, dienen musste. Mit Recht hat deshalb Papst Johannes XXIII. im Hinblick auf theologische Formulierungen von neuen Denk- und Ausdrucksmöglichkeiten gesprochen. Nicht geringer wäre jedoch die Tragik, wenn anlässlich dieser Anregung das kostbarste ontologische Gedankengut verworfen, das Kind also mit dem Bade ausgeschüttet würde. Damit soll die Möglichkeit und sogar Wünschbarkeit auch einer von Aristoteles unabhängigen Theologie, wie sie Hans Küng fordert, nicht in Abrede gestellt werden. Aber so gut man versuchen darf, die Theologie mit Hilfe der indischen Vedanta Philosophie zu entfalten, so wenig lässt sich behaupten, dass die moderne Intelligenz durch eine Theologie, die mit der Aristotelischen Denkform vermählt ist, nicht mehr ansprechbar sei.
Es handelt sich in der Ontologie vor allem um die Grundstruktur des kreatürlichen Seins, um die Unterscheidung des Seins in ein aktuelles und potentielles, um unser entelechistisch (zielstrebig), komplementäres Grundbefinden. Der Begriff der Potenz erweist sich dabei nicht nur als Prinzip des Werdens und der Evolution, sondern auch, weil er das relative Nicht-Sein darstellt, als Prinzip seinsmässiger, nicht nur qualitativer, Unterscheidung und transzendent-immanenter Verbindung der Gegensätze zur komplementären Integration. So bildet der Mensch beispielsweise die aktuellpotentielle Zweieinheit einer leiblichen Seele oder eines seelischen Leibes oder des natürlich-übernatürlichen Lebens, nicht nach Art einer äusserlichen, dualistischen Schichtung, sondern eines immanent-transzendenten, zugleich Ineinander- und Uebereinanderseins.
Dieses unvergleichlich auf die Wirklichkeit zutreffende Unterscheidungs- und Verbindungsprinzip wurde von Aristoteles entdeckt, aber von ihm und der Scholastik noch lange nicht in seiner ganzen Tiefe und Weite zur Anwendung und Entfaltung gebracht. Diese einzigartige Entdeckung allein schon macht Aristoteles zum Vater des geistesgeschichtlichen Abendlandes. Es kann also nicht heissen: Scholastik am Ende, sondern in der Wende ("reflexio"), in der Rückwende oder Rückbesinnung auf ihr dynamisches Grundprinzip der Potentialität (Dynamis). Dies umsomehr als die experimentellen Wissenschaften der Physik, Biologie, Psychologie usw. zu dieser Ontologie unterwegs sind, sie bestätigen und immer mehr nach ihr rufen.
Das zeitgenössische Denken kennt wieder eine Seinsphilosophie. Die verachteten Namen "Metaphysik" und "Ontologie" sind wieder zu Ehren gekommen. Husserl, Nicolai Hartmann und Heidegger lassen sich in gewissem Sinn als geheime Aristoteliker bezeichnen, indem sie, wenn auch nicht ausdrücklich, den realistischen, in der Sinneserfahrung wurzelnden, phaenomenologischen Ansatz mit Aristoteles teilen. Es spricht für die Aktualität thomistischen Denkens, dass man heute, nachdem Kant den Zugang zum Objekt versperrt und der Idealismus es sogar im Subjekt aufgelöst hat, die Hinwendung und Rückkehr zum realistisch phaenomenologischen Objekt vollzogen hat. Damit ist man auch, wenigstens grundsätzlich, zur Lichtung des Seinshorizontes in Richtung des transzendenten Gottes gelangt. Nicht zufällig schreibt Heidegger, man möge 30 Jahre Aristoteles studieren, und, wenn dann noch Zeit übrig wäre, etwas moderne Philosophie. Und der Entdecker der sogenannten Unbestimmtheits-Relation in der Kernphysik, Werner Heisenberg, schreibt den nicht weniger epochemachenden Satz, dass man mit dieser unklassischen Unbestimmbarkeit wieder auf den Potenzbegriff des Aristoteles stosse. Der aristotelische Materiebegriff entspricht dem der Potentialität und ist deshalb im Einklang mit der Aeusserung Heisenbergs ontologisch zu verstehen. Indem sich das philosophische Denken seit Beginn der Neuzeit ausserhalb der christlichen Glaubenslehre entwickelt hat, erweist sich dieses in einem gewissen negativen Sinne als zeit- und geschichtslos, während die wieder aufstossende, aristotelische Denkform ihre Geschichtsmächtigkeit erweist. Schon vor mehr als einem Jahrhundert, bemerkt Darms, bekannte der Nobelpreisträger Rudolf Eucken, dass die vermeintlich überwundene thomistische Philosophie wiederum in den "Vordergrund des Lebens trete und nicht nur Duldung, sondern Herrschaft verlange". (Gion Darms, Scholastik noch aktuell?)
Typis Polyglottis Vaticanis, Christiana-Verlag, Zürich, Herdern, Frankfurt a. M., 1965, passine. Wer die scholastische Ontologie mit Hilfe der Naturwissenschaft erledigen möchte, verkennt entweder das Wesen der Philosophie oder das Wesen der Naturwissenschaft, oder es fehlt ihm die formal und methodisch saubere Unterscheidung beider Gebiete.
Darms lässt nun die Scholastik ihrem Inhalte nach als aktuell erscheinen. Die Lehre des Thomas vermittelt uns Sicherheit und Geborgenheit in der Gotteserkenntnis und wahrt gegen einen alles in Frage stellenden Relativismus den Persönlichkeitscharakter des Menschen. Im Unterschied zum nihilistisch angstvollen Denken schenkt sie dem modernen Menschen den lebensnotwendigen Optimismus und das sinnerfüllte Dasein. Thomas ermöglicht durch die Erkenntnis des immanenttranszendenten Gottes die grossen Synthesen, beispielsweise von Individuum und Gemeinschaft, von Glauben und Wissen, von Natur und Gnade.
Der Fachgelehrte sollte in der Erkenntnis der Grenzen seines Zuständigkeitsbereiches sich gleichzeitig stets bemühen, den Blick für das Ganze als Einheit im Verschiedenen zu sehen. Eine brauchbare Synthese wird nie durch die Vermengung der Wissensgebiete erreicht. Das illustriert Darms an Teilhard de Chardin. In seinem Werk "Der Mensch im Kosmos" erklärt Teilhard beispielsweise, sein Buch sei "einzig und allein als naturwissenschaftliche Arbeit" zu betrachten. Dies hindert ihn aber nicht, die erlösende Menschwerdung Christi und seine Parusie wie auch das Böse und die Sünde in naturwissenschaftliche Kategorien einzufangen und dafür eine naturwissenschaftliche Erklärung anzubieten. Die erwähnten Mysterien können jedoch unmöglich Gegenstand der Naturwissenschaft sein, die sich auf Grund ihres sachgegebenen Gesichtspunktes im Rahmen der experimentellen Ordnung bewegt.
Vorbildlich präsentiert sich dagegen das Werk des berühmten Physikers Pascual Jordan. Er begnügt sich darzulegen, dass alle Hindernisse, alle Mauern, welche die ältere Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion aufgerichtet hatte, heute nicht mehr da sind. Damit soll nicht im entferntesten gesagt sein, es sei einem Gelehrten verwehrt, sich Gedanken zu machen, die den Rahmen seines Faches sprengen. Die von ihm geforderte Offenheit des Blickes verlangt dies vielmehr. Er muss nur um der formalen und methodischen Sauberkeit willen deutlich sagen, unter welchem Titel er sich äussert. Die methodisch mangelhafte Unterscheidung mag im mystischen Erleben entschuldbar sein, nicht aber in der wissenschaftlichen Erkenntnis.
Der ganze Komplex der Entwicklungsfrage, fährt Darms fort, ist keineswegs so einfach und klar, wie es beispielsweise die Darstellung von Teilhard vermuten liesse. "Die Evolutionsforschung", schreibt Adolf Portmann, "ist voller Bewegung. Sie ist noch nicht zu Ergebnissen gelangt, die jenseits aller Diskussion bestehen". Und der Physiker W. Heitler bemerkt: "Auf das Problem der Entstehung der ersten lebenden Zellen - etwa aus nicht-lebender Materie? - wollen wir gar nicht eingehen. Hierüber ist absolut nichts bekannt, und nicht einmal eine brauchbare Hypothese existiert". "Derartige Aeusserungen", schreibt Darms mit Recht, präsentieren vom Urstaub bis zur Wiederkunft Christi alles in einer lückenlosen, nivellierenden, "wissenschaftlichen Synthese" vereinigt ist.
Es ist heute, meint Darms, eine weitverbreitete Erscheinung, dass die gleichen Leute, die der Philosophie und Theologie mit Skepsis begegnen, kritiklos alles schlucken, was ihnen unter naturwissenschaftlicher Etikette präsentiert wird. In gleichem Masse, wie man das angeblich glaubensgefährdende, alte ontologische Weltbild ablehnt, schwört man auf das neue, womöglich auf ein von unbewiesenen Hypothesen schwangeres, im Sinne Teilhards. Wenn die Verkündigung des Glaubens, ihr Schicksal und ihre Wirksamkeit vom modernen Weltbild und einem daran orientierten philosophisch-theologischen Denken abhängig gemacht werden (J. V. Kopp), wird eine Pseudoproblematik heraufbeschworen und bestenfalls eine Bildungsreligion gezüchtet, die mit der Botschaft des Neuen Testamentes und dem sakramentalen Leben der Kirche nichts zu tun haben. Ihr Verständnis ist weder abhängig von der Geozentrik noch von der Heliozentrik, weder von der Konstanz der Arten, noch von der Evolution; sie ist nicht abhängig von irgendwelcher kosmologischen Auffassung, und ebensowenig bedingt durch sie. Es ist daher eine unbegründete Uebertreibung, wenn man die Wirksamkeit der kirchlichen Verkündigung mit ihrer Anpassung an moderne Hypothesen stehen und fallen lassen will. "Sein Heil muss der Mensch mit der Gnade Gottes durch seine Entscheidung genauso in der einen wie in der andern Welt wirken" (A. Brunner SJ).
Die eigentliche Ontologie ist nicht so unheimlich, wie sie trotz ihrer landläufigen Verunstaltung aussieht. Die letzte Frage aller Weltreligionen und Philosophie dreht sich um die Vielheit, Unterschiedenheit und Einheit der Dinge. Sind beispielsweise Gott und Welt zwei oder eines? Und wenn sie beides sind, wie ist das möglich und zu verstehen?
Aussagefähig sind wir zunächst über uns selbst. Im Wechsel des Werdens sind wir nicht, und sind wir. Wir sind, aber im Vergleich zu Dem, Der je schon Ist (Gott), sind wir nicht. Obwohl aus dem Nichts, sind wir nicht nichts. Unser Nichts wird nämlich etwas, es ist also potentiell. Es vermag jedoch nicht aus sich selbst etwas zu werden oder zu sein, sonder nur durch ein anderes, schliesslich nur durch Den, Der immer schon Ist. Daraus ergibt sich die nicht nur qualitative sondern seinsmässige Unterschiedenheit und ebenso notwendige Einheit der Seienden, die Transzendenz des Aktes und seine dem Potentiellen notwendigen Immanenz. Das Potentielle ist das Nicht-Seiende im Vergleich zum Aktuellen, zum Sein, und deshalb aber auch das je notwendig angeglichen Rückbezogene auf den Akt, sonst wäre es überhaupt nicht. Abgesehen vom Werden in der Zeit, sind die Dinge auch im Raum potentiell aufeinander angelegt.
Wenn Griechen und Scholastik einen Dualismus daraus gemacht haben, dann ist das eine Missdeutung der wahren Wirklichkeit und des sie beschreibenden Begriffspaares von Akt und Potenz. Selbst das, was Platon und Aristoteles aus ihrer grossen Entdeckung des Seins und relativen Nicht-Seins (Me On, Dynamis) bereits gemacht haben, ist eine Frage für sich und was diese grösste Entdeckung an sich nach ihrer phänomenologisch ontologischen Analyse alles von sich hergibt, ist wiederum eine Frage für sich. Das Begriffspaar Akt und Potenz enthält unter anderem auch, wenigstens analogerweise, eine Entsprechung zu den Symbolpaaren des Ostens. Die Akt-Potenz-Polarität ist ähnlich wie jene von Geist und Stoff, von Mann und Frau usw. nicht nur rationell begrifflich, sondern auch intuitiv symbolisch zu verstehen. Begriff und Symbol müssen sich nicht widersprechen, denn beide können im Mythischen ihre Wurzel haben. Die akt-potentielle Bezogenheit beispielsweise, von Geist und Stoff, Mann und Frau usw. ist wechselseitig aufzufassen, denn Aktuelles und Potentielles sind ja keine Hypostasen, sondern Komponenten oder Aspekte der Wirklichkeit. Man kann also beispielsweise nicht sagen: der Mann oder der menschliche Geist ist der Akt, und die Frau oder die physikalische Materie ist die Potenz, vielmehr hat jedes von beiden bald aktuelle (bestimmungsmächtige) und bald potentielle (bestimmungsbedürftige) Bedeutung, oder besser: jedes ist gleichzeitig in Bezug auf das andere aktuell und potentiell. Aktuelles und Potentielles (relatives Sein und relatives Nicht-Sein) sind nach ihrer ontologischen Analyse (also nicht durch die westliche Alltagsbrille gesehen) nicht dualistisch, sondern als Zweieinheit zu verstehen. Ebenso transzendent, komplementär und interdependent wie Yang und Yin sind auch Akt und Potenz, so dass sie (vom Kreatürlichen gereinigt) analog auch die innergöttlichen Relationen (Vater-Sohn-Geist) zu beschreiben vermögen. Das eigentliche ontologische Verständnis von Akt und Potenz scheint dem westlichen Menschen in der Regel zu entgehen, sonst würde er danach keine dualistische Auftrennung von Mann und Frau oder die Hypostatisierung zweier Dinge wie Geist und Stoff sehen, von denen das eine das andere degradiert, sondern ein korrelatives Begriffs- oder Symbolpaar einer und derselben geschaffenen menschlichen oder unerschaffenen göttlichen Wesenheit. Die Scholastik hat leider, besonders nach Suarez und Descartes, die zweieinige Realität aufgespalten und damit das ganze Spaltungs-Denken und -Irresein des Westens unterstützt und damit freilich auch die Absetzung und kulturelle Abspaltung gegenüber dem Osten bewerkstelligt. Zu sorgen ist nun, dass teilhardsches Denken, aus Reaktion, vom Dualistischen nicht ins andere Extrem des Einerlei fällt, sondern im Advaita, in der Zweieinheit, d.h. in der in sich unterschiedenen aber nicht getrennten Einheit bleibt.
Das ist der Schlüssel zur Lösung jener tiefsten Problematik, die sich um die Unterschiedenheit und Einheit der Dinge, um die Spannung und Integrierung der Gegensätze dreht, wie sie analog immer wieder verschieden vorliegt zwischen Gott und Welt, Individuum und Gesellschaft, Geist und Stoff, Kirche und Staat, Glaube und Wissen, Natur und Gnade, Verstand und Willen, Liebe und Recht usw. Dabei geniesst unter den geschaffenen Dingen bzw. für das andere, das eine bald aktuelle, bald potentielle Bedeutung, so dass die Einheit aus dem gegenseitigen aufeinander Angewiesensein hervorgeht. Nur der immer schon Seiende, der Unerschaffene kann unbedingte, reine Aktualität sein, sonst wäre überhaupt nie etwas geworden. Nach dieser ontologischen Sicht bewegt sich das Dasein nicht mehr zwischen extremer Aufspaltung und Vermischung der Gegensätze, sondern im Vollwert und Reichtum der Mitte ihrer organischen Verbindung und Synthese. Diese ontologische Seinsstruktur wird auf Grund ihres gemeinsamen Urhebers von der Offenbarung nicht aufgehoben, sondern bestätigt.
Die Krise der Welt besteht im Verlust der ganzheitlichen Mitte, weil Der nicht mehr die Mitte unseres persönlichen und gesellschaftlichen Lebens bildet, in dem alles im Himmel und auf Erden, als in dem Haupte, zusammengefasst wird (Eph 1, 10). Die Zusammenfassung alles Natürlichen und Uebernatürlichen wird uns aus der Definition des Konzils von Chalzedon (451) verständlich, in der es heisst, dass Christus in den zwei Naturen, der göttlichen und menschlichen, "unvermischt und ungetrennt" bestehe. Dieser, begrifflich nach der aristotelisch akt-potentiellen Seinseinheit ausgedrückte Lehrentscheid, ist eine ganzheitliche Würdigung aller Teile.
Wie in Christus die beiden Naturen, so darf man auch die Dinge oder deren konstitutiven und kompementären Teile weder monophysitisch vermischen, noch nestorianisch voneinander trennen und absondern. Beide extremen Haltungen wurden, nach dem Verlust der scholastischen Synthese, für das Leben der neuzeitlichen Menschheit verhängnisvoll, ob man wie im Osten z.B. Natur und Uebernatur, Stoff und Geist, Staat und Kirche monophysitisch vermengt oder wie im Westen nestorianisch aufspaltet und trennt. Weil man den Gottmenschen verlor, musste die nach ihm gestaltete Zweieinheit der mittelalterlichen Kultur auseinanderbrechen. Die Philosophie löste sich von der Theologie, dass Wissen vom Glauben, der Staat von der Kirche, das Leben von der Religion. Dieser Zerfall setzt sich fort in Ehescheidung, Klassenkampf, Spezialistentum usw. Es ist bezeichnend, dass das neueste Atomzeitalter mit der Kernspaltung dieses Nestorianische Prinzip der Aufspaltung bis in die Tiefen der Materie hineingetragen hat.
Vom Geist der Aufspaltung und Vermischung blieb auch die westliche Kirche nicht unberührt. Neben dem entschiedenen Entweder-Oder dem Guten und Bösen gegenüber, muss innerhalb der Möglichkeit des Guten das Sowohl-Alsauch seinen Platz finden. Einseitige Verabsolutierungen hierin richten sich nicht nur gegen das Wohl des Ganzen, sondern auch gegen die christliche Liebe und Freiheit. Die Liebe eint, indem sie unterscheidet. Sie vermeidet dadurch sowohl Vermischungs-, als auch Aufspaltungserscheinungen und findet die Mitte zwischen Weltflucht und Weltverfallenheit. Die Krise unserer Frömmigkeit besteht in unserer Aufgespaltenheit in das christlich-religiöse und das profan-weltliche Tun. Könnten sich die Familien nicht nach dem Vorbild des Herrn zum natürlichen Mahl, das in Gebet und Eucharistiefeier seinen Abschluss fände, versammeln? Das Bewusstsein, dass die Familie Kirche, die Liebe zwischen Mann und Frau Sakrament, dass die Eltern zur religiösen Erziehung der Kinder berufen sind, würde dadurch bestärkt.
Natürlich erforderte eine solche, neben dem kollektiven Gottesdienst in der Kirche gefeierte werktägliche Heimliturgie in Familiengruppen mehr Priester. Könnten nicht auch verheiratete Priester Mittelpunkt solcher Familienkultur werden? Aus dem bestehenden Priestermangel scheint hervorzugehen, dass das Charisma der Ehelosigkeit sich nicht deckt mit der Berufung zum Priestertum. Das an sich Bessere ist nicht für jeden und in jedem Fall das Besssere. Wäre anstatt des juristisch zwar einfacheren und praktischeren Entweder-Oder nicht das reichhaltigere, der göttlichen Liebe besser entsprechende Sowohl-Alsauch am Platz? Wie ganz anders wären dann Kirche und Priester im Leben präsent! Wie viele von uns haben das lebendige Bedürfnis nach der nicht künstlich herausgeschälten, sondern im Alltag vollzogenen, konkreten Agape, nach der brüderlichen Lebens- und Tischgemeinschaft auch mit den Armen? Hier liegt nicht nur der Prüfstein christlicher Frömmigkeit, sondern auch der Grundstein zur Lösung der sozialen Frage und des weltoffenen und durchdringenden Christentums.
Das Kirchenrecht wäre dahingehend zu prüfen, wie weit es vom zeitgenössischen, rationalistischen Rechtspositivismus beeinflusst eine Lösung des Verstandesmässigen aus dem Lebensganzen und eine Verselbstständigung gegenüber dem Glauben und der Liebe darstellt. Im göttlichen Bereich ist das Wort, nach dem heiligen Thomas, nicht irgendein beliebiges, rein verstandesmässiges Wort, sondern ein solches, das die Liebe des Heiligen Geistes haucht (S.Th. I, q. 43, a. 5 ad 2). Das Vertrauen auf das Wirken des Heiligen Geistes in der Freiheit der Kinder Gottes sollte der menschlichen Sicherungsangst durch Gesetze mindestens die Waage halten. Der allzu stark europäische Charakter unseres Christentums ist ein Hindernis für die umfassende Christianisierung der Natur- und Kulturvölker. Der äusseren Ausdrucksweise der Kirche haften westliche Formen an, wo wir doch das natürlich Christliche aus den grossen Weltkulturen ebenso intensiv für das Christentum nützen sollten, wie es die Kirchenväter mit dem griechisch-römischen Denken für uns gemacht haben. Wichtiger als die Kongregation für die Uniformierung der Riten wäre je eine Kongregation für die Weltkulturen, als ausstrahlendes Studienzentrum einheimischer Werte.
Mehr als auf Rationalisierung sollte die westliche Theologie auf Wahrung des Mysteriums und kerygamtische Verkündigung bedacht sein. Gott und sein Wirken bleiben für uns unvergleichlich mehr unerkennbar als erkennbar. Unsere Potentialität ist der reinen Aktualität Gottes gegenüber, selbst im Jenseits, mehr nicht-Sein als Sein. In diesem Halbdunkel oder Schleierhaften, wie es Newman nennt, bleibt das Mysterium des Unter- und Ueberbewussten vollkommen. Potentialität schliesst mehr Irr- oder besser Transrationalität als Rationalität in sich. Nur ein halbierter Aristoteles wurde der westlichen Theologie zu Gefahr. Diese vermag im Denken der Ostkirche oder sogar in der indischen Mystik ihre Korrektur zu finden.
In der Selbstsicherheit aller Besitzenden blicken wir kritisch auf die monistische Uebertreibung der indischen Denker hinab, und merken dabei nicht, dass wir einer anderen Uebertreibung zum Opfer gefallen sind: aus dem was an sich nur eine zweieinige Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf sein sollte, ist vielfach in der lateinischen Kirche praktisch ein Dualismus von Gott und Welt, Liebe und Recht, Frömmigkeit und christlicher Kultur geworden. Die westliche Kirche vom inneren bis zum äusseren Kirchenbau repräsentiert noch viel anderes, als die christliche Liebe, als die via unitiva zur Vereinigung mit Gott.
Die indische Mystik kennt eine gewisse Unterscheidung zwischen Gott und Menschen, aber sie ist nach ihr begrifflich nicht ausdrückbar. "Advaita" bedeutet "nicht dualistisch", ist also in seinem negativen Ausdruck nicht mit monistisch gleichzusetzen. Im Erlebnis des "Selbst" (Gottes) verliert das Ich sein Reflexionsvermögen. Vom Anblick bleibt nichts mehr übrig als der Angeblickte. Der Weise unterscheidet vom Lichte geblendet nichts mehr, er denkt auch nicht sein persönliches Fünklein im Feuermeer zu retten.
Erinnert das nicht an den Ausspruch des heiligen Antonius: "Solange man das Bewusstsein seiner selbst hat, weiss man nicht, was beten ist"? Auch der christliche Mystiker vermag Gott und sich so wenig zu unterscheiden als man am glühenden Eisen das Feuer vom Eisen zu unterscheiden vermag. Jesus und nach Ihm in gewissem Sinne auch wir, stehen dem Vater gegenüber und sind zugleich eins mit Ihm. Christsein heisst, entsprechend den beiden Naturen in Christus weder zwei noch eins, sondern beides: Zweieinheit. Diese vermag so wenig numerisch als die Potentialität rein rational ausgedrückt zu werden vermag. Nur Christus, der im Schosse des Vaters lebt, weiss um dieses letzte Geheimnis des Seins. Die Gabe Gottes ist deshalb nicht nur eine intellektuelle, blasse Reproduktion Seiner Selbst, sondern auch Anteil an Seinem Leben. Natürlich ist der Mensch keine Emanation Gottes, und doch wurzelt der Erlöste, aber nur aus Gnade, in der Einheit des göttlichen Seins. Zur heiligen Katharina von Siena sagte der Herr: "Ich bin Derjenige, der Ist, Du bist diejenige, die nicht ist". "In Gott leuchten weder Sonne, Mond, noch Sterne," sagt der indische Weise, "Er leuchtet und alles leuchtet nach Ihm". Wir sind also in Ihm, und doch bleibt Gott apophatisch, unaussprechlich. Gott offenbart sich zwar, und bleibt uns doch verborgen, weil wir nur Akt in der Potenz sind. Der Pseudo-Dionysius schreibt: "In der Menschheit Christi offenbart sich der Ueberwesentliche in der menschlichen Wesenheit, ohne aufzuhören, in dieser Offenbarung sogar verborgen zu bleiben. Die Aussagen über die heilige Menschheit Jesu haben alle Auszeichnungen und den Wert der ausdrücklichsten Verneinungen" (Dionysius, Briefe 3 und 4). Bilder und Begriffe sind nur Zeichen und weisen in ihrer Potentialität über sich hinaus auf das eigentliche Sein.
Von diesem analogen und vom Menschen aus betrachtet transnoetischen Charakter des Seins, vermag man die von Darms zitierte Bemerkung Hans Küngs, dass "jede menschliche Wahrheitsaussage als menschlichbegrenzte an Irrtum grenzt", richtig zu verstehen. Darms qualifizierte diese zwar mit Kardinal Journet als dogmatischen Relativismus. Der scholastische Begriff der Potentialität verweist uns jedoch in der via negationis (Weg der Verneinung) auf das unvergleichlich grössere Nicht-wissen um die göttlichen Dinge. Dieser Aristotelismus und Thomismus hat im Grunde mit nichts weniger zu tun als mit einseitigem Latinismus oder Romanismus, weil er diese sogar aufhebt. Die Ontologie nach Akt und Potenz ist so universal, dass sie selbst in der taoistischen Integration von Yang und Yin in gewissem Sinne ihre chinesische Entsprechung findet.
"Die Ordnung der Glieder des Alls zueinander besteht kraft der Ordnung des ganzen Alls auf Gott hin." Weil Gott absolut gut ist, kann das Böse nur relativ sein, indem die Kreatur, dem Nichts nachgebend, nicht soviel ist als sie sein sollte: "Zum Nichts zu streben, ist nicht wesenseigene Bewegung der Kreatur, diese Bewegung zieht vielmehr ständig auf das Gute, und das Streben ins Nichts ist nur ihr Versagen." - "Weil der freie Wille aus dem Nichts stammt, darum ist es ihm eigen, nicht von Natur im Guten beständig zu sein." - "Kein Wesen wird böse genannt, sofern es seiend ist, sondern sofern es eines Seins verlustig ist." - "Alles, was im Tun der Sünde an Sein und Wirken ist, führt sich zurück auf Gott als die erste Ursache, was aber darin an Missförmigkeit ist, das geht zurück auf den freien Willen als seine Ursache." - "Wenn das Böse gänzlich von der Wirklichkeit ausgeschlossen würde, so bedeutet das, dass auch viel Gutes aufgehoben würde. Es liegt also nicht in der göttlichen Vorsehung, das Böse völlig von der Wirklichkeit auszuschliessen, vielmehr das Böse, das hervortritt, auf ein Gutes hinzuordnen."
Niemand hat grösser von der Bedeutung des menschlichen Geistes und seiner Erkenntnis gesprochen als Thomas: "Im All ist einzig die geistbegabte Natur um ihrer selbst willen gemeint. Das Wissen kann in uns nicht gestillt werden, bis dass wir die erste Ursache erkennen, und das nicht auf irgendwelche Weise, sondern in ihrer Wesenheit. Die erste Ursache aber ist Gott." - "Der menschlichen Seele Ziel und äusserste Vollendung ist: Erkennend und liebend die ganze Ordnung der geschaffenen Dinge zu durchschreiten und vorzudringen zum ersten Urgrund, welcher Gott ist." - "Gott vermögen wir in diesem Leben nicht vollkommen zu erkennen, was er nicht sei." - "Erkenntnis ist, sofern das Erkannte im Erkennenden ist. Liebe aber ist, sofern der Liebende mit der dem Geliebten sich vereint. Die höheren dinge dagegen sind auf vornehmere Weise in den höheren als in sich selbst. Darum ist es mehr wert, die niederen Dinge zu erkennen, als sie zu lieben, die höheren Dinge aber, und vor allem Gott, zu lieben ist mehr wert, als sie zu erkennen."
Wie im Schlussstein das Gewölbe, so ist nach Thomas unser Leben im letzten Ziel verankert:
"Des menschlichen Lebens letztes Ziel ist: Glückseligkeit." - "Gott allein kommt, kraft seines Wesens, die vollkommene Glückseligkeit zu, weil Sein und Glückseligsein für ihn dasselbe ist. Für jedwede Kreatur aber ist das Glückseligsein nicht ein von Natur gegebener Besitz, sondern das letzte Ziel." - "Der Wille begehrt mit Notwendigkeit das letzte Ziel, nicht aber begehrt er mit Notwendigkeit irgend etwas von dem, was zum Ziele führt." (Darum ist er frei gegenüber allen geschaffenen Gütern, notwendig aber will er Gott, sobald das höchste Gut ihm unverhüllt begegnet.) - "Wer sündigt, der wendet sich ab von dem, worin die Wesenheit des letzten Zieles in Wahrheit sich findet, nicht aber hört er auf, das letzte Ziel eigentlich zu meinen, das er fälschlich in anderen Dingen sucht." - "Die höchste Vollendung des menschlichen Lebens liegt darin, dass des Menschen Sinn ledig sei für Gott."
Aber auch die untergeordneten Güter spielen im thomistischen Wertorchester mit: "Wenn einer mit Wissen sich so sehr des Weines enthielte, dass er die Natur gar sehr beschwerte, so wäre er nicht frei von Schuld." - "Das Spiel ist notwendig zur Führung eines menschlichen Lebens."
Mut und Demut. - Demut heisst auf lateinisch humilitas. Darin findet sich das Stammwort humus. Und davon lassen sich, nach Langenscheidt, offensichtlich und sinnvollerweise humanitas (Menschheit) und homo (Mensch) ableiten. Der Humus ist die schicksalsvolle Ackererde, mit der Ernährung und Leben des Menschen stehen und fallen. Von des Menschen Leib heisst es in der Bibel, dass er von der Ackererde genommen sei (I.Mos.2,7). Zwischen humus und homo besteht eine Schicksalsgemeinschaft. Deshalb zieht die Gefährdung des ersten auch die des zweiten nach sich. Gefährdet wurde und ist der Humus durch den Frevel am Wald, dem Erzeuger des Humus. Der kulturelle Mensch steht und fällt mit dem Wald. Die Entwaldung Nordafrikas und des übrigen Mittelmeerbeckens durch die Römer - ihre Hochöfen, beispielsweise, wurden mit Holz genährt - liessen Hochkulturen zugrunde gehen. Entwaldung verursacht fatale Klimaveränderungen, extreme Trockenheit und die Verkarstung des Landes. Nach frevelhafter Entwaldung in den USA wurde der Humus von Gegenden in der Grösse der Schweiz durch Winderosion unwiederbringlich ins Meer getragen. In Oesterreich vermögen aufwendigste Lawinenverbauungen den gerodeten Wald noch lange nicht wettzumachen. Die Einbusse an Gesundheit und Leben durch Humusverlust lässt sich jedoch nicht vergleichen mit dem Schaden aus mangelnder humilitas oder Demut, der die Völker und Menschen von einer Katastrophe in die andere führt. Wo aber humus und humilitas nach ihrer gottgewollten Bestimmung zum Tragen kommen, sind sie von einer unerhört reichen Potentialität. Der Humus oder die Materie enthielt und enthält die Anlage zum unerhörten Aufstieg der Evolution aller anorganischen und organischen Formen und Organismen. Und die humilitas birgt, was noch unvergleichlich erstaunlicher ist, die Möglichkeit des consortiums divinae naturae, das heisst, der Anteilnahme am Leben Gottes selbst. Aber die von Gott in humus und humilitas geschaffenen Möglichkeiten und Anlagen - seien diese auch noch so reich - stellen im Hinblick auf das, was Gott daraus erzeugen kann, nur eine Potentialität dar, die niemals aus sich selbst zur Aktualität höherer Formen werden kann. Die Darwin-Ausstellung in der Zentralbibliothek Zürich stand unter der falschen Alternative "Entwicklung oder Schöpfung?" Die Natur manifestiert nach Art der Komplementarität beides: Schöpfung und Entwicklung. Die Vereinigung aller Baumaterialien - als analoges Beispiel - bildet erst die potentielle Kathedrale. Von dieser bis zur Aktuierung oder Verwirklichung des Strassburger Münsters bedarf es der geistigen Idee, der kreativen Formgebung eines Baumeisters, zu der die Materialien und die Umwelt allein von sich aus offensichtlich nicht genügen. Der Zuwachs des Neuen, nämlich die Kathedrale als verwirklichte Idee transzendiert oder übersteigt die Baumaterialien. Und was ist schon eine Kathedrale oder der ganze Chemiekonzern Ciba-Geigy im Vergleich zu einem Gänseblümchen, dessen Spontaneitäten des Lebendigen alle menschlichen Laboratoriumskünste unvergleichlich übersteigen.... Rein empirisch positivistische Entwicklungstheoretiker mögen als Pseudophilosophen versuchen, unter dem Wort Evolution die Baumaterialien (Potentialität) mit der schöpferischen Idee (kreative Aktualisierung) zu vermischen. Humus oder Materie ist und bleibt von sich aus dem höher Evolutierten gegenüber nur Potentialität, und die Aktuierung gewisser höherer Formen ist keine Ent- oder Auswicklung eines bereits Vorhandenen, sondern der kreative Hervorgang eines Neuen. Aehnlich wie man Potentielles und Ideelles einander gleichsetzt, indem man es miteinander vermischt, so marxistischer Dialektik beispielsweise die weltweite Propaganda, Moskau werde nie einen atomaren Erstschlag ausführen, mit der gleichzeitigen Einübung eben dieses geleugneten Erstschlages. Es muss uns um die endlich ernst zu nehmende Einsicht gehen, dass nach hegelscher Dialektik Ja und Nein, Sein und Nicht-Sein identifiziert werden. Die Bibel bestätigt das kreativ Neue, indem sie bemerkt, dass nach der Schöpfung der Potenz des Leibes aus dem Ackerboden jener erst durch des Schöpfers "Einhauchen von Lebensodem" zum "lebenden Wesen" wurde (I.Mos.2,7). Dieser kreative Charakter kennzeichnet bereits die Vorgänge und Verwandlungen in der Physik der Elementarteilchen. Werner Heisenberg schreibt, dass man mit der Unbestimmtheitsrelation wieder zum Potenzbegriff des Aristoteles zurückkehre. Schon dieser elementarste Bereich berechtigt die Philosophie des Seins, von einer creation continua, d.h. von einer kontinuierlichen Schöpfung zu sprechen. Der kreative, wunderbar anmutende Charakter der neu erstehenden Vegetation im Frühling kam in der alten Religion Kretas im ekstatischen Tanz der Priesterin zum Ausdruck. Der Panspermia-Ritus auf Kreta lässt bis aufs Wort erkennen, wie sehr der antike Mensch vom transzendierenden Charakter des keimenden Lebens ergriffen war.
Im Bereich der Lebendigen ist es die creatio, d.h. die Schöpfung der anima, welche je die Veranlagung oder Potentialität der Körperform zur höheren Lebensform aktuiert. Das Wort anima oder animus (Seele) hat auch die Bedeutung von Mut. Dieser kann als das von Gott geschenkte schöpferische Prinzip verstanden werden, dessen die Demut bedarf, um ihre reichen, ja höchsten Möglichkeiten zu aktuieren. Mut und Demut bedingen sich gegenseitig, wie es im paulinischen Wort zum Ausdruck kommt: "Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark." Mit anderen Worten: Erst wenn ich demütig mein Nicht-Sein eingestehe, verstelle ich gleichsam Gott nicht den Weg, am Nichtsein oder am Potentiellen die kreative Aktivierung zu vollziehen.
Mut und Demut stellen die notwendige Zweieinheit von erster und zweiter Wirklichkeit dar als Einheit in Unterscheidung, im Gegensatz zur Ueberheblichkeit monistischer Selbstvergötzung von Mensch, Natur und Welt. Die Anerkennung Gottes in und über der Welt begründet das Urvertrauen, wie es Jesus von den Glaubenden im Evangelium erwartet und erhört. Zur Illustrierung von Mut und Demut erwähne ich zum Schluss das neutestamentliche Beispiel der heidnischen Kanaanäerin. Obwohl Jesus der Bittstellerin erklärt: "Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt...", und "Es ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen", fällt sie vor dem Herrn nieder und erklärt: "Gewiss, Herr, auch die Hunde zehren ja (nur) von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen!" - "O Weib", entgegnet Jesus, "dein Glaube ist gross; dir geschehe, wie du willst" (Mat. 15,24-28). Die "Hunde", bisweilen Träger einer negativen Symbolik, kommen in der Bibel nicht gut weg. Wir werden ermahnt, nicht gleich "stummen Hunden" zu schweigen, wo ein Wort für Wahrheit und Gerechtigkeit fällig ist. In der Offenbarung des Johannes heisst es sogar kurzerhand: "Draussen sind die Gottlosen und Hunde." - Die Liebe dieser kanaanäischen Heidin versteht es indessen durch demütige Zärtlichkeit, sogar dem Hund - zur grossen Bewunderung des Herrn - eine positive Bedeutung zu geben. Etwas Aehnliches vollzieht der Herr selbst, als er auf einem Esel reitend in Jerusalem einzieht. Zur Belehrung des verstockten, hartherzigen Volkes Israel wird das sonst störrische Reittier des Herrn zum Vorbild demütiger Folgsamkeit. Die gleiche Thematik kommt auf dem Marienbild von Franziska zum Ausdruck. Die Grimmigkeit Satans wird durch die demütige und vertrauensvolle Gelassenheit der Mutter des Herrn besiegt. Und diese unerschütterliche Innerlichkeit der Madonna spiegelt sich im meditativ nach innen gekehrten Bild des Esels wider. Dieser Esel ist das Vorbild des Sich-nicht-aus-der-Ruhe-bringen-Lassens im Alltag. Denn er lässt sich auch nicht stören durch das Krabbeln des Käfers an seiner rechten Ohrspitze. Ja - selbst sein Maul spiegelt vergeistigte Sinnlichkeit wider im Kosten des innern Friedens des Herrn. Das übrige Werk von Franziska Fuchs verrät neben seiner zeichnerischen Feinheit eine Hintergründigkeit beängstigender, ja dämonischer Art. Der Grund dafür ist erschütternd: Der Onkel der Malerin, Fürst Josef Ernst Fugger von Glött, war der letzte Ueberlebende, der mit dem zum Martyrium verurteilten Pater Delp S.J. das Konzentrationslager teilte. Mit Franziska Fuchs' malerischem Werk verbindet sich also das Gedächtnis an eine Welt von Mut und Demut, vor dessen Heldentum wir uns verbeugen. Vor Gott siegt die Macht des Herzens, das Geheimnis der Liebe. Diese sind grösser als alle Erkenntnis und Gnosis.
Zu Balthasar Staehelins neuestem Buch "Urvertrauen und zweite Wirklichkeit" "Die Teile habt ihr in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band." (Goethe)
Besonders seit Descartes kennt die Naturwissenschaft die peinlich saubere Trennung von Leib und Seele, Geist und Stoff. Nach gleicher Geometerart betreibt eine gewisse Philosophie vornehmlich seit Kant die Aufspaltung zwischen Gott und Welt, Subjekt und Objekt in der Erkenntnislehre, zwischen Individuum (Ich & Du) und Gesellschaft, zwischen Klassen und Nationen. Man kennt heute den Klassenkampf und den Weltkrieg, schliesslich den Kalten Krieg von allen gegen jeden und eines jeden gegen alle.
Seit mehr als zweihundert Jahren gehört es zum guten Ton, dass man Natur- und Humanwissenschaft von der mit ihnen zusammenhängenden Gotteserkenntnis fernhält. Beide werden als sich widersprechend erklärt, obwohl manche gerade der grössten Forscher hier eine nützliche und beglückende Ergänzung und Harmonie sehen. Der Zürcher Physiker Walter Heitler spricht von "Wissenschaft-Religion-Schizophrenie" und "fachwissenschaftlicher Horizontverengung". Dafür versuchen immer wieder spezialisierte Forscher ihr Fachwissen als letzte Erklärung der Welt auszugeben. So wurden Psychologie und Soziologie zum Psychologismus und Soziologismus, die mit stillschweigender Selbstverständlichkeit letztinstanzlich über Religion und Sinnfrage des Lebens befinden. Eine sich methodisch von Metaphysik abgrenzende Natur- und Humanwissenschaft bleibt jedoch Teilwissenschaft mit beschränktem Aussagebereich. Die methodische Spezialisierung der Wissenschaften hat ihre grossen Vorteile. Die Krise der heutigen Universität scheint jedoch unter anderem auch darin zu bestehen, dass aus der berechtigten Spezialmethode eine unberechtigte Spezialisierung des denkenden Menschen geworden ist. In ihren Arbeitsweisen sollen Natur- und Humanwissenschaften, Philosophie und Theologie unvermischt bleiben. Eine andere Frage ist es aber, ob es nicht im Interesse der Weisheit, der Ganzheitlichkeit und Zusammenfassung des Wissens läge, religiöse Ansätze, wo immer sie sich finden, als solche zu sehen und anzuerkennen, wie es immer schon bedeutende Forscher getan und heute beispielsweise Heisenberg, von Weizsäcker, Heitler und Staehelin tun. Solche "Grenzüberschreitung" im interdisziplinären Miteinander ist nach Staehelin nicht nur nicht zu vermeiden, sondern notwendig, wenn wir dem drohenden Menschheitsuntergang entgehen wollen. Staehelin nimmt in seinen psychotherapeutischen Analysen das "Ewige, Metaphysische oder Göttliche" wahr. Er bezeichnet dieses als "Ftan" oder als "zweite Wirklichkeit", im Unterschied zur quantifizierten oder geometrisierten Aussenwelt, der in ihrem Bereich durchaus die Geltung nicht abzusprechen ist. In seiner "mystischen Kernerfahrung" erlebt das menschliche Individuum im Urgrund der Seele die Raum- und Zeitlosigkeit, den Durchbruch seiner individuellen Biographie ins Einssein mit allem im Kosmos bis zur grossen geheimnisvollen Einheit mit Gott. Das Individuum ist folglich nur eine relativ abgegrenzte Ganzheit, es ist zugleich eine rätselhafte Einheit mit allem. Existiert nun dieses Metaphysische in der Natur des Menschen, das heisst in Einheit mit dem Biologischen, dann ist eine Berücksichtigung auch in der Medizin, Psychiatrie, Pädagogik und in den Sozialwissenschaften von ausserordentlicher Bedeutung. Der Rationalismus eines Sigmund Freud, eines im übrigen so genialen Entdeckers, oder eines Karl Marx verhält sich zur Mystik wie ein Blinder zu einem Sehenden. Staehelin hat ein vielfältiges, auf die "zweite" oder absolute Wirklichkeit hinweisendes medizinisch-psychologisches Material zusammengestellt. Es verteilt sich auf Träume, parapsychologische Phänomene und Fähigkeiten (Psi-Erscheinungen), auf Wachextasen, grosse Erleuchtungen und Erlebnisse der unio mystica. Wir müssen uns in dieser Einführung auf wenige Beispiele beschränken.
Hier zunächst eine Traumerzählung. Der verheiratete N. traf seine Freundin vor fünfzehn Jahren, die im Wachleben vor fünf Jahren gestorben war. Er freute sich sehr, wie wiederzusehen, denn er wusste im Traum - nur im Traum -, dass seine Liebe zu ihr nie vergangen war und nie vergangen sein wird. Es schien ihm, als hätte er hinter die nur scheinbare Trennung von Leben und Gestorbensein gesehen. Die Frage, ob sie oder er lebe oder schon gestorben sei, war unwichtig: beide waren aus jedem individuellen Zeitempfinden und aus jeder individuellen geschichtlichen oder räumlichen Begrenzung herausgenommen. Stimmungsmässig waren sie eins und zugleich alles. Es schien dem Träumer die Ewigkeit zu sein, in der sie so als Liebende jetzt und immer einig gingen. Auf ihren Weg fiel ein immer grösser und leuchtend-weisser werdendes Licht, das die beiden selbst wurden. Die Freundin sagte, dass sie nun weggehen, aber immer wiederkommen werde, denn Tot- oder Lebendsein wären nur Messungen in einem äusseren Scheinbaren. Das Anhören einer Vielzahl solcher und ähnlicher Träume war dem Autor eine Mithilfe zur Vorstellung einer "zweiten Wirklichkeit". Weder die materialistische Triebmechanik Freuds, noch die auf die Existentialphilosophie Heideggers zurückgehende Daseinsanalyse von Boss, können dieser über die Bedingtheit von Zeit und Raum in die Unsterblichkeit ausgeweiteten Liebe gerechnet werden. Der Biologe Portmann spricht vom zeitlosen Geheimnis des Lebens. Der Träumer erlebt sich im Ewigen ausserhalb der individuellen Zeitlichkeit und Begrenzung und ausserhalb der räumlichen Trennung und des individuellen Todes. Er erlebt sich nicht als Endlicher (Barth, Heidegger), nicht als Vereinzelter (Kierkegaard), nicht als Emanzipierter (Mitscherlich), nicht als Aussersichseiender (Sartre), nicht als Reflexapparat (Pawlow), nicht als Verängstigter vor einem grausamen Tod (Freud).(27) Hier scheint die rationalistische Aufklärung nicht recht zu haben: denn dieser Mensch, der "Jedermann" heissen könnte, erfährt sich auch als "Ewiger, Gemeinsamer, Einsseiender mit Allem, als demütig Mitseiender einer strahlenden Geborgenheit, einer grossen Ordnung und Freiheit. Freiheit in Demut und Disziplin ist ein biologisches Grundbedürfnis der Natur jedes Menschen. Das Grundgefühl dieses Mitseins am Unbedingten aber ist Liebe, die keine Zeitlichkeit, keine Räumlichkeit und keine Geschichtlichkeit kennt. (28) In diesem Traum ist der Dualismus Diesseits/Jenseits, Vergangenheit/Zukunft, Subjekt/Objekt aufgehoben. In einem Traum sieht der Autor keinen wissenschaftlichen Beweis, sondern einen Hinweis für die Existenz der zweiten Wirklichkeit, die mit der ersten Wirklichkeit so sehr eine untrennbare Einheit bildet, dass wir in der heutigen Wissenschaft und Kunst, im individuellen und öffentlichen-politischen Alltag, im Profanen auch das Sakrale sehen sollten. Der Mensch steht im Vergänglichen und zugleich im Unvergänglichen. Ist dieser Satz auch nur irgendwie zutreffend, dann ist jedes nur materialistische, positivistische und rationalistische Menschenverständnis unrichtig, und wir müssen nach einem adäquateren Menschenbild suchen, als es eine atheistische Aufklärung und sogar ein Gewohnheitschristentum bisher entwickelt haben.(28,29) Nach einem anderen Beispiel erlebte sich der Träumer auf dem Sterbebett. Seine liebsten Angehörigen umstanden das Lager. Wegen seines Sterbens herrrschte eine Stimmung von Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Alle empfanden die unausweichliche Vergänglichkeit, Endlichkeit, Getrenntheit (und darum Einsamkeit) von sich und allem überhaupt. Der Sterbende selbst empfand sich als Einzelner, war aber auch diese Umstehenden geworden, mit dem Unterschied, dass er ihre Hoffnungslosigkeit, Getrenntheit, Endlichkeit und Ausweglosigkeit nicht mitmachen musste - obwohl er diese, ihre Stimmung auch mit war. Vielmehr war seine überindividuelle Stimmung ein Getröstet-, Getragen-, Geborgensein, unabhängig von einem Geschehen aus dieser Welt der Endlichkeit und Dualität. Er wusste nun, dass sein Tod eingetreten war. Seine Stimmung und Bewusstheit blieb zwar auch Individualität, vor allem aber auch Grenzenlosigkeit, Licht, Ordnung, Güte, Liebe und Urvertrauen. Alles war für immer gut. (147). Nach der empirischen Berufserfahrung unseres Psychotherapeuten ist diese Stimmung der zweiten Wirklichkeit keine psychopathologische Krankheit oder Illusion, sondern eine normale Tatsache. Ihre Misskennung durch Freud und die heutigen, offiziellen Wissenschaften erscheinen ihm als eine fundamentale und folgenschwere Fehlbeobachtung. (49)
Im weiteren kommen nun auch die parapsychologischen Erscheinungen, wie Telepathie, Hellsehen und Psychokinese zur Sprache, die den bisherigen Beziehungsrahmen unserer wissenschaftlichen Weltauslegung sprengen. Staehelin beruft sich auf H. Bender, der in seinem exakt wissenschaftlichen, hervorragend dokumentierten Werk den statistisch und empirisch überzeugenden Nachweis erbringt, dass es entgegen aller kritischen Einwände aus den Reihen der herkömmlichen, naturwissenschaftlich kausal und rationalistisch Denkenden parapsychologische Erscheinungen gibt. Heute sind sich darin alle diesbezüglichen Universitätsinstitute einig. Die Russen sind sogar in dieser jüngsten Wissenschaft am weitesten vorangeschritten. Naumow hat den Eindruck, dass das Aussersinnliche in uns an allem, was wir tun, beteiligt ist. Nach ihm sollte die Parapsychologie alle Disziplinen des Wissens umfassen. (110) Es geht in der Telepathie beispielsweise um Gegebenheiten, bei denen Menschen Ereignisse wahrnehmen, die ausserhalb der Reichweite ihrer Sinnesorgane liegen und von denen sie auf normale Weise keine Kenntnis haben können. Die Veranlagung und Entwicklung dieser und anderer Psi-Fähigkeiten im Menschen ist vom Mit-Ewig-Sein des Menschen aus gesehen eine Selbstverständlichkeit. Man kann sich leicht vorstellen, dass diese bis jetzt noch eher seltenen Fähigkeiten durch einen langjährigen Lernvorgang zum Allgemeinbesitz der Menschen werden könnte. Diese alltäglichen Psi-Kräfte haben wohl mit der zweiten Wirklichkeit etwas zu tun, wenn auch nur etwas Nebensächliches. Es fehlt ihnen das Ethische und Sakrale. Denn sie gehen nicht mit der Tiefe des religiösen Gefühls, des Geheiligt-, Getröstet- und Geborgenseins in der Gottesnähe einher. Deshalb nimmt Staehelin die Psi-Phänomene nur als illustrative Hinweise. Gleiches hält der Autor auch vom möglichen Wunderwirken eines allmächtigen Absoluten; das prinzipiell Wichtige liegt tiefer in der subjektiven inneren Erfahrung, von der, nach dem Autor, auch die tiefere Erforschung der Psi-Phänomene abhängt. Selbst "Naturwissenschaft ohne meditatives Stillwerden des einzelnen Forschers" wird - extrem ausgedrückt - bald nur noch Sekundärwissenschaft sein... Die Ordnung der körperlichen Welt, die wir in den vertrauten Anschauungsformen von Raum und Zeit erfahren, spiegelt offenbar nur einen Teilaspekt einer übergreifenden Wirklichkeit. Die Psyche des Menschen scheint die Schaltstelle zwischen diesen beiden Aspekten der Wirklichkeit zu sein" (111, 112)
Staehelin meint, es wären Grund und Stoff genug vorhanden, um eine neue Disziplin an unseren Universitäten zu gründen: Lehrstühle für die Erforschung der Tiefe und des Wesens der menschlichen Seele "mit Hilfe der Stille und subjektiven, inneren Erfahrung; es wäre das wahrscheinlich die wichtigste naturwissen- schaftliche Forschung überhaupt". Es ergäben sich daraus Folgen für jede Disziplin. "Es wäre an der Zeit, dass unsere Universitäten und Schulen auch mit den entsprechenden Mitteln für diese prinzipiell vielleicht bedeutungsvollste Aufgabe für den Menschen und unsere Jugend von morgen ausgerüstet würden". (136) Dabei käme nicht dem universitären Lehrstuhl, sondern der Selektion und dem ebensogut zu besoldenden Beruf des Primarschullehrers, als dem wichtigsten Beruf zugunsten der Menschheit von morgen, die grösste Bedeutung zu. (140) Die Uebung bestände nicht in neuen Aktivitäten, sondern im Stillesein, in der inneren Schau und Erfahrung der Meditation. (136) Weil wir alle im gleichen Boot sitzen, ist nicht der sogenannte Fortschritt oder die sogenannte Evolution - die leider ohne "zweite Wirklichkeit" verstanden werde-, sondern die überkonfessionelle, übernationale Suche jedes einzelnen Menschen nach dem Heiligen in seinem Alltag, das heute primär Wichtige überhaupt. (145) Weder die einseitig mystische Weltflucht, noch der dualistische, spezialisierend auftrennende Verstand mit seiner ausschliesslichen Sachlichkeit sind Krönung und Rettung der Menschheit, sondern irgendwie beides, die zwei als nicht Eins und doch auf das Eins bezogene. Um den heute im abgespalteten Denken und Handeln gefährdeten Menschen zu retten, muss nach neuen Therapieformen gesucht werden, die dem aus seinem tiefen Sinn entglittenen Menschen behilflich wären, in seine angeborene religiös ethische Potenz zurück zu finden. (51, 52) Die heutige Not und die Aussicht, dass es in fünfzig Jahren ökologisch mit uns aus sein könnte, treibt Menschen aus allen Lagern zu Rettungsversuchen: atheistische Humanisten, Rationalisten, Positivisten, Materialisten und Theisten mit einem nur ausserhalb des Menschen und der Welt angesiedelten Gott. Viele meinen, die Wirklichkeit des Menschen sei nur eine durch den Tod bestimmte endliche. Postuliert wird der "mündige Mensch", der durch seinen Verstand die Welt retten soll. Die göttlichen Offenbarungen aus einem kaum mehr geglaubten Jenseits sind aufgegeben, wenigstens auf die Hintertreppe verwiesen. Oder wenn man überhaupt an Gott glaubt, dann an den von Mensch und Welt abgespaltenen. Diese Ideologien entsprechen nicht der Wirklichkeit, wie sie Staehelin im Abhören von Menschen während mehr als zwanzig Jahren in oft über Hunderten von Stunden wahrnehmen konnte. Wenn es sich erweist, dass das der heutige Gefährdung zugrunde liegende wissenschaftliche Menschenverständnis der nun zu Ende gehenden Aufklärungszeit nur zum Untergang hinführt, muss daran etwas falsch sein. Das wahre Verständnis kommt weder von links noch von rechts, auch nicht aus der Mitte, sondern aus der allen gemeinsamer Tiefe (149 bis 154). Um den Anspruch aus der Tiefe zu hören, benötigen wir der innern und äussern Stille und der Gedanken-Leere. "Misstrauen und Gehässigkeit rücken ein Erfahrenkönnen der Innerlichkeit in die Ferne, während Demut und das Aufgeben des Eigenwillens das Offenwerden für Gnade und Geschenk" bewirken (82, 83, 117). Um auch dem kritischen Leser gerecht zu werden, verzeichnen wir bei Staehelin die Tendenz zur Relativierung von gut und bös im fragwürdigen Sinn. Ferner verweist der Autor die jüdisch-christliche Zeitepoche, trotz ihrer zahlreichen Mystiker, etwas einseitig summarisch in den Schatten. Allerdings stellt sich leider das, was sich christlich nennt, nicht selten selbst in den Schatten. Die bisweilen unadäquate Unterscheidung von Gott und Welt nimmt man vom Nicht-Theologen verständnisvoll in Kauf. Balthasar Staehelin, ein anderer Teilhard de Chardin! Nur dass er das Aergernis des "kosmischen Christus", als Keil, noch unmittelbarer, noch präziser ins Fleisch der angesehensten Institutionen der Wissenschaften, der Philosopie, der Theologie und der Kirche treibt. Es ist soviel bequemer, nur in der "ersten" Wirklichkeit, das heisst im zeiträumlichen Raster der philosophisch-theologischen und politischen "Geometrie" zu leben (oder zu verwesen). Schliesslich ist das liebe Geld auch diskret-konkret zählbar. Und Geld, Besitz, machtvolle Prosperität gehören doch auch zum katholischen und calvinistischen "Urvertrauen"! Aber es kommt nur darauf an, ob das Sein vom Haben oder das Haben vom Sein abhängen soll.
Anmerkungen:
Zu Balthasar Staehelins Buch "Der psychosomatische Christus"
Es ist bezeichnend für das künstliche Ignorieren des kreativen und göttlichen Phänomens in Naturwissenschaft und Anthropologie, dass unser Fortschritt, trotz einer gewissen Perfektion, vor dem drohenden Nichts steht. Offenbar sind wir bei all unserem angeblichen Fortschritt auf dem Holzweg. Dieser wurde zunächst von den irrigen Ideologien begangen. Man denke beispielsweise an Hegels "Philosopie des Geistes", in der sich der Mensch mit dem Absoluten, mit Gott identifiziert oder gleichsetzt. Infolge dieser Hybris kommt es in der Existenzphilosopie zum dialektisch antithetischen Umschlag. Der Mensch erfährt sich als ein "geworfener" und "ins Nichts gehaltener". Das kann jedoch vom Leben nicht als Ziel gemeint sein. Was der prometheisch gnostischen Anmassung nicht gelingt, das Absolut-Sein oder Gott-Sein wird dem Menschen als Geheimnis der Liebe durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus geschenkt: bei aller Unterscheidung die innigste Einheit mit dem Göttlichen.
Vom göttlichen Wort und Christi Geist ausgehend zeigt Balthasar Staehelin in seinem letzten Buch aus dem einseitigen, begrenzten Menschenverständnis den Weg der Wandlung zu einer positiven Veränderung von Wissenschaft, Kultur und Politik. Anstelle der "Selbstverwirklichung" sieht der Autor als Zukunftsziel der Menschheit "die Christusverwirklichung". Durch die "Unterscheidung der Geister", die auch das "diabolische Prinzip" nicht aus dem Auge verliert, wird ein spiritualistisches oder pneumatisches Menschen- und Weltverständnis, eine pneumato-psychosomatische Medizin angestrebt. Das östliche Menschenverständnis eines nur apersonalen Geistigen und Göttlichen (Tao, Atman, Brahman, Nirvana) wird hier durch die Tatsache, dass Gott sich persönlich und historisch, für alle ersichtlich und erkennbar, in Christus offenbart hat, überhöht. "Gott wohnt auf Erden im Menschen." Dem Verfasser ist die kausalmechanische Denkweise, die in der medizinischen Forschung und im ärztlichen praktischen Alltag so selbstverständlich ist, in ihrer Einseitigkeit und Ausschliesslichkeit fragwürdig geworden. Er zeigt, wie unser vorherrschendes naturwissenschaftliches Denken aus der Zeit der Aufklärung stammt. Diese hat ihre Wurzel im mittelalterlichen Nominalismus, der jeden tieferen Seinszusammenhang von bedingtem und unbedingt Göttlichem negiert. Er sieht die Dinge nur als abgetrennte, endlich vereinzelte. Patient und ärztliche Intuition bieten aber überdeutliche Hinweise auf das Transzendente. Mit der Rückbesinnung auf das durch die Analyse erkennbare Ziel des menschlichen Lebens schlägt Staehelin eine "Umkehr der Sicht" vor. Danach ist der Mensch als Gedanke Gottes als eine Abbildlichkeit des Trinitarischen in der Form eines zeit-, raum- und biographiegebundenen Einzelwesens zu verstehen. Weil wir Gott und die Kreatur nicht als zwei voneinander Getrennte betrachten dürfen, gehört das Göttliche auch zur biologischen Natur des Menschen. Das Ewige oder Göttliche ragt in unsere alltägliche Gegenwart. Davon zu sprechen, wissenschaftlich und öffentlich, erscheint dem Verfasser ein Gebot unserer Zeit zu sein. Das Sprechzimmer des Psychotherapeuten sei ein günstiger Ort für eine Einsicht in die biologisch-spirituelle Natur. Der praktische Wert mancher psycho- oder daseinsanalytischen Techniken ist ausser Zweifel. Diese entsprechen jedoch nicht genügend der vorgegebenen menschlichen Natur, weil sie die tiefsten Schichten des menschlichen Wesens ausser acht lassen. Das finale Menschen- und Weltverständnis, das allein dem tiefsten Wesen der Dinge gerecht wird, ist trinitarischer, christozentrischer Art. Wenn man bedenkt, dass Natur und Uebernatur nicht, wie es eine "wissenschaftliche" Unart bisher gerne darstellte, getrennt sind, sondern einander durchdringen, braucht man sich über die kühnen Aussagen des Verfassers nicht zu wundern. So wenig als Gott und Mensch sind auch Leib und Seele nicht zu trennen. Die Religiosität ist deshalb nach Staehelins Erfahrung "eine biologische Eigenschaft, eine Existenzial der menschlichen Natur und darum auch ein biologischer Trieb...." Seelische und geistige Gesundheit wächst medizin-psychologisch gesehen eigentlich nur auf dem Boden der persönlichen bewusst zugelassenen Religiosität und der je eigenen Glaubensfähigkeit an einen personalen Gott. Atheismus entspricht also nicht ausgereifter menschlicher Gesundheit und menschlicher Wesensspezifität.
Zur Begründung, dass die menschliche Natur nicht nur als endliche und kausale zu verstehen ist, sondern auch dem Ewigen und Unbedingten zugehört, bietet der Autor viele Beispiele. Eine schwer neurotische Frau leidet unter religiöser Verunsicherung, innerer Vertrauenslosigkeit, Sinnentleerung und Vereinsamung. Sie hatte folgenden Traum: Die Patientin steht in einem finsteren öden Tal vor einer tausend Meter hohen Felswand. Diese wird als unüberwindliche empfunden. Kein Pfad führt zum Gipfel. Nicht einmal Vorsprünge zum Klettern bietet die Wand an. Die Patientin weiss aber, dass es ihr Auftrag und Weg ist, gerade über diese Felswand hinaus, in das liebliche Tal dahinter zu kommen. Sie ist ohne Hoffnung, einsam und voller Angst, jeden Halt zu verlieren und abzustürzen. Plötzlich sieht sie ein riesiges, leuchtendes Christenkreuz über der Wand aufleuchten. Wenn sie das Fussende dieses Kreuzes fassen könnte, gelänge ihr mit dessen Hilfe die Ueberwindung der drohenden Felswand und die Ankunft in der schönen Gegend. Dann wäre sie auch körperlich und seelisch gesund. Sie streckt die Hand immer höher, um das Fussende des Kreuzes zu erreichen. Doch wie sehr sie sich auch abmüht, die Hand erreicht das Erlösung verheissende Kreuz nicht - noch nicht - denn noch fürchtet sie sich vor diesem Kreuz und der Verpflichtung zur Umkehr, die es auferlegt. Der Traum illustriert die zwei Daseinswirklichkeiten: die physikalisch-natürliche Welt und die göttliche oder zweite Wirklichkeit. Die Frau fühlt sich weggerissen vom Göttlichen und vom Urvertrauen. Die Patientin wird nur gesunden, wenn ihr durch die Therapie auch die zweite Wirklichkeit, das Göttliche, zugänglich gemacht werden kann. Der Autor trifft im beruflichen Umgang mit Menschen immer wieder auf echt mystische Erlebnisse. Eine gesunde, tatkräftige, der Welt zugewandte Frau, die sich sozial engagiert, gibt folgenden Bericht: Von Jugend an wusste ich, dass Gott geliebt sein will. Ich suchte gerne die Stille auf. Später sparte ich mir täglich eine Zeit fürs Gebet auf. Sehnsucht nach Gott. Sich ganz wahrhaben wollen. Sich ganz hingeben. Sich ergreifen lassen. Aeussere Wahrnehmungen treten zurück. Bereit zum Willen Gottes. Dem persönlichen Gott alles sagen. - Gewaltiges Licht. Unsägliche Einigung, die trägt. Anbetung, Preisung Gottes. Eigene Bedürftigkeit verschmilzt mit der Göttlichkeit, die eine unbeschreibliche allumfassende Seligkeit auslöst. Staehelin bemerkt dazu, dass das Einheitserlebnis mit Gott durch Christus erfolge, der durch seine Doppelnatur das Tor zum Geheimnis Gottes sei. Spezifisch sei das Moment der Ausstrahlung: "Der Mensch steht in der Welt als Gesandter Gottes, und dies mit Bewusstseinscharakter. Für diese Aufgabe sind Psyche und Soma des Menschen bestimmt und in der Grundstruktur entworfen und ausgestattet." Dies sollte heute auch von "der Hochschulmedizin und -psychologie in seiner ganzen fruchtbaren Tragweite endliche erkannt und genutzt werden." Auch Traumerfahrungen zeugen immer wieder von der zweiten aufs Unendliche auslaufenden Wirklichkeit des Menschen. Ein erfolgreicher Ingenieur und Forscher leidet unter Leere und Angst und hat das Gefühl von Isoliertheit. Er träumt von einer abgestorbenen Pflanze, deren Wurzeln nahrungs- und wasserlos in der Luft hängen, weil alle Erde weggenommen wurde. Ein Alarmruf gegen die Entfremdung vom tiefsten Bereich des Göttlichen. Eine unter schwerem Asthma leidende Physiotherapeutin träumt, dass sie in eine Irrenanstalt eingeliefert wird. Der Klinikpark verwandelt sich in einen Klostergarten. - Hier wird eine irdische Verstrickte auf die göttliche Wirklichkeit verwiesen. Diese Fälle zeigen, dass es innerhalb der biologisch- psychischen Natur als Heimat das Göttliche gibt. Die Gotttesebenbildlichkeit des Menschen, seine potentielle Christusnatur erscheinen als psychische und somatische Gegebenheit der menschlichen Natur. Paulus spricht vom Bemühen und vom Herausbilden des "zweiten Menschen" aus dem "ersten". Das heisst, Wandlungen durch zunehmenden Glauben an Christus und Bedürftigkeit nach ihm. Wenn über derartig wichtige zentral menschliche Tatbestände in der Medizinischen Wissenschaft weiterhin geschwiegen wird, dann meint der Autor, dass die grundsätzliche Unzulänglichkeit dieser Disziplinen kein Ende nimmt und dies zum Schaden der Kranken. Dem gegenüber vermöchte das Zusammengehen von Medizin, Psychologie und Theologie unter dem Leitbild Christi eine bedeutsame Förderung in der Erforschung somatischen, spirituellen und psychischen Leidens erwirken. In der Begegnung Mutter-Kind, Liebender-Geliebte, Arzt-Patient oder auch anderer Menschen, will die zweite Wirklichkeit, Gott, Christus erlösend aufleuchten. Gott schenkt uns durch seinen in der Menschheit gekreuzigten und auferstehenden Christus die unvergängliche Gewissheit, dass wir immer in ihm geboren und erlöst sind. Als Quintessenz seiner langjährigen wissenschaftlichen und praktischen psychotherapeutischen Arbeit erklärt der Verfasser Gott als anwesend in des Menschen Körper, Seele und Geist. Gott geht nicht nur Theologie und Kunst, sondern uns alle an, nicht zuletzt die Medizinischen Wissenschaften. Heute sehen wir Aerzte uns, schreibt Staehelin, "mit unserer Wissenschaft und unseren Behandlungsmethoden von allen Seiten heftiger Kritik ausgesetzt. Ich meine, eine Verbesserung von Medizin und Gesundheitspolitik, unseres ärztlichen Selbstverständnisses und der Begegnung von dieses neuen spiritualistischen und finalen Menschen-, Natur- und Weltbildes, und zwar innerhalb der Aerzteschaft wie in der medizinischen Forschung. Das Verstehensprinzip der Nur-Endlichkeit jedes Seienden, wie es für Neuzeit und Rationalismus kennzeichnend war, muss sich ausweiten in ein Verstehensprinzip der metaphysischen, religiösen Auch-Unendlichkeit von Mensch und Kosmos". Der Stein der Weisen, schreibt Staehelin, liegt im Innern jedes Menschen: die innere Liebesvereinigung als geistige Vermählung mit dem in die Welt gekommenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus.
Ein eigenes Kapitel widmet der Verfasser der eingehenden Schilderung seiner psychosomatischen Basistherapie. Diese vollzieht sich in täglicher Uebung in drei Stufen: 1. Die Absicht dieser Meditationsübungen verfolgt das "wesentliche Werden" durch Bewusstmachung des in uns wohnenden Christus und dreieinigen Gottes als erleuchtende und ausstrahlende Liebe. Die einleitende Betrachtung oder Lektüre geht gezielt auf innere Reinigung und Umkehr aus. Daraus vermag eine bedingungslose Glaubens- und Liebeshingabe an Christus und an den Dreieinigen zu erwachsen. 2. Wir haben auch einen Leib. Dieser will durch rhythmische Bewegung Anteil nehmen an der inneren Anbetung, sei es nun durch Waldlauf, Jogging, Rudern, Reiten, Schwimmen, Tanzen, Langlauf unter anderem. Das Ziel ist eine geistige und gesundheitlichen Umwandlung durch Methoden unserer Zeit. 3. Der letzte Teil besteht in einer, in welcher körperlichen Stellung auch immer, ruhenden Meditation. Der Uebende gibt sich der liebenden, dankenden Anbetung hin und öffnet sich dem Beschenktwerden durch den Liebesgeist Gottes. Einem 44 jährigen Ingenieur, Leiter eines grossen Familienunternehmens, waren Göttliches und Natürliches bis dahin sich gegenseitig ausschliessende Kategorien. Durch die psychosomatische Basistherapie erfuhr er eine Erweiterung seines engen, gebundenen Denkens. Nach einem Jahr Uebung bezeugte er: Ich bin innerlich reifer, vertrauensvoller und körperlich gesünder geworden und möchte diese Uebungen nie mehr missen; sie sind zum wichtigen, glücklich machenden Bestandteil meines Lebens geworden. Ich erlebe mich mit der Natur und der ganzen Welt und mit Gott einig und verbunden. Seitdem ich dieses Training mache, habe ich auch in meiner Gemeinde, Familie und im Geschäft den Menschen weiterhelfen können.
Naturwissenschaftliche und medizinische Fragen nach dem Menschen sollten nicht beim Einzelnen sondern beim Göttlichen beginnen, meint Staehelin. Das primär zu Erforschende ist das Trinitarische im Kleid dieses einzelnen. Die zeitgenössische Psychologie ist im allgemeinen für das religiöse Bedürfnis feinhöriger geworden. Man stellt den Hunger fest, gibt aber nichts zu essen. Mutig legt der Verfasser für die Wahrheit des Neuen Testamentes Zeugnis ab und baut diese kreativ in die naturwissenschaftliche und medizinische Welt ein. Er hebt den scheinbaren Widerspruch zwischen naturwissenschaftlich verstandenem kausalem Evolutionsgeschehen und dem theologisch finalen Verständnis der Schöpfung auf. Nach dem Autor sind der Mensch und der Kosmos von der Art des Schöpfers. Alle Natur ist in ihrem Innersten auch Christus¬Natur. Das hier entworfene spiritualistische Weltverständnis kann sich auf Paulus berufen, nach dem die ganze Schöpfung "in der Hoffnung lebt, weil auch sie die Herrlichkeit der Kinder Gottes erlangt" (Röm. 8,20-22) bis "Gott alles in allem ist" (I Kor. 15,28). Das kausalistisch versteinerte Denken in einer gewissen Naturwissenschaft erinnert an die stereotypen Komplexbahnen in der Neurose, nach denen alles zwangsläufig verläuft. Dem gegenüber scheut sich der Autor nicht, mit seinem unkonventionellen Buch einer gewissen Leserschaft zu missfallen. Er nimmt es in Kauf, als unwissenschaftlich, querköpfig, kindlich und emotional eingeschätzt zu werden. Das sind jedoch die unvermeidlichen Merkmale des kreativen Vor- und Durchstosses in die neuentdeckte Wirklichkeit. "Der psychosomatische Christus" ist das Buch eines Ergriffenen und Ergreifenden, in dem eine bewusstseins-transzendente Macht durchbricht, ein Geheimnisvolles, das in Beschlag nimmt, das einfach da ist und sich durchsetzt. Das altchinesische I Ging kennt eine ähnliche Urkraft, die sich durchsetzt und den Menschen umgestaltet. Seit der Neuzeit ist unsere Kultur durch das Spaltungsdenken gekennzeichnet (Descartes, Kant, Hegel unter anderen). Das wissenschaftliche Bewusstsein hat sich soweit von Gott entfernt, dass es der Einseitigkeit oder Dissoziation verfiel. Diese Progression oder Anpassung an eine gewisse Aussenwelt bedarf der Regression oder der Berücksichtigung der Innenwelt. Das auf eine gewisse kausalistische Wissenschaft eingeschränkte Bewusstsein muss wieder zum Fliessen gebracht werden, um die verhinderte menschliche Weiterentwicklung kreativ zu fördern. Mit seinem neuen Buch hat Staehelin im wiederentdeckten Christus ein lebendiges Symbol des vereinigten Gegensätzlichen gesetzt. Damit kommt mit dem Kausalistischen auch das energieumwandelnde finalistische Göttliche zum Zug und zur Erfüllung. Damit bietet der Verfasser eine Hilfe zur Ueberwindung der Neurose unserer Zeit, die weitgehend des Lebenssinnes ermangelt und der Verwurzelung im Göttlichen bedarf. Der konkrete lebendige Christus vermag uns aus der Verkettung mit einer mechanistischen Vergangenheit in eine freie kreative Zukunft zu führen. (Novalis-Verlag, Schaffhausen 1980.)
Newman, dessen geistige Struktur und Entwicklung hier zur Geltung kommen, war ein praktisch denkender Engländer. Den neuzeitlichen Spaltungserscheinungen, die heute gerne in verharmlosender und beschönigender Weise unter den Begriff des gesellschaftlichen Pluralismus gestellt werden, setzte er in seiner Integration das ganzheitliche Denken und Leben entgegen. Zum besseren Verständnis seiner religionsphilosophischen Prinzipien lassen wir sie uns zunächst anschaulich an der Glaubens- und sozialen Frage erläutern. Wenn wir so am Lebendigen eine Vorstellung des Grundsätzlichen gewonnen haben, sind wir um so besser in der Lage, eine gewisse, durch Newman vertretene, aber über ihm hinausweisende und in der besten christlichen Vergangenheit wurzelnde religiöse Philosophie zu beurteilen.
Zunächst ein Wort über Newmans existentielle Glaubensauffassung. In seinen Ueberlegungen zum Glauben und zum Leben aus dem Glauben, spielt das Wort "Realisierung" eine entscheidende Rolle, ja, es gehört zu seinen theologischen Zentralbegriffen. Dieses Wort meint die Ueberführung der bloss gewussten und geglaubten Wahrheit in die Existenz, in die Verwirklichung. Damit greift Newman nur auf das Evangelium selber zurück.
In der heutigen Welt glaubt man nur noch das, was man sieht. Unsere Zeitgenossen müssen also Christus in uns sehen, um an Ihn glauben zu können. Damit aber dieses Zeugnis bei unseren Zeitgenossen fruchtet, muss es von der Freude begleitet sein. Das Zeichen des Erfolgs ist die Freude, die wahre Freude, die in uns lebt, mitten in all unseren Schwierigkeiten. An einem Montagmorgen sagte ein Arbeiter beim Eintritt in die Fabrik zu einem Mitarbeiter: "Wie machst Du es bloss, lächeln zu können, selbst am Montagmorgen?" Und bei einer anderen Gelegenheit meinte er: "Hör mal, ich versteh das nicht, Du trinkst nicht, Du rauchst nicht, Du gehst nicht mit Frauen. Ja, wer bist Du denn eigentlich?" Die erste Aesserung zeigt, dass die Werke der christlichen Selbstverleugnung und der Nächstenliebe noch nicht genügen, um ein Zeugnis abzulegen. Ein freudestrahlender christlicher Ehemann legt mehr christliches Zeugnis ab, als ein saurer Ordensmann oder zölibatärer Rätebefolger. Damit all das zum Zeugnis für Christus werde, muss es mit Freude gemacht werden. Dann offenbart sich darin etwas Geheimnisvolles. Auch der Ungläubige fragt sich dann: Warum versagt sich der etwas, wo er es doch leicht haben könnte? Woher diese Freude in der Entsagung? Es handelt sich hier um Tatsachen. Um Tatsachen, die nicht nur den Verstand, sondern auch das Gemüt, den ganzen Menschen ansprechen und deshalb auch die Angesprochenen zum Handeln bewegen.
In dieser Hinsicht erfährt Newmans Theologie des Herzens und der Realisierung wie auch sein Bedürfnis nach komplementärer Ganzheit, nach Integration auch heute eine glänzende Bestätigung. Newman hat gelebt, was er geglaubt hat, er hat in seinem Glauben existiert und wurde deshalb zunächst in England und dann im Ausland zum Ausgangspunkt einer Konversionsbewegung.
Eine weitere ABC-Uebung, als einführende Veranschaulichung existentieller Integration bietet uns die soziale Frage. Die Arbeiter z.B. verstehen ganz gut, dass man Unterschiede in der Besoldung machen muss. Was sie aber heute noch nicht einsehen, ist das bestehende Missverhältnis zwischen ihren Löhnen und den grossen Gehältern. Ebenso oder noch mehr leidet der Arbeiter darunter, dass in vielen Fällen nicht an sein Verantwortungs- bewusstsein appelliert wird. Bei vielen Arbeitern mag die Haltung des Klassenkampfes nur die Folge des unerfüllten Wunsches nach Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern sein.
Nach der marxistischen Lehre vom dialektischen Materialismus wird jede wirkliche Zusammenarbeit zwischen den Arbeitern und ihren nichtkommunistischen Chefs als unmöglich erklärt. Folglich bleibt nur der Klassenkampf mit dem Ziel gewalttätiger Ueberwindung und Vernichtung der besitzenden Klasse. Um die marxistische Theorie vom Klassenkampf überwinden zu können, müsste durch Tatsachen bewiesen werden, dass eine Zusammenarbeit zwischen Arbeiter und Arbeitgeber möglich ist. Bis zu einem gewissen Grad sollten die Arbeiter auf eine wirkungsvolle Art an der Verantwortung des Unternehmens teilnehmen können. Man müsste schliesslich auch Gelegenheiten schaffen, durch die im Innern eines Unternehmens die Schranken, die die Arbeiter von den Angestellten und Direktoren trennen, durchbrochen würden. Solche Gelegenheiten zur brüderlichen Begegnung vermag allerdings nur die Liebe zu ersinnen. In der kirchlichen Gemeinschaft wurde dieses grundlegendste, soziale Problem, mit dem alles steht oder fällt, schon dadurch gelöst, dass ein Bischof jahrelang Arbeiter in einer Werkstatt wurde, oder, dass ein Kardinal wie Newman sich als Lehrer und Jugenderzieher betätigte. Warum sollten sich nicht auch Direktoren und Angestellt innerhalb der Betriebszeit ihren Arbeitern zu Orientierungs- und Aussprachestunden zur Verfügung stellen, oder sogar den Gottesdienst und sportliche Erholung in der Nähe des Werkplatzes mit ihnen teilen? Die kollektive Förderung der Arbeiterwelt könnte also anstatt durch die Gewalttätigkeit des Hasses unter dem Vorzeichen der Liebe ihr Ziel erreichen. Und diese Förderung und Besserstellung zielt nicht auf einen primitiven Platzwechsel, wie es durch den Marxismus leicht geschehen könnte, auf einen dialektischen Umschwung, durch den die Unterdrücker nun ihrerseits die Bedrücker würden, sie verlangt vielmehr eine offene Zusammenarbeit aller zum Wohle aller.
So wie auf kirchlichem und konfessionellem, sollte auch auf politisch-wirtschaftlichem und soziologischem Gebiet der Wille zur Offenheit, zur Begegnung und zum Dialog wieder in Fluss kommen. Nur für sich sein wollen, indem man sich absetzt von all dem, was man nicht selbst ist und sich den Ausbau der eigenen Abgeschlossenheit zur Hauptaufgabe machen, das ist für die wirtschaftlich-soziologische Interessengruppe ebenso verhängnisvoll als für die kirchlich-religiöse Gemeinschaft. Die Idee und Verwirklichung der Zurüstung oder gegenseitigen Zuordnung der verschiedensten Lebensbereiche war eines der Grundanliegen Newmans. Weil Liebe und Brüderlichkeit unter den Menschen zunächst keine Pflicht, sondern Gaben des menschgewordenen Gottes sind, kann sie sich die Menschheit allerdings nicht allein verschaffen, sie muss sich diese zuerst von Gott schenken lassen. Indessen können die Menschen schon durch natürliche Forschung und Erkenntnis diese Gnadengaben vorbereiten. Und damit kommen wir zur prinzipiellen philosophischen und theologischen Erwägung der komplementären Integration.
Wie sein Ordensvater Philipp Neri ist Newman weder Metaphysiker noch Systematiker. Als praktischer Engländer greift er aber doch, bei Ausserachtlassung formalistischer Entwicklungen, die lebendigsten und wesentlichen Prinzipien aus der scholastischen Philosophie heraus: die Analogie und Entelechie, als analoge Angleichung der Gegensätze unter sich und als Entelechie des Bedürfens, des Verlangens und der Erwartung nach Gott. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Evangelium. "Das Leben in Christus, schreibt Newman, "ist hienieden nicht eitel Freude, aber auch nicht nur Furcht und Zittern. Es ist beides zugleich. Es gibt keine gute Reue oder Furcht ohne Liebe. Und Gott will keine Abtötung ohne Milde. Die Liebe soll die Furcht mildern, und diese soll der Liebe mehr Ernst verleihen" (sermos). Newman sieht diese Gegensätzlichkeit nicht als dialektisch unvermittelte Antinomie wie beispielsweise Jaspers unter dem Einfluss Kants das Alte und Neue Testament sieht, sondern als gegenseitigen Angleichung. Ontologisch ausgedrückt verhalten sich die Gegensätze Furcht und Liebe analog zueinander, oder in gegenseitiger akt-potentieller Komplementarität. Diese Einheit der Gegensätze ist in dem alles Geschöpfliche übersteigenden Geheimnis von der Gemeinschaft der göttlichen und menschlichen Natur Christi zu Grunde gelegt. Gottheit und Menschheit bestehen in Christus ungetrennt, anderseits aber auch unvermischt, indem sie eine Einheit in der gegenseitig angeglichenen Unterscheidung bilden. Weil sich die göttliche und menschliche Natur in Christus nicht nach Art dialektischer Antithetik verhalten, dürfen wir von Christus, nach dem Beispiel der Heiligen Schrift, nicht nur sagen, dieser Mensch oder dieser Leib ist Gott, sondern auch, hier isst und trinkt oder schlürft Gott.
Newman hatte ein starkes Empfinden für das Potentielle, für die geheimnisvollen Möglichkeiten oder Hinweise, die von einer Sache ausgehen können. Er nannte das unphilosophisch anschaulich den Schleiercharakter der Welt. Das Potentielle entdecken und seine Entelechie (Zielstrebigkeit) deuten, gehört zur tiefsten metaphysischen Erfassung des Seins. Schleier steht hier im Gegensatz zur, den Menschen täuschenden indischen Maya (W. Nigg), die sich dialektisch absetzt vom Absoluten, wie die kantianische Erscheinungswelt vom absoluten Numenon oder Ding <an sich>. Vielmehr erinnert der Schleier an das Schauen im Spiegel (1 Kor. 12). Nach dem Apostel ist dieses Schauen rätselhaft, der antike Spiegel war bekanntlich trüb, er gab deshalb von der Wirklichkeit nur eine potentielle Andeutung. In dieser Potentialität liegt die Stärke und Schwäche aller geschaffenen Dinge, auch unserer Erkenntnis. Gott wirkt hinter diesem geheimnisvollen Schleier. Wer diesen (d.h. die Welt) in seiner wahren potentiellen Veranlagung erfasst, wird unwillkürlich zu Gott geführt. Wer aber den Schleier durch eine künstliche, positivistische Auslegung der Wirklichkeit verdichtet, zum absolut sich selbst genügenden Gegenstand macht, nimmt ihm den Schleiercharakter, d.h. das durchscheinend Göttliche und verliert deshalb Gott, den Ueberflüssigen". Newmans religiöses Lebensgefühl war das vom Erfassen eines geheimnisvoll Verhüllten. Wenn die Dinge nicht Staub und Eitelkeit sein sollen, müssen sie als Anzeichen und Sinnbilder verstanden werden, die allerdings noch mehr verbergen als sie andeuten. Nur wenn der Mensch diesen potentiellen Charakter der Welt erkennt, wie es in einer erleuchteten, modernen Physik geschieht, erreicht er, wie der Fisch im Wasser, die ihm eigene Sphäre, in der er menschlich, geistig zufrieden und glücklich existieren kann. Newman konnte deshalb gegen die materiellen Dinge misstrauisch sein, weil die Wissenschaft seines Jahrhunderts den Schleier materialistisch verdichtete, die geistige Osmose zwischen Mensch und Gott, die Lebensbedingungen des Seelischen verunmöglichte, was vom Unglauben zum Nihilismus und zur Verzweiflung führen muss. Auch im Gedicht Schillers "Das verschleierte Bild von Sais" führt die anmassende Missachtung des Schleiers anstelle ehrfurchtsvoller Versenkung in das von ihm Angedeutete und gläubiger Ehrfurcht vor dem verschleiert Göttlichen, zum Tod.
Wir haben den Begriff des Potentiellen oder des Schleiers deshalb so herausgestellt, weil er auch das dynamische Evolutionsprinzip des Geistigen und Religiösen ist: das Gewissen ist die verschleierte Naturreligion, die Naturreligion, zum Teil eine schleierhafte Andeutung der christlichen Offenbarung, das Evangelium die verschleierte Kirche, und die Kirche die verschleierte Unfehlbarkeit des päpstlichen Primatest. Alle Teile dieser Glaubenslehre stehen in analog potentieller Beziehung zueinander, wie die Glieder eines lebendigen Organismus. Keines dieser Glieder lässt sich gegen das andere ausspielen. So wenig wir die Bibel zum Beispiel gegen die Kirche, so wenig vermöchten wir die Kirche gegen die Bibel auszuspielen. Die Kirche steht in potentiellem Verhältnis zur Bibel, weil es in der Möglichkeit der Kirche lag, nachdem sie zunächst die längste Zeit nur durch das Lehramt die Gläubigen mündlich unterrichtete, es später auch noch durch schriftliche Aufzeichnung zu tun. Wo also im Prinzip zueinander (analog), nämlich über den Weg des Lehramtes gesprochen und geschrieben wurde, sollte es immer so bleiben. Ebenso wenig darf die Kirche gegen Christus ausgespielt werden. In dem Masse, als sich die Kirche zu selbständig und unabhängig vom Herrn, als Fels, vorkommt, verschliesst sie sich dem erhaltenden Einfluss des Ecksteins, auf dem schliesslich das ganze Gebäude ruht. Denn auch der Fels muss den Schleiercharakter der Braut Christi bewahren. Das ist seine Schwäche und seine Stärke: seine Selbstlosigkeit auf diese lässt sich die besonders starke Ausstrahlung von Papst Johannes XXIII. zurückführen. Indem der Fels durchscheinend bleibt und möglichst wenig selbst in Erscheinung tritt, erkennen wir den göttlichen Bräutigam, der durch den Schleier wirkt. Welche Maskeraden musste die Braut Christi im Laufe der Jahrhunderte durchstehen und muss sie heute noch aushalten. Ihr Schleier blieb zeitweise kaum mehr sichtbar. Der Verlust des Schleiers wäre ihr Tod. Aber auch jede menschliche Zutat gereicht Ihr zum Schaden. Uhr ihrer äusseren Aufmachung ist nur der Ausdruck ihrer inneren Haltung. Dass wir uns doch im Vertrauen auf den Herrn, um dem göttlichen Bräutigam zu gefallen, aller menschlichen Aufmachung entledigen, eingedenk des Apostelwortes: "Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark " (2 Kor. 12, 10). Auch Hirt und Herde dürfen nicht antithetisch gegeneinander stehen, sie verhalten sich komplementär. Die Autorität des Hirten ist allerdings vom Herrn und deshalb heilig. Aber auch der Gehorsam ist vom Herrn und ebenso heilig, weil der Herr selbst gehorsam geworden ist bis zum Tode am Kreuz. Was hat also der Vorgesetzte vor dem Untergebenen voraus? Beide sind Träger von Gottes heiligen Gaben, beide sind Knechte Gottes aus demselben Volke Gottes. Und es ist nicht auszumachen, ob die Heiligkeit und Grösse des herrschenden Christus eine andere sei als die des gehorsamen und gekreuzigten. Im 1. Jahrhundert gab es in der heidnischen Weltstadt, in der vorbildlichen Christengemeinde Roms, einen kaum in äussere Erscheinung tretenden Papst Clemens, aber seine Wirksamkeit war umso tiefgehender und durchgreifend bis zur Niederzwingung der aufständischen Gemeindemitglieder von Korinth. Heute beobachten wir in der gleichen Stadt einen äusserlich imposanten menschlichen Aufstieg über viele Prälaturen und Ehrenämter zum Papsttum, als Kehrseite jedoch einen ebenso steilen religiösen Aufstieg des römischen Gottesvolkes das komplementäre Verhalten von Hirt und Herte in dialektischer Umkehrung ("Qualis rex, talis grex"). Damit die römische Gemeinde wieder ihren vorbildlichen Aufstieg nähme, müsste dann nicht die kuriale Hierarchie über die vielen Stufen der Prälaturen von der kirchlichen Pyramide hinuntersteigen mitten unter das Volk, nach dem Beispiel des Herrn, der sich seiner göttlichen Sonderstellung und Ehrenbezeichnung entledigte und hinabstieg, um sein Volk zu erlösen? Die möglicherweise bestehenden menschlichen Schwachheiten ehrsüchtiger Eitelkeit, lieblosen Kastengeistes und augendienerischer Schmeichelei und Kriecherei würden damit verwandelt werden in geistige Armut, in mitbrüderliche Liebe zu den Aermsten und in echt sozialen Dienst.
Bei aller existentiell praktischen Einstellung förderte Newman die theologische Wissenschaft. Er plädierte besonders für die Existenzberechtigung der damals an der Universität bedrohten Theologie. Wie ein Wagen unvermeidlich das Gleichgewicht verlieren muss und als Ganzes zum Scheitern verurteilt ist, wenn nur ein Rad fehlt, so ist es auch um die Wahrheitserkenntnisse geschehen, wenn nur ein Wissenszweig von den andern überrundet wird. Newman warnt sodann von der methodisch falschen Vermengung oder Ineinssetzung der Wissensgebiete. Um eine Kollision zu vermeiden, muss die Naturwissenschaft aus religiösen Untersuchungen als solchen und die Theologie aus physikalischen Untersuchungen als solchen ausgeschlossen bleiben; wenn wir sie vermengen, geschieht es zum Verderben beider. Damit berühren wir die heute durch das Werk Teilhard de Chardins so akut aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis der natürlichen Evolution zum gnadenhaften Heilsgeschehen. Ist dieses in jenes verlegbar, oder gehen beide, ohne ein gewisses potentielles Angleichungsvermögen, sogar aneinander vorbei? Gott zeigt nach der Heiligen Schrift eine dritte, in der Mitte der beiden extremen Thesen sich bewegende Möglichkeit:" Natur und Gnade, wie bereits schon Leib und Seele, lassen sich einerseits auf zwei seinsmässig unterschiedene göttliche Ursprünge zurückführen, die anderseits jedoch wieder einander zugeordnet sind. Adam entsteht sowohl von unten aus dem Acker, als auch von oben aus dem Lebensodem Gottes. Gott haucht eigens die Seele ein und beruft ausdrücklich Abraham. Die Seele des Menschen und die gnadenhafte Auserwählung werden im Gegensatz zur materiellen, biologischen Entwicklung durch ein unterschiedenes Hervorgehen von oben gegeben. Trotzdem bleiben sie in einem potentiellen Verhältnis zur Materie und zur natürlichen Geschichte. Abraham konnte aus der Welt Gottesfreude entgegennehmen. Die Struktur der Schöpfung entspricht also diesbezüglich weder einer Gleichschaltung, noch einer dialektisch unvermittelten Aufspaltung, sondern einer zweieinheitlichen Zuordnung der hierarchisch unterschiedenen Werte, wie sie in der Menschwerdung Gottes alle Vorahnungen übersteigt. Allein schon durch die Bemerkung, dass jede Wissenschaft mit der ihr eigenen Untersuchung und Methode, anstatt sich mit einer andern zu vermengen oder diese in Frage zu stellen, im eigenen Hause bleiben soll, hat Newman die unerlässliche Grundlage der Universität und einer wahren Totalität des Wissens aufgezeigt. Erst wenn sich die Wissensgebiete in Anerkennung ihrer Selbständigkeit unterscheiden, können sie sich unter Wahrung ihres spezifischen Reichtums zur höheren Einheit, zu einer föderalistischen Totalität zusammenschliessen. Eine Vermischung wäre nur das Verderben jedes einzelnen und des Ganzen. Der Theologe soll also, um seine Wahrheit "lebensnaher" und mundgerechter zu machen, nicht zum Naturwissenschaftler gehen, um von ihm den biologischen Evolutionsbegriff zu entlehnen. Aber auch der Biologe darf nicht zum Theologen gehen, um durch theologische Perspektive und Verklärung seinem irdischen Stoff mehr Profil und Aufschwung zu geben. Wo die Biologie als solche, sich theologischer Begriff bedient, sind diese nur eingeschmuggelt und laufen Gefahr, falsch angewandt und missverstanden zu werden. Ueberdies verlöre die Naturwissenschaft dadurch den Ruf einer exakten, empirischen Wissenschaft. Und was geschähe umgekehrt mit einer Theologie, die aus falschem Konkordismus, die zentralsten Dogmen des Christentums mit naturwissenschaftlichen Formulierungen und Hypothesen, die morgen fallen können, zu einem unauflösbaren Block verbände? Die Synthese der Wissenschaften wird darin bestehen, dass die naturwissenschaftlich exakten Ergebnisse, ohne von der empirischen Wissenschaft selbst schon eine ihr nicht zustehende, präsumtive, geisteswissenschaftliche Deutung erfahren zu haben, im neuen Lichte der Philosophie und Theologie, aus den respektiv spezifisch unvermischten, neuen Prinzipien eine kompetente geisteswissenschaftliche Interpretation erfahren. "Einheit macht stark, Einerlei aber wirkt tödlich". Sowohl ungebührliches Trennen und Reduzieren auf ein verabsolutiertes Gebiet, als auch mangelndes Unterscheiden zerstört den Weg zur höheren Einheit. Man hat den Eindruck, dass Teilhard de Chardin, bei mangelnder Unterscheidung, versucht, die Wirklichkeit, die Materie unter ein Prinzip allein zu stellen. Es erscheint bei ihm, anstelle eines, der hierarchisch vertikalen Wirklichkeits- struktur entsprechenden, ausgeglichenen Spannungsverhältnisse der Gegensätze, ein Umschlag, ein dialektisch anmutendes Hin und Her zwischen einer zu eigenmächtig erscheinenden Materie (Vgl. "Le phénomène humain") und einem Gott, in dem die Dinge der Welt geradezu ertrinken (Bgl. "Le milieu divin"). Dieses letzte Extrem dürfte der Wahrheit allerdings näher stehen als das einer irgendwie eigenmächtigen Materie. So wenig der Schleier sich selbst die Ausprägung zu geben vermag, die er der dahinter verborgenen Gestalt (Morphe) verdankt, so wenig vermag die Materie die Evolution zu bewirken, zu der sie nur unter- geordnet dienen muss und die sie jeden Augenblick der in ihr fortwährenden schöpferischen Wirksamkeit Gottes verdankt. Wie unmöglich ist die merkwürdigerweise sogar in gelehrten Köpfen bestehende Vorstellung, dass Gott hie und da "eingreifen" müsse, wo er doch andauernd der innerste Antrieb ist. Diese der Welt immanente Wirksamkeit Gottes stellt jedoch seine jeder Dauer überlegene Transzendenz nicht in Frage. Was die Theologie so begrifflich aussagt, drückt Newman durch ein Bild aus, durch einen seiner ihm eigenen intuitiven Einfälle. Ein solches Bild enthält seine Aeusserung, dass Denken vielleicht Musik sei. Schon die alten Griechen haben das Sein als Sphärenmusik bezeichnet. Wenn Denken und Sein der Musik vergleichbar sind, dann darin, dass sie wie diese nicht nur das eine horizontal sich entwickelnde Thema kennen, sondern auch die vertikale Lagerung der von einander unterschiedenen Begleitstimmen. Diese können sich sogar einer gewissen kontrapunktischen Selbständigkeit erfreuen, entfalten sich aber nur in der gegenseitigen Angleichung vom vollständigen Werk. Heilsgeschichte ist das Thema, dem die natürliche Evolution als zweite Stimme unterstellt wird, damit sie erlöst werde und nicht umgekehrt. Das starke Gefühl solch vertikaler Schichtung bewahrte Newman vor Umkehrungen, Verwechslungen und nivellierender Gleichschaltung. Musikalisches Denken bewegt sich nicht in dialektischer Antithetik, bei der das Nachfolgende das Vorherige, oder eine Stimme die andere aufhebt, sondern in einer die vermittelten, gegensätzlichen Spannungen aushaltenden Harmonie und Zielstrebig- keit aufs Ganze. Das erklärt, soweit das Geheimnis eines Lebens in Christus im Denken und Handeln sich ausdrückt, die grosse Einheit und intensive Ruhe in Newmans Leben. Er ändert sich zwar unaufhörlich, alles Gültige assimilierend sich in Andersdenkende einfühlend, und blieb doch immer persönlich der Gleiche, nach der potentiellen Daseinsauffassung vom Sein im Werden. Wer auch immer, im Widerspruch zu dieser Grundstruktur der Schöpfung, die durch die Sünde in die Welt gekommene antithetische Dialektik, als Jongleur zur Verblüffung der Bürger, ungebührlich und spielerisch erweitert, gibt ein Vorspiel zur dantesken Hölle, wo die Seelen zwischen starrem Eis und der Feuersglut hin und her geworfen werden.
Gott ist nicht Zerrissenheit, sondern in sich unterschiedene Einheit. Er verwirklicht diese nicht nach Art einer sterilen Identität oder monistischen Gleichschaltung, sondern in der weitgehendsten Eigenart der unterschiedenen und doch wieder aufeinander bezogenen drei göttlichen Personen. Durch dieses Unterschieden_ und doch wieder Aufeinanderbe- zogensein wird es deutlich, dass Gott die Liebe ist. In seinem Bilde und nach seinem Gleichnis schuf Gott auch den Menschen. Bis zum letzten Atom verrät die ganze Schöpfung, wenn auch bei weit grösserer Unähnlichkeit, etwas Ihm Aehnliches. In dieser Aehnlichkeit treffen sich die begnadetsten Geister immer wieder. So spiegelt sich im Grunde die gleiche göttliche Liebesdynamik, die durch das menschgewordene Wort die Welt heim zum Vater führt, ausgesprochen im johanneischen "Wort zu Gott hin" (Logos pros ton Theon) im platonischen Eros, in der aristotelischen Entelechie der Potenz zum Akt, und über das augustinische unruhige Herz in der thomistischen Analogie zum newmanschen "Herz zu Herz" (Cor ad cor loquitur). Bei aller Unterschiedenheit des ausdrücklich Gnadenhaften bleibt auch dem Heidentum eine Beziehungsmöglichkeit zu Gott. Einen Kosmos des Seelischen, sogar des eigenen Herzens, könnte man Newmans Werk heissen, als Ausgleich der damaligen, wachsenden, englischen Welteroberung und der heutigen Bestrebungen in Kosmische. Sein Ideal war so urchristlich, eschatologisch, dass er sich nie mit der soziologischen oder gar anthropologischen Frage, wie sie Darwin in seiner Nähe entwickelte, näher beschäftigte. Ob und wie wir wohl ankommen? - So fragen wir uns heutige Menschen im Zeitalter der Weltraumschiffahrt, im Hinblick auf erhoffte Landungen auf noch unerforschten Planeten. Nicht weniger problematisch und noch viel wichtiger ist die Frage, wie wir von Herz zu Herz und von Land zu Land auf dieser Erde ankommen. Man muss die moderne Psychologie allein schon deshalb respektieren, weil sie durch die Aufdeckung der "Verdrängung" und der "Kompensation" so sehr unserer Selbsterkenntnis dient. Mit was für monumentalen Werken der Mensch doch das Nächstliegende und Notwendigste zu verdrängen vermag! Irgendwie schreitet der seelisch nach innengekehrte Newman in der entgegengesetzten Richtung eines Teilhard de Chardin. Die beiden Richtungen an sich müssen nicht widersprüchlich sein. Jede möge sich an der andern richten um echt christlich und komplementär bleiben zu können, gemäss den Worten des Herrn: "Niemand hat eine grössere Liebe als der, der sein Leben hingibt für seine Freunde" (Jo 15,13). Und "was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet" (Mt 16,16).
Zukunft und Hoffnung, Futurologie und die theologische Frage nach dem Endgültigen und Jenseitigen dürften zu den aktuellsten Themen unserer Zeit gehören. Je weniger wir von einer rein weltlichen Zukunft beruhigt und begeistert sein können, desto mehr dürfen und müssen wir uns von der religiösen und christlichen Hoffnung ansprechen lassen. Das Gleichgewicht auf unserem Planeten ist in den verschiedenen Bereichen, am meisten und bedrohlichsten wohl im geistig-religiösen, gestört. Die grosse Zweideutigkeit unseres zivilisatorischen Fortschritts stellt uns vor die Frage: Haben wir überhaupt noch Zukunft?
Kaum einer schreibt so rücksichtslos von Ungerechtigkeit und Sinnlosigkeit, Verlassenheit und Verzweiflung wie Franz Kafka. Entschlossen geht er den Weg der absoluten Verneinung, der tiefsten Finsternis und absoluten Katastrophe, um das Nichts als Weltgrund zu etablieren. Mindestens seit Nietzsche leben wir in der Zeit des "toten Gottes", in welcher der Mensch, wie Jean Carrrive schreibt, "buchstäblich ein Hundeleben" führt und nur mehr ein Hund ist, der sich mit der Angst und dem Absurden herumbalgt" (1). Kafka beschreibt diesen Menschen im Zeichen des Tieres, der sich selbst auflöst und wie ein Hund umkommt, weil er Gott verloren hat (Josef K.). Trotz übermenschlicher Anstrengung gelingt es Kafka jedoch nicht, die Hoffnung zu zerstören. "Der Mensch", so schreibt er selbst, stösst auf die "Merkwürdigkeit, die Unenträtselbarkeit des Nicht-Untergehens, der schweigenden Führung". Der Mensch kann nicht leben "ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich" (2).
Haben wir noch Zukunft? In der Beantwortung dieser Frage neigen sogar manche Christen zur Ansicht, wir hätten die Zukunft endgültig verspielt. Nach ihnen wäre das Heil nur mehr jenseits der Geschichte zu suchen. Dieses jenseitige Heil ist spezifisch christlich, nicht weniger jedoch das Heil in der Zeit, nachdem Gott immer wieder durch seine Einbrüche in die Zeit-Heilge- schichte gestiftet hat. Der biblische Gott ist Herr schon in dieser Zeit, auch über die Zukunft. Hinsichtlich der Zukunft wäre ein hoffnungsloser Christ oder eine zukunftsblinde Kirche ein "hölzernes Eisen" (J.M. Lochmann). Beide Aspekte der Hoffnung, der diesseitige und der jenseitige, gehören zusammen und ergänzen sich zum Ganzen christlicher Existenz. Wird die eine von der anderen Linie des Kreuzes als Horizontalismus oder als Vertikalismus abgelöst und verabsolutiert, so muss dies zu falschen Alternativen und zur Auflösung des Kreuzes führen (3). Christentum und Kirche sind somit auch für das Heil in der Zeit verantwortlich, besonders weil sie aus der Bibel vor allem das Wort vom "Beherrschen" und "Untertanmachen der Natur" und weniger jenes vom "Bewahren" und "Pflegen" herausgelesen haben.
In der Sprache des Alltags bedeutet "Hoffnung" ein Verlangen nach etwas, das möglich sein mag, aber nicht sicher ist. Goethe legt uns nahe, zwei Arten von Hoffnung zu unterscheiden: den zügellosen Dämon Elpore und die Göttin Elpis. Beide entsprechen einer Grunderfahrung, einer Grundbegebenheit menschlicher Existenz. Die erste - dämonische - Art bezeichnet Goethe in den Wahlverwandtschaften als "Sternschnuppen" und in Wilhelm Meister als "Fata Morgana" oder Gaukelerscheinung, die den Menschen ins Verderben lockt (4).
Von dieser eher dämonischen Art Hoffnung dürfte Ernst Blochs Prinzip Hoffnung sein. Entweder wird, schreibt Bloch, aus dem evolutiven Prozess der Welt und des Menschen Gott heraus entwickelt, oder es ist überhaupt nichts. Darauf ist gegen Bloch zu sagen, dass jedenfalls etwas ist und dass Gott oder das Ewige nicht aus der Welt zu entwickeln ist. Vielmehr ist von Blochs Theorie, die zuviel und zu wenig geben möchte, zu sagen, dass sie überhaupt nichts gibt. Blochs mystischer Materialismus als Ersatzreligion ist wie die hegelsche-marxistische Dialektik ein Widerspruch in sich. Ihr Handlungsprinzip, die Revolution, zerstört um einer utopisch gesetzten Zukunft willen Menschenwürde und Wirklichkeit. Immerhin verweist Blochs Verlangen nach Gott auf die christliche Hoffnung.
Gott und das ewige Leben sind das erste, auf das der Christ hofft. In Abhängigkeit davon kann auch anderes dazu Dienliches erhofft werden. Die christliche Tugend der Hoffnung steht über der Projektion unserer Wünsche und ist aus eigener Kraft unerreichbar. Sie wird dem Menschen, allerdings nicht ohne sein Bemühen, von Gott geschenkt. Sie ruht in Gott und schliesst den Glauben und die göttliche Liebe mit ein. Der Glaube ist die Schwelle, die vollkommene Liebe ist das Endziel. Die Hoffnung ist die Brücke zwischen beiden und zugleich schon, wie Balthasar Staehelins klinische Erfahrung bestätigt, potentieller oder bereits angehobener Besitz des Ewigen.
Die Bibel - das ganze Alte und Neue Testament - ist ein Buch der Hoffnung, der Erwartung des Heils, als Zeitliches und Endzeitliches. Es wird denen entzogen, die glauben, es für sich pachten zu können. Paulus ist der Theologe der Hoffnung: "Ich vergesse, was hinter mir ist, strecke mich aber nach dem aus, was vor mir ist" (Phil. 3,13). "Denn um der Hoffnung Israels willen trage ich diese Kette" (Apg. 28,20). Die Hoffnung ist etwas, das kämpft (Röm. 5,3-4; Kol. 1,23). "Die Geduld ist mir nur verdienstlich", schreibt H. Bars, "wenn sie einer in sich heiligen Ungeduld aufgepfropft ist, und die Erwartung ist nur Hoffnung, wenn sie eine gespannte Erwartung ist" (5).
Christliche Hoffnung ist die Antwort auf das Versprechen Gottes, das eine in sich unfehlbare Gewissheit birgt, indem es einem sicheren Tau vergleichbar ist, dessen eines Ende wir in Händen halten. Sie ist ein sicherer Anker, der uns bereits in dieser Zeit an den Hafen des Ewigen bindet, wohin Christus uns vorausgegangen ist.
Bei höchster Geistigkeit jedoch war niemand weniger spiritualistisch als Christus. Er heilte so viele Menschen, weil er sie ganz, ihrer Seele und ihrem Leibe nach, liebte. Er hat den hoffenden Kranken nie zu verstehen gegeben, sie wären grobe Materialisten. Er hat Wasser in Wein verwandelt und aus Liebe zum Volk die Brote vermehrt, aber niemals das Geld (6).
Der eigentliche Gegenstand der christlichen Hoffnung liegt nicht, so dringlich die soziale Gerechtigkeit auch anzustreben ist, in der Verlängerung irgendeiner weltlichen Hoffnung. Das endzeitliche Heil wird durch nichts Irdisches bedingt. Ohne den Menschen in zwei Hälften zu teilen, müssen wir das ewige Heil vom zeitlichen Wohl unterscheiden, denn dieses darf nicht mit allen Mitteln und als Höchstes angestrebt werden, es untersteht vielmehr den Forderungen des ewigen Heils. Transzendenz und Jenseits als letztes Ziel des Menschen sind das grosse Aergernis der materialistischen Welt.
Die "Welt", nicht als Schöpfung, sondern im widerstrebenden Sinn, kann es nicht ertragen, dass der Christus seine letzte Hoffnung ausser ihr setzt. Weil Christus als letztes Ziel ein Ueberweltliches, Ewiges verkündet, reagiert diese materialistische oder ausschliesslich diesseitig eingestellte Welt antichristlich. Und weil sie, nach Christus, einer teuflischen Intelligenz, dem "Fürsten dieser Welt", untersteht, handelt sie nach ihrem führenden Geist durch die zerstörerischen Mittel der Lüge und des Zwangs despotisch. Diese "Welt" und Reich Gottes durchdringen sich, nach dem Gleichnis vom Unkraut im Weizen (Mat. 13,24ff). Unser Kampf darf sich nicht nur gegen den Gegner um uns, er muss sich gegen diesen in unserem Herzen richten.
Auf die Frage: Was wird mit der Welt geschehen, was haben wir noch vor uns? ist zu antworten: Er steht vor uns, der gesprochen hat: "Seid getrost, ich habe die Welt überwunden" (Joh.16,33). Deshalb ist sein Reich unfehlbar im Kommen. "Die Erde ist" wirklich "des Herrn und was drinnen ist". Sie ist seine gute Schöpfung.
"In Christus ist Gott selbst in den Wirrwarr irdischer Geschichte eingetreten, ist dem Bösen in all seinen Gestalten begegnet und seiner Herr geworden. Das neue Leben findet sein Urbild und seine Kraft in Jesus Christus, dessen Liebe die Menschen von Schuld, von der Macht der Sünde und von der Furcht des Todes zum Dienst an ihren Mitmenschen befreit (7)." In der Grenzenlosigkeit seiner Liebe sind alle Zäune zwischen Rassen, Nationen, Kulturen und Klassen abgebrochen.
Es ist eine Illusion zu glauben, der Mensch könne die Last dieser Welt allein auf seine Schulter nehmen. Unsere Hoffnung ruht in Gott. Es gibt einen, der uns besser versteht, als wir uns selbst verstehen. Jesus Christus hat die Tiefen des menschlichen Seins ausgemessen wie kein anderer. Er schritt durch die dunkelste Nacht der Seele, die äusserste Einsamkeit und Verlassenheit, bevor er sich siegreich über Tod und Hölle erhob. In Christus besitzen wir das herrlichste Leben, die Gemeinschaft mit Gott und dem Ewigen. Aber die Wirklichkeit und Kraft des neuen Aeons, der in Christus zwar angefangen hat, ist noch nicht völlig offenbar. Indessen "regiert seine Vorsehung, und mitten in ihr lebt und wirkt sein Geist, überwindet das Böse mit Gutem. Der gleiche Geist, der in Jesus Christus am Werke war, wurde nach seiner Erhöhung auf die Seinen ausgegossen. Mit ihm beginnt eine neue Menschheit (8)." Aber der Christ muss noch in einer Welt leben, die Christus gekreuzigt hat. Wir stehen im Kampf mit den Mächten des Bösen. Wenn wir den Ansturm der Verfolgung aushalten, wenn wir wie Christus die Last der Sünde, des Leids der Welt als Gericht Gottes auf uns nehmen, werden wir Teilhaber an den Leiden des Herrn, aber auch an der Kraft seiner Auferstehung (9). In der christlichen Hoffnung erfahren wir beides, Ferne und Nähe des Reiches, Armut und Reichtum, die Not des Gebärens zur transzendenten Herrlichkeit. Für den Christen resultiert daraus eine doppelte Versuchung: einmal an dieser Welt zu verzweifeln, oder zu vergessen, dass das Irdische nur ein Vorgeschmack des Ewigen ist, so dass er die Möglichkeit des Gegenwärtigen mit Gottes Reich verwechselt.
Im Ereignis des Kreuzes bleibt Gott nicht im Jenseitigen, sondern nimmt in Jesus am persönlichen und geschichtlichen Leben der Menschen, seiner Brüder, teil. Umgekehrt ist der Mensch nicht dem Irdischen ausgeliefert, sondern erfährt den Anteil am Geheimnis des Kreuzes und der Auferstehung des Herrn.
In der Offenbarung des Johannes (21,1-5) steigt das neue Jerusalem vom Himmel auf die Erde herab. In der Botschaft Jesu ist die Rede vom Reiche Gottes. Danach hat die erlöste Welt nicht nur individuelle und jenseitige, sondern auch gemeinschaftliche politische Konturen. Der Marxismus erhebt gegen die Religion den irrigen Vorwurf, keine gesellschaftliche Verbesserung anzustreben. Nach dem Verhalten Jesu und der Propheten gibt es eine Verbesserung der irdischen Zustände. Wir dürfen der politischen Macht nicht fatalistisch gegenüberstehen. Nach dem Beispiel Jesu haben wir die Solidarität mit den Armen als Grundhaltung zu betrachten. Man spricht heute mit Recht vom gefährlichen Geheimnis des Kreuzes als Herausforderung und Parteinahme für die Zukurzgekommenen, im Gegensatz zur früheren Duldungslehre und unkritischen Hinnahme der vorgegebenen Herrschaftsverhältnisse. Im Lichte der Auferstehung Jesu ist die Welt ein aufgebrochener Bereich, in dem weder Fatalismus und Resignation noch Todesmacht ein endgültiges Wort haben. Das Kreuz muss als soziale Herausforderung verstanden werden (10).
(3,11). Der Mensch ist also ein Wesen, das sich selber nicht restlos gegeben ist, sondern in seiner ontologischen Differenz oder Nicht-Identität der Ergänzung der Gemeinschaft mit Gott bedarf. Diese wesentliche Offenheit nach oben, dieses Unabgeschlossen- und Unterwegssein, das Verlangen nach Vollendung kommt in den ältesten Steinfiguren Europas, den sogenannten "Idolen der Kykladen" mit ihrem Bezug zur Transzendenz, zu ergreifendem Ausdruck. Wir ziehen dieses Beispiel heran, nicht weil es einzig dastünde - die Kunst im allgemeinen transzendiert, selbst die moderne -, sondern weil es in seiner Ursprünglichkeit besonders eindrücklich ist (12).
Unsere Gesellschaft muss sich im Geiste erneuern. Solche Verjüngung ist nicht ein Wunder des Rationalen, sondern der Gnade, ein nicht erzwingbares Geschenk Gottes. Indem uns in den ältesten Kunstwerken Europas der ergreifendste Ausdruck transzendierender Hoffnung begegnet, fühlen wir uns in der Entwicklung starker christlicher Hoffnungskräfte besonders bestätigt.
Die Kykladen sind jene zwischen Griechenland und Kleinasien sich im Kreise um Delos gruppierenden Inseln im Aegäischen Meer. Auf manchen dieser Inseln wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts Gräber freigelegt, die vom Jahre 3200 v. Chr. an zu datieren sind. Es sind die Fundstätten der sogenannten "Marmoridole" verschiedener Prägung und Entstehungszeit. Diese sind nur aus dem religiösen Gesamtcharakter jener Zeit und aus den möglichen Einflussgebieten zu verstehen und zu deuten.
In Aegypten finden sich Texte aus dem Alten Reich, wonach der Hingeschiedene in den Schoss der Göttermutter Isis eindringt, um dort zu einem höheren Leben wiedergeboren zu werden. Die gleiche Auffassung herrschte in Griechenland, auf Kreta, in Kleinasien und in Unteritalien. Es gibt minoische und mykenische Bilder der Göttin mit gespreizten Beinen zur Wiederaufnahme der Hingeschiedenen (13).
Auf den Kykladen darf der Kult zur Grossen Mutter als sicher erwiesen gelten. Erde, Sonne, Mond, Sternhimmel und besonders Wasser und Meer sind, nach Art der sumerischen Göttin Inanna-Istar, bevorzugte Erscheinungsorte der Göttin. Das Wasser als das Element der Grossen Mutter umschliesst das Reich der Toten und Wiedergeborenen, den Ort ewiger Seligkeit.
Die Gräber der Kyklader liegen deshalb am Meer. In dem relativ kleinen Grab liegt der Tote mit angezogenen Beinen; die Lage des Kindes im Mutterleib. Der Verstorbene soll, um ein neues Leben zu erlangen, in den göttlichen Schoss der Grossen Mutter zurückkehren. Als einfachste Grabbeigaben figurieren denn auch die Muscheln, ein bis heute bei den Naturvölkern universales Symbol der Vulva (Schoss), in unserem Fall der Vulva der Grossen Mutter. Die bleiernen Schiffsmodelle als Grabbeigaben zeugen für den jenseitigen, überweltlichen Ort der Verstorbenen. Ferner weisen die kultischen Spendeschalen oder flachen "Kykladenpfannen" mit Sternmustern, Spiralnetzen (wirbelndes Meer) - die auch in Gräbern vorkommen - direkt auf die Göttin. Durch die unter dem Vaginalsymbol (weibliche Scham) angebrachte beinartigen Stiele oder Pfannengriffe wirken die sogenannten "Syros-Pfannen" figurenartig. Mit Wasser gefüllt und als Spiegel verwendet, erkennt sich der Mensch darin gleichsam im Leibe der Göttin.
Bereits im 5. Jahrhundert kannten die Ackerbauern in Kleinasien, Griechenland und Südosteuropa die fettleibige Frauenfigur der Grossen Mutter. Daneben finden sich gleichzeitig abstrakt schematische Figuren verschiedener Ausprägung. Als gemeinsames Merkmal weisen diese anstelle des Kopfes einen sich bis zu einer Spitze verjüngenden Fortsatz des Halses auf, der in der Bronzezeit (3. Jahrhundert) phallische Pfeilgestalt annimmt. Zudem lassen diese durch das weibliche Schamdreieck charakterisierten Figuren eine ausgeprägte Angabe von Armen und Beinen - der Hauptorgane des aktivistischen Menschen - vermissen. Man spricht deshalb von "Violinfiguren" und in bezug auf den Fundort auf Paros von Saliagos_Kultur (4800).
Violin- und 8 er-Figuren finden sich später wieder in der frühen Bronzezeit auf Naxos, Paros und Amorgos (Grotta-Pelos-Kultur, 3200-2700). Diese abstrakt schematischen Ausprägungen leiten sich wohl von Natursteinen her. Menschenhand konnte solches marmornes Strandgeröll zu "Kindern" der Meeresgöttin verdeutlichen und gerade unter dieser Bedeutung als Symbol der Neugeburt den Verstorbenen ins Grab mitgeben. Man konnte damit sagen, dass, ähnlich wie der Stein auf den Menschen, der Mensch auf Gott angelegt sei. Hier mögen nicht nur die Grundlagen für eine hochentwickelte Bildhauerei, sondern auch der erhabene Ausdruck einer religiösen Auffassung vom Menschen liegen: der finale Mensch (14) als Pfeil der Hoffnung.
Neben den Violinfiguren finden sich gleichzeitig Typen mit einem grossen Kopf (Louros). Das Ergreifende an diesem Typ ist das auf hochragendem Hals sitzende, einem nach oben geöffneten Gefäss vergleichbare Haupt. Mit diesem Symbol des nach oben offenen und harrenden, aufnahmebereiten Gefässes ist wohl des Menschen wesentliche Haltung überhaupt getroffen.
Mit der Entdeckung von Metallwerkzeugen (Keros-Syros-Kultur, 2700-2100) entstand die zahlen- und grössenmässige (bis 1,50m) Hauptproduktion der frühkykladischen Kunst; der als kanonisch bezeichnete Typ. Er zeichnet sich durch fliessende Konturen, durch eine den Körper ganzheitlich beherrschende Stromlinie aus. Diese erlaubt dem Körper weder zu stehen noch zu liegen, sondern sie macht ihn durch die abwärtsgerichteten Füsse und durch die deutlich angezogenen Knie und den zurückgelegten Kopf geeignet zum Aufwärtsschweben oder zum Zerteilen der Meeresflut.
Die Figuren sind nackt und weisen das weibliche Schamdreieck auf. Das konvexe Gesicht ist nur durch die lange, hervorspringende Nase, die unserer Auslegung sehr entgegenkommen wird, charakterisiert. Bei aller Variation liegt ein einfaches, strenges Grundmodell von höchster Durchsichtigkeit vor. Diese schwebenden Körper nehmen irgendwie Profil des gekreuzigten und auferstandenen Corpus Christi vorweg. Wie sehr auch die fehlende Ueberlieferung uns über Bedeutung und Funktion der "Idole" im dunkeln lässt, so überzeugend dürften diese aus der schlichten, hinreissenden Wesenhaftigkeit dieser Kunstwerke hervorgehen.
Diese Bedeutung der "Idole", die man nur als Grabbeigaben kennt, ist immer noch umstritten. In Anlehnung an Mesopotamien und Aegypten dachte man schon an Konkubinen, am häufigsten jedoch an die Grosse Mutter und Fruchtbarkeitsgottheit. Die Grossschrift und anderseits die doch nur schematische Andeutung des weiblichen Schosses zeugt von vitaler Kraft und zugleich von einer in der grossen Sehnsucht des Geistes überhöhten Geschlechtlichkeit. Die Brüste sind nur angedeutet. Beides passt weder zur Konkubine noch zur Fruchtbarkeitsgöttin. Dass Mann und Frau im selben Schema dargestellt werden, weist bereits auf androgyne (mann-weibliche) Integrierung. Das "weibliche Idol", dieses "enfant terrible" der Archäologen, ist in Wirklichkeit - ein Androgyn.
In den späteren Mysterien des Seelenbefreiers Dionysos ist die aus dem Tod des Leibes neu entstehende Seelengeburt zur Unsterblichkeit ein androgyner Mensch. Es geht nachweisbar auch bei den "Idolen" um den ganzen oder androgyn integrierten Menschen. In Athen findet sich ein "Idol" mit langem Hals, phallischem Schlangenkopf und weiblichem Schamdreieck. Auch der kanonische Typ mit seinem männlichen Kopf und weiblichen Schoss ist androgyn zu verstehen. Ein in die symbolische Herzform integriertes kykladisches Ornament lässt Gnaden und männliches Glied und zugleich, in einem, bipolaren Becken und Vulva erkennen. Aehnlich vermögen alle Figuren mit Pfeil- und Stilköpfen und weiblicher Scham androgyn gedeutet zu werden. Selbst die Vorderansicht des kanonischen Antlitzes kann als Penis und Vulva - besonders bei dreieckiger Kopfform - in einem interpretiert werden. Dies alles ohne potenzierte Sinnlichkeit als Vorbild der späteren hellenischen, exemplarischen Seelenhaltung und androgynen Lebensbewältigung und als Urbild der christlichen seelisch-androgynen Integrierung in Gott, die uns im Jenseits jedes geschlechtlichen Bedürfnisses enthebt. Für das Leben im Diesseits will das Symbol des Androgynen nichts anderes bedeuten als das ausgewogene natürliche Verhältnis zwischen Mann und Frau.
Nach ihrer Stromlinie zu schliessen, deuten die androgynen "Idole" auf den durch das Meer in den Schoss der Grossen Mutter zurückkehrenden Menschen. Die nur als Grabbeigaben verfertigten "Idole" wurden absichtlich zerstückelt. Darin dürfte wohl ein Symbol der schmerzlichen Zerstörung durch den Tod und der menschlich nicht zu bewirkenden Reintegrierung durch die Gottheit liegen.
Die kanonischen Figuren sind vor allem durch Kopf und Nase charakterisiert, deren herrlich geschwungene Kurvatur sich dem Himmel entgegenhebt und sich durch den ganzen Leib fortsetzt. Die Nase ist sogar das einzige plastisch dargestellte Organ am Kykladenkopf.
Nach der Bibel hauchte Gott dem Menschen das Leben durch die Nase ein (I.Mos.2,7). Die Auffassung: Atem oder Hauch als Symbol des Lebens kann in der vorderasiatischen Welt überall beobachtet werden. Ausgegangen ist die Vorstellung vom Lebenshauch von Aegypten, wo man dem Leben nach dem Tode so viel Aufmerksamkeit schenkte. Ein ägyptisches Grusswort heisst: "Der Atem des Re werde deiner Nase zuteil..."In einer Grabinschrift aus der Zeit Tutmosis III. ist die Rede vom "Herrn des Atems, der ihn zu den Nasen bringt". Zur Wiederbelebung des toten Königs Sethor I. spricht Thot: "Ich gebe dir Leben in deine Nase (15)..."
Indem nun der kykladische Bildhauer allein die Nase am Haupte seines Bildwerkes hervorhebt, dürfte dieser Umstand nur zu jenem Zustand passen, in dem einem Menschen (dem Verstorbenen) alles überflüssig wird, mit Ausnahme eben der Nase als Organ des wieder zu empfangenden Lebens.
Als rein natürlich diesseitige ist diese kykladische Menschenfigur nicht zu verstehen, weil sie weder liegt noch steht, sondern schwebt und nur eine dynamische Beziehung zum Boden hat (16). Es ist der ins innerweltlich und überweltlich Göttliche verlängerte finale Mensch. Der stromlinienhaft fischartig abgeplattete Leib ist zum Sprung, zum Flug und zum Zerteilen der Meeresflut geeignet.
Die Stärke der kykladischen Kunst liegt, nach J.Thimme, in der kühnen Umsetzung von religiöser Erfahrung in die suggestive, ausdrucksvolle Kunstform. Eine geistig-religiöse Anregung aus dem Osten ist leicht möglich, doch für die Umsetzung ins Bildnerische gab es keine Vorbilder. Die Kyklader setzen sich nicht vom 20. Jahrhundert ab, sondern dieses setzt sich vielmehr von ihnen ab durch seine einseitige Diesseitigkeit, seine Masslosigkeiten im Akivistischen, im Materiellen und Sinnlichen. Aus den kykladischen Werken spricht noch das göttliche Urbild des Menschen von Hoffnung und Lebenssinn. Obwohl 5000 Jahre dazwischen liegen, fliessen ihre offene und unsere geheime Sehnsucht nach ausgeglichener Ganzheitlichkeit in eins.
Wieder einmal ist die Kunstgeschichte anhand der ältesten Kunstwerke Europas aufgerufen, sich ins Heilsgeschichtliche zu überwinden. So oder so sind die Kykladen mit ihren "Auferstehenden" das Erste Patmos mit der andern Geheimen Offenbarung der Hoffnung für alle Zeiten.
Anmerkungen:
Gott und die medizinpsychologische "Potenz"
Zu Balthasar Staehelins neustem Buch "Der finale Mensch"
Der "eiserne Vorhang" zwischen heilloser Welt und heilbringendem Bereich des Göttlichen ist auch auf dem Boden der Erfahrungs- wissenschaft durchbrochen. - Der Zürcher Forscher und Psychosomatiker Prof.Dr.med. B. Staehelin hat seit Jahren, klinisch und literarisch, die allzusehr unter spezialistischem Verschluss gehaltenen Natur- und Humanwissenschaften auf das Numinose und Göttliche hin erfolgreich geöffnet.
Das Wort "Potenz" kann gleichbedeutend sein mit Zeugungs- und Lebenskraft. In unserem Fall handelt es sich um die biologisch-geistig-regenerative Kraft religiösen Erkennens und Verhaltens in der Behandlung des psychosomatisch leidenden Menschen.
"Potenz" kann aber auch die radikale Möglichkeit oder Angelegtheit gerade des leidenden Menschen auf das transzendent Offene, Zentrale oder Göttliche bedeuten. Beide Bedeutungen sind verschieden, in ihrer finalen Ausrichtung aber auch ähnlich. Die erste ist, weil physisch und konkret, allgemein verständlich, die zweite ist, dem Abstraktionsgrad nach, ungewohnt abstrakt, metaphysisch.
Die finale oder zielgerichtete Struktur ist in der Welt allgemein. Auch das Tier ist final angelegt, es transzendiert beispielsweise im Menschlichen. Hund und Katze fallen in sich zurück, werden stumpf, traurig, und verwildern, wenn man sich ihrer Oeffnung nach oben verschliesst, die von ihnen angestrebte Gemeinschaft versagt. Umgekehrt und anderseits ist der Geist des Ewigen oder Göttlichen zwar in der Welt, aber die Menschen nehmen vielfach keine Notiz davon.
Auf den Geist und auf Gott glaubte ein materialistisch- mechanistisches Zeitalter verzichten zu können. Unter dem äussern Fortschritt einer technischen Welt verbirgt sich heute jedoch geistig und moralisch frustrierte und deshalb gefährdete und erkrankte Menschheit. Die neuzeitliche Universität unterzieht, seit Kant, aufgrund einer entsprechenden Methodik, Wissenschaft und Religion nicht nur unterschiedlichen Forschungsprinzipien, sondern einer sterilen Trennung, und der Positivismus unterschlägt Religion und Metaphysik überhaupt ganz. Diese zu Unrecht bestehende Entzweiung und Unterschlagung durch ein atheistisch-empirisches Weltbild, das den heutigen Zeitgeist noch vorwiegend prägt, ist im Begriff, einem dynamisch-final ausgerichteten Welt- und Menschenverständnis zu weichen. Der Verfasser möchte sein neuestes Buch als einen weiteren Beitrag zu solch neuem Denken verstanden wissen.
Staehelin unterscheidet an der Welt der Physik und Biologie, des Seelischen und Geschichtlichen den zweifachen Aspekt der "ersten" und "zweiten" Wirklichkeit. Nach dem ersten Aspekt, den der Materialismus als allein wirklich hält, ist die Welt kausalistisch determiniert. Nach dem zweiten Aspekt bewegt sich die Welt spontan undeterministisch und im Bereiche des Geistes mit seiner überraumzeitlichen Dimension sogar frei. Diese "zweite" Wirklichkeit ist durch ihre Finalität oder Zielstrebigkeit (Aristoteles) charakterisiert.
Als geistiges Wesen ist der Mensch auf das Absolute oder auf Gott hin bezogen. Seine leib-seelische Gesundheit ist deshalb bei aller kausalen Bedingtheit auch von seinem metaphysischen finalen Insein und seinen Eigenschaften abhängig. Ob er es beachtet oder nicht, der Mensch ist von dieser "zweiten" Wirklichkeit durchwoben. Diese Ueberzeugung ist dem Verfasser aus dem Erfahrungsmaterial religiöser Erkenntnisse und mystischer Kernerlebnisse in seiner psychotherapeutischen Privatpraxis und in der Psychosomatischen Sprechstunde der Medizinischen Poliklinik erwachsen. "So kann denn", schreibt er, "die Frage nach dem Metaphysischen nicht länger eine ausschliesslich philosophische und theologische Frage bleiben. Es handelt sich hier im Gegenteil um eine der wesentlichsten Grundlagenfragen jeder theoretischen, praktischen und angewandten Naturwissenschaft der kommenden Jahrzehnte... Es liegt in der Verantwortung der Naturwissenschaft, auch wieder Trägerin des Metaphysischen zu werden und sich diesem lange vernachlässigten Gebiet erneut mit aller gebotenen Sorgfalt zuzuwenden. Was dann das Metaphysische ausserhalb der Natur noch ist, bleibt Kernfrage von Philosophie und Theologie und liegt als solche nicht mehr im Bereich der Naturwissenschaft (1)."
Dem Prinzip des Unsichtbaren im Sichtbaren, dem "grossen finalen Eins", hat Staehelin die Bezeichnung "Ftan" gegeben, um einen Arbeitsbegriff zu bekommen, der durch keine Assoziationen zu bereits bestehenden Ausdrücken des Göttlichen voreingenommen oder verbildet ist.
Das "Ftan" erfahren wir am besten an einem Fallbeispiel Staehelins: Eine 31jährige Frau hatte die Verbundenheit von Raum, Zeit, Ewigkeit und allem Seienden nach einer Geburt erlebt. "Ich war verbunden mit meinen Urahnen wie mit allen zukünftigen Menschen meiner Familie, verbunden mit allen Menschen und allem Lebendigen und Lebenden überhaupt, hineingestellt, Teil eines Unendlichen... Die Zeit stand still, oder ich stand über der Zeit, ausserhalb. Ich hatte weder akustische noch optische Halluzinationen.
Alles war Wirklichkeit, aber eine überhöhte, ideale und tiefe Wirklichkeit meines Seins, meines Lebens im Ganzen. Ich war von verschiedenen Sphären durchdrungen: von der menschlichen - der psychischen wie der physischen - und von der übernatürlichen.
Ich wusste in jedem Moment, dass ich das bin, die dieses sakrale Erlebnis hat, und es schien mir selbstverständlich. Es machte glücklicher als glücklich... ES war reine Mystik. ES war erdnahe, trotzdem. Es war beides zusammen und überhaupt unbeschreiblich schön, tief, sakral, es liess mich zurück in einem Gefühl demütiger Liebe und starker Verantwortlichkeit allem Leben gegenüber und im Bewusstsein, einen Moment total gelebt und gesehen zu haben... Die allereuphoristischsten Worte würden nicht annähernd genügen, um ES einigermassen adäquat zu beschreiben" (S.20).
Danach unterscheidet Staehelin das dem Raum und der Zeit unterworfene mathematisch-geometrische Prinzip: 1+1=2; und das metaphysisch-mystische Prinzip: 1+1=1; diese 1 als metaphysische Einheit und als die grosse Eins verstanden. Der Mensch ist Seiender und Sein. Dieses Sein ist Teilnahme an der Wesensart der grossen Eins, des "Ftan" oder Gottes. Im Bereich der quantitativen "ersten" Wirklichkeit heisst es "Ich und Du"; im Hinblick jedoch auf die "zweite" Wirklichkeit ist zu sagen - was auch dem Geiste Christi entspricht -: "Ich bin Du". Hier bewegt sich der Mensch im überraumzeitlichen Einheitssein, mit allem Seienden, das je war, ist und sein wird.
Die komplexe Frage, wieso nun die westliche Welt sich so einseitig auf die "erste" Wirklichkeit reduzieren liess und so ausschliesslich nur nach analytisch quantitativen Methoden verfährt, erhellt Staehelin schlagartig durch Anführung der "Metalinguistik" des Sprachforschers Benjamin Lee Whorf (1897-1941). Danach sind in unserm westlichen Kulturraum nicht nur die Fangarme der wissenschaftlichen Methode, sondern auch die Hände der sprachlichen Ergreifung der Wirklichkeit nicht mehr naturgetreu oder realitätskonform. Kants apriorische Subjektivität mit ihrer deformierenden Veränderung des Erkannten, möchte man meinen, schlägt auf die Sprache durch.
Die vergleichende Linguistik stellt fest, dass eine Sprache nicht nur Instrument reproduktiver Wirklichkeitsvermittlung ist, sondern dass vielmehr durch sie eben diese Wirklichkeit geformt wird. Wir gliedern die Natur in Formen auf, die uns durch unsere Muttersprache vorgegeben sind. Die Kategorien, die wir am Objekt herausheben, werden von unserem linguistischen System geformt. Unser Wissen von der Natur ist deshalb auf bestimmte Interpretationsweisen beschränkt. Phänomene, die sich dem hartnäckigen "gesunden Menschenverstand" von gestern entziehen, können dennoch wirklich sein.
Unsere Denkweise sieht das Universum in einem statischen, dreidimensionalen Raum und in einer gleichförmig ewig-fliessenden Zeit, d.h. in zwei völlig getrennten Aspekten. Im Gegensatz zu dieser typisch neuzeitlich westlichen Auftrennung von Raum und Zeit ist, nach Aristoteles, die Zeit das von einem räumlichen Körper abstrahierte Mass seiner Bewegung, was eine Raum-Zeit-Einheit bedeutet. - Dies als Ergänzung zu Whorfs Ausführungen. - Whorf macht nun einen aufschlussreichen Vergleich mit exotischen Sprachkulturen, die bisher noch nicht mit unserer westlichen Welt in Berührung gekommen waren. Die nordamerika- nischen Hopi-Indianer kennen in ihrer Philosophie die universalen Kategorien von "manifestiert" und "unmanifestiert". Das "Manifestierte" umfasst das den Sinnen zugängliche historische und physikalische Universum, aber mit Ausschluss der Zukunft. Das "Unmanifestierte" betrifft die Zukunft und das Reich des Subjektiven: das Denken, Fühlen, Streben, Wünschen, das Reich der Erwartung als dynamischen Zustand.
Hier fragt sich Staehelin, welche Kategorien und Begriffe wir in unseren westlichen Sprachen anführen müssten, um etwas Derartiges zu fassen. Nun, es gibt, wenigstens in der aristotelischen Philosophie, eine Entsprechung dazu, ein "Manifestiertes" und "Unmanifestiertes" umgreifendes System: das Begriffspaar Energeia und Dynamis oder Akt und Potenz, eine synthetische Erfassung des aktuellen und potentiellen Aspektes am kosmisch oder kreatürlich Seienden. Dieses ist in seinem Dasein als bedingtes Potentielles oder Kontingentes nur begründet durch die Immanenz oder durch das "Einheitssein" mit dem unbedingten Absoluten (Actus purus), auf das es finalistisch angelegt ist (2).
Der Aspekt des Aktuellen und Potentiellen entspricht nun wirklich jener "Facette" metaphysischer Erkenntnis, die seit Descartes und Kant, dem positivistisch-naturwissenschaftlichen Auge des zivilisierten - im Gegensatz zur Antike und den Exotisch-Primitiven - verlorengegangen ist. Die gültige und ontologisch wichtigste Kategorie des Akt-Potentiellen ist im Unterschied zu Ungültigem, von den Griechen Platon und Aristoteles her, kritisch und hermeneutisch nach- und weiterzuführen.
Whorf weist auf die spezifische Einseitigkeit der westlichen Sprachen und ihr Zerschneiden der natürlichen Gesamtwirklichkeit hin. Das auftrennende analytische Verfahren wurde, wenn nicht hervorgerufen, so doch bestärkt, durch die unkontrollierte Begeisterung über die empirische Forschung. Bereits vor Descartes ereignete sich in der Spät-Scholastik (Suarez) die Verdinglichung der ontologischen Aspekte des Aktuellen und Potentiellen als ens et ens (Seiendes und Seiendes). Handelt es sich jedoch wie hier um konstitutive Prinzipien, dann gilt nicht 1+1=2, sondern es kann wiederum nur heissen: 1+1=1, d.h. der aktuelle und potentielle Aspekt eines Seienden. Der Zerschnitt des Ineinanders von Aktuellem (Seele) und Potentiellem (Leib) gefährdete (unbeabsichtigt) die innere Dynamik oder Finalität des Seienden zum Sein und damit auch das organische "Einheitssein" oder die Immanenz des kontingent Seienden im Notwendigen Sein, oder des relativ Seienden im Absoluten Sein. Staehelin, der eher von allem andern als von der aristotelischen Scholastik kommt, partizipiert nichtsdestoweniger an der einmaligen Intuition des Aristoteles, nach der das "Einheitssein" von analytisch experimenteller Wahrheit und metaphysischem Denken erkannt und verwirklicht wird, gegen den psychosomatischen Dualismus und Reduktionalismus einer zeitgenössischen Naturwissenschaft und Medizin.
Für das, was hier in ontologischer "Stenographie" abstrakt und vielleicht deshalb nicht einleuchtend dargestellt wurde, bietet Staehelin mit folgendem Satz eine verblüffend einfache, illustrierende Konkretisierung: "Ein Mann geht, sieht und trifft eine Frau, und es kommt zu einer Begegnung" (S.43). Herausgehoben werden hier ein isolierter Zeitpunkt, vereinzelt Personen, die sich sogar in der Begegnung nur gegenüberstehen.
Wie gut versteht es doch die "seltsame Gabe" unserer Sprache, positivistisch das Phänomenale der "ersten" aus dem Gesamtnaturhaften der "zweiten" Wirklichkeit herauszuschälen, während - gesetzt der Fall, dass die beiden sich lieben - der Himmel über ihnen sich öffnet und ein unbegrenzter Zustand oder die Ewigkeit sie umschliesst. In dieser Aussage fehlt das unmanifestiert Subjektive, weil, wie in so manchen Fällen, in denen die "zweite" Wirklichkeit erwähnt werden müsste, dieses auf die "erste" reduziert wird.
Von Staehelins anschaulichem Beispiel aus wird nun auch die aristotelische Ontologie des akt-potentiell Seienden einsichtig. Machen wir die Probe. Der Mann und die Frau sind beide nicht nur das nach unseren Sinnesorganen Manifestierte oder Aktuierte, sondern auch das Unmanifestierte, Subjektive, Potentielle. Aber auch wenn ihr Subjektives vom Bereich des Unmanifestierten in den des nach aussen Manifestierten übertritt - gegebenenfalls durch die Umarmung -, mag immer noch als Unmanifestiertes ihr Wunsch und Streben nach dem Göttlichen bleiben. Aristotelisch ausgedrückt: Mann und Frau sind beide je ein Aktuelles im Potentiellen. Aber auch nach dem Uebertritt von der potentiellen in die aktuelle Vereinigung bleiben sie immer noch in einem andern Sinne Aktuelles in Potenz, nämlich auf den Final nie einholbaren Actus purus oder das Absolute hin, das in der Vereinigung der zwei Bedingten als unbedingter und immanenter Weltgrund erscheint und diese Vereinigung erst ermöglicht und trägt. Auch nach der Philosophie des transzendierenden Subjektes (K. Rahner) ist der Mensch unbegrenzt offen auf den universalen Horizont des Seins, auf die unumgreifbare Wirklichkeit Gottes hin.
Staehelins Beispiel kann als Modell unzähliger analog je ähnlicher und verschiedener Polaritäts- oder Abhängigkeitsverhältnisse gelten, in denen das Absolute aufleuchtet.
Was Aristoteles auf seine Weise vor mehr als zweitausend Jahren aufzeigte, entdeckt Staehelin in seiner klinischen Erfahrung: "Das entscheidende Charakteristikum jeder Begegnung ist, dass sie ihrem Wesen nach unausweichlich immer eine neue und in dieser Form noch nie dagewesene Darstellung des metaphysisch-grossen Eins, des Trinitarischen in unserer ,ersten' Wirklichkeit potentiell ermöglicht."
Staehelin nennt diese universal sich bestätigende Erfahrung: das Ftan-Gesetz. Ueberall und in allem - seien es nun Elemente oder Dinge, Menschen oder Gedanken -, wo zwei oder mehrere gegenseitig sich Bedingende zusammentreten, ergibt das nicht nur eine Addition, eine Summe, sondern etwas Neues, eine Manifestation des grossen Eins. (Ich denke hier unwillkürlich an das Wort Christi: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" Mt 18,20 - als Unbedingte Liebe).
In der Begegnung (Polarität) sind die Teile nicht mehr dieselben wie vorher: eine Veränderung hat stattgefunden. Dabei erwächst das Bedürfnis, wenn es Personen sind, als entscheidenden Inhalt und wichtigste Information die Manifestation des grossen Eins und seine Eigenschaften bei den Beteiligten so bewusst als möglich werden zu lassen. "Gott, das Unverfügbare, das grosse EINS - christlich gesprochen: Vater oder Sohn oder Hl. Geist -", schreibt Staehelin, "will menschlich individuell möglichst bewusst gelebt werden... meist aber verschliessen wir uns dieser immanenten Chance oder setzen uns mit allen möglichen Mitteln dagegen zur Wehr" (S.172).
Ausser an das Beispiel der grossen Liebe erinnert Staehelin an die Vertrauensbeziehung zwischen Patient und Arzt. Er schreibt die Heilung weniger der materiellen Ursächlichkeit oder einer gewissen Technik zu als dem Metaphysischen, der Ausgestaltung des Absoluten, das sich in der Begegnung ereignet. Als weitere Beispiele werden die tiefe Mutter-Kind-Beziehung und das Lehrer-Schüler-Verhältnis erwähnt. Aber auch Begegnungen sachlicher Art bewirken im Menschen das grosse Eins: wie Kontakte unter Konfessionen, Rassen, Ideologien, oder mit der Technik, mit Glück, Leid, Krankheit, mit einer Entscheidung und schliesslich mit dem Tod. "Das letzte und höchste Einswerden durch Begegnung ist das immer ausgereiftere, artikuliertere, bewusstere Begegnen und Einswerden mit dem grossen Finalen - mit Gott - und seinen Eigenschaften" (S.179). Zu jeder Begegnung gesellt sich eigentlich ein Drittes, zum menschlichen Paar die Liebe, zu dem in den Fluten Versinkenden der Schrei, als geheimnisvolles Verfasstsein im dreieinigen Gott.
Staehelins Entdeckung des Trinitarischen im Bereich des Anthropologischen ist Komponente einer universalen Erfahrung. Der Kosmos mit seinen Elementen, das Licht in seiner farblichen Ausfaltung und die Tonkunst weisen viele triadische Strukturen auf. Uns am nächsten steht der menschliche Leib mit seinem triadischen Baustil. Unsere Organe, beispielsweise, entsprechen dem erkenntnismässigen Gleichheitsverhältnis zwischen Vater und Sohn und ihrem dynamischen Ausfluss im Geist.
Eine Analogie zu diesen göttlichen Relationen vermögen wir in den beiden dem menschlichen Erkennen dienenden zerebralen Hemisphären und in ihrer gemeinsamen motorischen Ausstrahlung im Rückenmark zu erkennen. Gleichförmigkeit besteht auch zwischen beiden der Sinneserkenntnis dienenden Gesichts- und Gehörorganen, aus deren empfangenden und tätigen Hingabe - an die Geistbewegtheit der Pfingstrede erinnernd - der sprachliche Ausdruck hervorgeht.
Gleiches gilt auch von den beiden tonerzeugenden Stimmorganen und der Zunge, die seit der Geistsendung am ersten Pfingsttag das feurige Zeichen des Hl. Geistes ist. Aus beiden Atmungsorganen geht der lebenerzeugende Atem hervor, wie es umgekehrt heisst, dass der Lebensodem vom Schöpfer dem ersten Menschen in die Nase geblasen wurde (Gen 2,7). Gleichförmigkeit besteht ferner auch zwischen beiden Keimanlagen des Mannes, deren gemeinsamer Ausfluss die zeugende Liebe ist. Dem entspricht auch, sowohl durch seine äussere trianguläre Erscheinung als auch durch seine innere Organik, der weibliche Schoss. Dieser und die Brust versinnbilden wiederum das "göttliche Dreieck".
So ist auch das leibliche, organische Leben des Menschen in seiner physiologischen Veranlagung und Funktion als geheimnisvolle Entsprechung zum dreieinigen Leben Gottes ein Ausdruck der Einwohnung Gottes im Menschen (3).
Unter der Devise Werner Heisenbergs "Gott ist in der Welt und im Ich anwesend" beschäftigt sich Staehelin mit den Vorstössen der verschiedenen Wissenschaften ins Reich der Metaphysik: mit der Physik, der Psychologie, der Soziologie, der Medizin, der Musik und Kunst (Inge Borkh, Willi Fries). Mit H.Ch. Günzel, Leo Gabriel und dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz verfolgt der Autor ein "neues integrales Denken", indem er den finalen Charakter des Welt- und Menschenbildes aufzeigt. Staehelin, der sich als Christ bekennt, entwickelt jedoch keine spezifisch christliche Weltsicht, obwohl diese in Affinität zu seinem Erleben steht und erwünschte Präzisierungen bieten könnte.
Indem nach christlicher Auffassung alles, Materielles und Geistiges, Schöpfung des einen und selben Gottes ist, weist auch das Verschiedene, von der einen Ursache her, innere Aehnlichkeit und Gemeinsamkeit auf. Dass Materie und Geist nicht nur Verschiedenes, sondern auch Gemeinsames sind, zeigt sich am deutlichsten in der Einheit des Menschen. Materie und Geist bestehen nicht dualistisch nebeneinander, sondern ineinander. Diese Einheit bedeutet zwar nicht Einerleiheit, wohl aber finalistische Grundtendenz der Materie, die im Geiste sich selbst transzendiert, ähnlich wie der Mensch als Materie und Geist transzendiert und in Gott erst zu sich selber kommt und sein gnadenhaft Eigentliches findet (K. Rahner).
Staehelin weist auf moderne Physiker wie Einstein, Planck, Heisenberg, von Weizsäcker, Heitler und Jordan, nach denen bereits der Bereich des Quantitativen und Zahlenmässigen über das Mechanische hinaus an höhere Verstehensprinzipien ins Geistige verweist.
In Experiment Michelsons liessen sich Lichtgeschwindigkeit und Bahngeschwindigkeit nicht addieren. Danach gibt es sogar im materiellen Kosmos Phänomene, die nicht nach dem Prinzip 1 + 1 = 2 verlaufen, sondern nach dem , das quantitativ-mechanische transzendierenden Rätselhaften 1 + 1 = 1. Was also die materielle Welt zusammenhält, ist bereits unmechanisch, unanschaulich. Materie ist, genau gesehen, eben schon mehr als "Materie". So wie im Menschen der Geist sich als materiebezogen erweist, ist auch die Materie schon im Kosmos derart geist- oder intelligenz- bezogen, dass sie nur vom Geiste her verständlich ist. Geist ist die Aktuierung jener Potenz Materie, die sich auf den nie einholbaren Geist hin entwickelt und vervollkommnet. Der Uebergang ins Neue, ins Wesenshöhere ist ein kreativer Sprung, der noch unerlässlicher als das gewöhnliche Wachstum eine seinsschaffende Allmacht voraussetzt. Der preisgekrönte Physiker Walter Heitler vermag die zunehmende Vergeistigung in den aufsteigenden Bereichen der Natur als innere Ausrichtung auf jene gnadenhafte Verklärung des Auferstehungsleibes zu sehen (4).
"Was Materie ist", schreibt Karl Rahner, "kann nur vom Menschen her gesagt werden, und nicht umgekehrt, was Geist sei, von der Materie her" (5). Mensch sein bedeutet aber finalen Verweis auf das Universale, auf die absolute Ganzheit. In dieser finalen Struktur liegt die gnadenhafte Möglichkeit der "Gottwerdung" des Menschen und der Menschwerdung Gottes. Damit ist die Materie als äusserster und spannungsreichster Beziehungspunkt in diese deszendente und aszendente Bewegung aufgenommen. Die Kernenergie gibt uns modernen Menschen eine Ahnung von der äussersten nur schon physikalischen Spannungs- und Hingabekraft der Materie.
Nachdem Gott die absolute Selbsthingabe oder Liebe ist, besteht auch das Wesen des Menschen in seiner Offenheit und in seiner hingebenden Haltung auf Gott und alles Göttliche hin. Dies gilt auch vom materiellen oder leiblichen Aspekt des Menschen mit seinen Beziehungen zur mitmenschlichen und mitkörperlichen Umwelt des Kosmos.
Von da aus wird nun auch das Wesen der kosmischen Materie als Hingabe und Dienst einleuchtend. Ihr eigentliches Wesen besteht in einem "Dienstleistungssystem", das - vom Spannungsträgerdienst im elektrischen Strom bis zu den Kernexplosionen der Sonne mit ihren Verbrennungs- und Zerstrahlungsvorgängen - als Symbol der liebenden Hingabe gelten darf.
Sogar Erdbeben und andere Naturkatastrophen zeugen nicht gegen das an sich Grossartige des Naturgeschehens. Dass die Menschen dadurch Schaden erleiden können, ist akzidentell; im übrigen sollte ein den Menschen gefährdendes Naturereignis sein Bewusstsein für die von ihm verursachten moralischen Katastrophen schärfen.
Final geistig erscheint die Materie schliesslich noch und ganz besonders durch die in ihr von Gott gewirkte Kreativität. Das gilt schon im atomaren Geschehen, in dem die Elementarteilchen von einem geheimnisvollen Urgrund her, aus einem potentiellen Zustand erzeugt, wiederum entwirklicht oder in anderen Teilchen mit ganz neuen Eigenschaften umgewandelt werden (6). Ist schon das Mikrogeschehen kreativ, dann um so mehr jene grossartige Anagenese (Hinaufentwicklung) bis zum Menschen. - Und das alles sowohl durch Eigenkausalität der physikalisch-chemischen Kräfte als auch und vor allem durch den transzendent göttlich kreativ wirkenden Seinsgrund, der das ganze Geschehen trägt und, ohne die kreatürliche Eigenständigkeit aufzuheben, stets allmächtig umgreift.
Unter den in Richtung Metaphysik oder spirituell Ewigem vorstossenden Psychologen würdigt Staehelin C.G. Jung als den "genialen Weiterentwickler des Freudschen Psycheverständnisses", der den "grossartigen Begriff des kollektiven Unbewussten" geprägt hat. Indessen glaubt unser Autor mit Recht in Jungs Psyche-Verständnis eine Verstelltheit und Gebrochenheit dem Absoluten gegenüber feststellen zu müssen. Tatsächlich wollte Jung, wohl im Rahmen des herkömmlichen Subjektivismus Kants, seine Erkenntnisse des Göttlichen nie als Aussagen über ein Metaphysisches an sich, sondern nur als Realität an der Menschenseele verstanden wissen. Das lässt sich schon aus der Jungschen Terminologie des "göttlichen Archetyps" erkennen. Staehelin kritisiert gerade daran die Relativierung Gottes ins Kategoriale oder Dingliche.
Der Patient werde auch nach Jung nicht wirklich geheilt, solange er seine religiöse Einstellung nicht wieder erlangt habe. Diese könne aber nicht durch eine dualistische Gegenüberstellung oder Bezogenheit zwischen Gott und Mensch - der leider auch das Wort Re-ligion Vorschub leiste - sondern nur im vollkommenen Einheitsein verwirklicht werden. Auch nach J. Rudin, den Staehelin zitiert, spricht Jung nicht vom Gott der Offenbarung und noch weniger vom Gott der Philosophen; er beschäftigt sich allein mit dem Gottesbild, wie es in der Seele angelegt ist. Jung stand zwar einer nur logischen Verstandestheologie skeptisch gegenüber. Er sprach von Symbolen und, wie unser Autor meint, glücklicherweise auch wie diese im praktischen Alltag des Menschen wirksam sind, ohne jedoch das dualistische Weltverständnis des abendländischen Sprachgebrauchs zu durchbrechen.
Als eine Parallele zu seinen wissenschaftlichen Bemühungen und Publikationen betrachtet Staehelin die "Metapsychiatrie" des amerikanischen Psychiaters Stanley R. Dean. Dieser schliesst unter dieser neuen Bezeichnung nicht nur die Parapsychologie, sondern auch alle andern übersinnlichen, überrationalen, auch alle sogenannten übernatürlichen Manifestationen ein. Er spricht von der Notwendigkeit, diese wissenschaftliche Basis für solche Phänomene zu setzen und ihre Bedeutung zugunsten der Menschheit zu erkennen.
Seiner Ansicht nach sei eine interfakultäre Zusammenarbeit absolut notwendig. "Wir müssen stark und sicher sein, um diesen Zustrom von neuen Energien und Ideen zu begrüssen. Wir haben zu wählen zwischen den Möglichkeiten einer Museumsausstellung von Fossilien einerseits und eines lebendigen, vorwärtsschreitenden Konzepts anderseits" (Zit. nach St. S.33).
Die Dachorganisation der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie hat 1973 diesen Forschungsvorschlag gutgeheissen und mit Hilfe von grossen Forschungsteams und erheblichen Forschungsgeldern die American Metapsychiatrie Association gegründet. Seither erstreckt sich eine erweiterte systematische Forschung auf aussersinnliche Wahrnehmungen, Biofeedback; christliche und ausserchristliche Meditation, transzendentale Meditation; psychedelische Experimente; ausgewiesene Photographien von heiligenschein-ähnlichen bioenergetischen Ausstrahlungen; naturwissenschaftliche Wiederaufwertung echt religiöser und mystischer Bewusstseinszustände (S.34). Von dieser Forschung verspricht man sich eine wesentliche Ausweitung unseres Wissens über den menschlichen Geist.
Was an der Universität wissenschaftlich ernstgenommen und erforscht wird, hat nach bisheriger Erfahrung immer noch, als Ferment, einen starken Einfluss auf das öffentliche Leben ausgeübt. Staehelin wundert sich nicht, dass bis heute weder von der ametaphysischen politischen Rechten noch von der ametaphysischen politischen linken her sinnvolle Programme und erspriessliche Evolutionen erfolgt sind. Auch ein "christlicher" Sozialismus werde nicht mehr Chancen haben, wenn man nicht die metaphysische Dimension der "zweiten Wirklichkeit" bejahe und zum Hauptanliegen jeder angestrebten Rechtsgleichheit mache. "Die drei Schlagworte der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - können nur dann der Natur und den Bedürfnissen der Menschen entsprechend dauernd verwirklicht werden, wenn das uns allen innewohnende Metaphysische mit seinen spezifischen Attributen mitberücksichtigt wird" (S.30).
Der königliche Weg zur menschlich erfahrbaren metaphysischen Dimension ist schliesslich die Meditation. Um seine Forschungsarbeit nicht nur auf die eigenen Meditationserfahrungen und die seiner Patienten zu stellen, gründete Staehelin aus Teilnehmern beiderlei Geschlechts, aus den verschiedensten Konfessionen, Berufsgattungen und Lebensarten, eine Meditationsgruppe. 2-13 Personen, ohne enge Beziehung, einander vertrauend, unvoreingenommen und tolerant, treffen sich alle zwei Wochen für die Dauer von eineinhalb Stunden. Weil die Gruppe forschungsmässig nach der naturgemässen Inwendigkeit der Seele frägt, spricht Staehelin von einer naturwissenschaftlich- meditativen Gruppenarbeit.
In den Sitzungen hat sich zeitlich eine Dreiteilung heraus- kristallisiert: 20 Minuten Schweigen, Stillsitzen, jeder nach seiner Methode, Sichentspannen, Sichhingeben. - Die hierauf folgenden 50 Minuten sind der freien, unvoreingenommenen Erfahrungsäusserung gewidmet. - Dann folgt nochmals eine Meditation von 20 Minuten. 5 Mitglieder äussern sich ausführlich über ihre Meditationserlebnisse: Dr. phil. Hans Geyer, Verena Witz, Dr. phil. Max Schäppi, Lina Gauthier, Dr. iur Andreas Zschokke. Die Erfahrungen wären einer eigenen Betrachtung und Analyse wert, die hier nicht möglich ist (S.91-161). Die Mitglieder werden von einander, aber auch zu einander erlöst. Die antagonistische Erstarrung der Vorstellungen und Begriffe weicht der Verständigung. Differenzen werden zweitrangig (H.F. Geyer). Die innere, religiöse Erfahrung wird der äusseren, naturwissen- schaftlichen gleichgestellt. Die Ganzheit ist in uns, sie muss nicht erst von uns gemacht werden (M. Schäppi). Enttäuschung und Schmerz werden überwunden (V. Witz). Die Meditation schenkt Sicherheit und Stärkung (L. Gauthier). Das Alltagsgeschehen tritt zurück; es findet seinen Platz im Universum der Seele und kommt zur Ruhe (A. Zschokke).
Gerade weil der Mensch ins Offene ragt, sind seine geistigen Zuflüsse in der Meditation von Fall zu Fall kritisch zu sichten. Diese können aus dem kollektiven Unbewussten, aus einer Art "Weltseele" (Platon), und aus Gott fliessen. Die grossen Mystiker selber unterzogen sich anhand differenzierter Kriterien einer strengen Selbst- und Fremdprüfung.
Die Erkenntnis Gottes, so darf man mit K. Rahner sagen, hat ihre Geschichte, und die Geschichte ist im letzten und tiefsten das Ereignis der Erkenntnis Gottes oder der Religion. Diese hat zwei Seiten: eine innere und eine geschichtliche, die sich schliesslich konfessionell auswirkt. Beide sind notwendig, und hängen von einer ab, damit überhaupt Religion sei. Beide Seiten haben eine gewisse Variabilität in ihrem gegenseitigen Verhältnis.
Selbstoffenbarung Gottes kann es zu allen Zeiten geben. Wo durch das Ausserordentliche des Offenbarungsträgers und seiner Wirksamkeit das Sprechen Gottes besonders legitimiert wird, haben wir die partikuläre und institutionell verfasste "Offenbarung", die ihren besonderen Platz in der Welt- und Religionsgeschichte einnimmt (S.7).
Um Staehelin zu verstehen, muss man besonders die innere Seite der Erkenntnis Gottes beachten. Jeder geistige Erkenntnisakt ist durch seine Entschränktheit auf die unbegrenzte Weite der Wirklichkeit charakterisiert. K. Rahner nennt dieses Mitbewusstsein des erkennenden Subjekts die transzendentale Erfahrung. Sie wird transzendental genannt, weil sie als spezifisch-menschlich-geistige Erkenntnis im Ueberstieg über pratikuläre Kategorien oder über unsere übliche Gegenstandswelt besteht. Mit ihr ist dem Menschen ein wenn auch noch unthemaisches, gleichsam anonymes Wissen von Gott gegeben. Somit hat die ursprüngliche innere Gotteserkenntnis nicht den Charakter eines sich von aussen zufällig meldenden Gegenstandes, sondern stellt eine innere, ungegenständliche Erhelltheit des Woraufhin und Wovonher des Subjektes dar (S.8).
Ob und wieweit sich Gott in seiner eigensten Wirklichkeit dem Meditierenden mitteilt, lässt sich von aussen nur schwer feststellen und hängt je eingehender sie ist, je mehr von nicht leichten Bedingungen ab. Von sich aus räumt Gott dem Menschen die Möglichkeit ein, seine Selbstmitteilung in Glaube, Hoffnung und Liebe so zu hören, dass sie nicht verborgen, sondern als Selbsterschliessung Gottes vernommen werden kann. "Denn Gott trägt durch sich selbst - den Menschen vergöttlichend - den Akt des Hörens, der Annahme der Selbsterschliessung und Selbstmitteilung mit (S.9)".
In einem wertvollen Kapitel (S.63-90) entwickelt Staehelin ein "meditatives Körpertraining" als "psychosomatische Basistherapie". Die Erhebung des Geistes wird durch Einführung in die rhythmische Betätigung des Leibes zur ganzmenschlichen Verwirklichung. Diese Anleitungen überzeugen um so mehr, als sie unter Wahrung der persönlichen Freiheit und Spontaneität zu keinem Ritual werden. Der Autor berichtet Erstaunliches über sogenannte "Geistheilung".
Eine besonders praktische Bedeutung für den Alltag liegt in der Anregung des Autors zu einer allgemein praktikablen, kostenlosen Therapie. Die Einladung geht an Aerzte, Seelsorger und Psychotherapeuten, in meditativen Selbsterfahrungsgruppen individuelle Anstrengungen zu sammeln und zu stützen. Anstelle eines Honorars oder Geschenkes "schenkt jeder sich selber, seine Zeit, seinen Einsatz, seine Kritik und Herzlichkeit" (S.161). Das herausfordernde Buch richtet sich aber auch an alle jene, die sich der heutigen Kulturkrise bewusst sind und vielleicht selbst darin stehen. Dieses Werk schliesst vor allem den hermeneutisch längst fälligen, millenären Kreis einer grossen Philosophie der Griechen und lässt in einer theologisch grossen, aber auch kargen und verdüsterten Zeit, mitten aus der weltlichen Welt des modernen medizinischen Alltags, eine geniale Phänomenologie des Trinitarischen aufleuchten.
Zu beherzigen ist Staehelins Kritik an einer gewissen dualistischen Vorstellung von Gott und Mensch in der offiziellen kirchlichen Welt, die, anstatt zur Einheit zu führen, trennt. Ein "metaphysisches Gesundheitsverständnis" muss ferner den 300jährigen Graben zwischen Theologie und Naturwissenschaft überbrücken.
Wir leben in Raum und Zeit. Die neulich entdeckte Mikro- und Makro-Welt verweist uns jedoch aus unsern vier Wänden in ein Ueberraumzeitliches und in das Einheitsein mit jedem andern Du. Unser Dasein der "ersten Wirklichkeit" enthält den finalen Verweis auf unser Dortsein der "zweiten Wirklichkeit", dem es immanent ist oder einwohnt. So wird Daseinsanalyse zur existentiell unentbehrlichen Lebenssynthese mit der Transzendenz.
Anmerkungen:
Zum Schluss sei noch konkret auf die Ontologie aus dem Leben und für das Leben verwiesen. Ein sprechendes Beispiel ist das soziale und politische Leben, aber seine Antithetik ist ohnehin schon eklatant. Ebenso gefährdet ist der Mensch im Milieu der heutigen Technik, die nicht an sich, aber in ihrer Handhabung fragwürdig ist.
Zunächst eine grundsätzliche Feststellung: der Mensch ist nicht absolut, er lebt aus der Polarität oder Nicht-Identität mit seinem Milieu. Das Experiment wurde gemacht: die Versuchsperson wurde auch von den feinsten Umwelteinflüssen isoliert. Nach wenigen Minuten treten Panik und Halluzinationen auf. Nach 7 Minuten sind Hormon- und Nervensystem zerrüttet. Nach 10 Minuten muss man den Versuch abbrechen, weil das Blut sich zu zersetzen beginnt (1).
Der Mensch lebt weder von der Identität noch vom antithetischen Gegensatz, sondern von einer Potentialdiffernz, die nach einer gewissen Balance, einem spannungsvollen Ausgleich, einem akt-potentiellen Verhältnis mit seiner Umwelt verlangt. Dabei transzendiert der Organismus in all seinen Prozessen - wie der Mensch im Akt des Glaubens - durch Entsicherung, durch Ablösung von sich selbst und Preisgabe an den andern Pol. Schon bei jedem Schritt auf der Strasse müssen wir uns fallen lassen, nicht um zu fallen, sondern um aufgefangen zu werden. Jeder Lebensprozess kennt das Risiko der Potentialität, der gesicherten Unsicherheit, das Wagnis der Ungewissheit; ohne diese bleibt man identisch auf der Stelle stehen.
Durch die Technik läuft nun der Mensch Gefahr, die Organprozesse zu nivellieren, so dass das Spannungsgefälle in Richtung Identität abgebaut wird. Zur Lichtempfindung gehört beispielsweise das Spannungsfeld, die Potentialdifferenz Hell-Dunkel. Ohne diese kommt es zu schweren physiologisch- seelischen Schäden. Während die Goethezeit bloss 150 Lux und das für Akt und Potenz symbolisch so bedeutsame Hell-Dunkel Rembrandts sogar nur 60-100 Lux kannte, benützen wir heute 1000 Lux. Ein Schulhaus in New-York (1967) wurde durch eine schattenlos geführte Ausleuchtung zur "weissen Hölle". Lehrer und Schüler wurden schwer neurotisch: Flucht der Identität, durch unorganische Konstanz und Gleichförmigkeit.
Auch in den künstlich schalltoten Räumen ermangelt die Technik der potentiellen Einstellung auf den Menschen. Die Funktion des Ohres ist auf ein entsprechendes Potentialgefälle angewiesen. Kehrt die von den Wänden verschluckte Stimme nicht mehr zurück, erleidet das Kind Gleichgewichtsstörungen.
Kinder verschaffen sich gerne das Erlebnis des Echo. Sie rufen in einen Schacht hinein und warten in beklemmender Stille auf Antwort. In der Höhle bei Syrakus, die als Ohr des Dionysos galt, oder in den Höhlen der mexikanischen Mayabauten war das Warten auf die Wiederkehr des Rufes eine symbolische Grunderfahrung religiöser Entsprechung und Transzendenz. So erlebt das Kind auch das Ballspiel oder das Schwingen auf der Schaukel als Gleichnis. Nur durch zwei gegenläufige und doch aufeinander abgestimmte Bewegungen bringt der Schaukelnde sich selbst in Schwung: man zieht mit den Händen rückwärts und drückt mit den Beinen vorwärts.
Der menschliche Organismus ist ein Potential, das aktuiert werden muss. Das Leben lebt vom Reiz; aber dieser darf weder zu stark noch zu schwach sein, d.h. er darf weder antithetisch verletzen noch in Identität und Konformität aufgelöst werden. Fehlgesteuerte Technik und Bedürfnisse der Organstruktur stehen in antithetischem Konflikt anstatt in akt-potentieller Wechselwirkung.
Das gesunde Leben bedarf der prozessauslösenden Zustandsunterschiede als Provokation der Bewegungs- und Sinnessysteme. Organologisch anregend ist nicht nur die Inkonstanz der Licht-, sondern auch der Raumführung durch abgestufte Böden und Wände.
Das organisch aufeinander angelegte Hin und Her des Spiels und der Liebe ist für die Gesundheit des Kindes und des Erwachsenen so wichtig, weil es Entsprechung und Erfüllung des potentiellen und polaren Charakters der universalen Weltordnung darstellt. Die Krebserkrankung ist ein monoides, nur auf sich selbst bedachtes Identitätsverhalten der Einzelzelle, Welches das Zusammenspiel des Zell- und Organverbandes blockiert. Die Biologie führt bekanntlich ihre Elementarvorgänge auf die End- und Exosmose und die Physik auf das Auf und Ab der Schwingungen zurück. Im auf- und absteigenden Zickzack oder Dreieck symbolisiert der indische und universale Mythos die Einheit von Himmel und Erde und aller Gegensätze. Die dem indischen Yantra verwandte Chiffre bildet die älteste Hieroglyphe für Wasser, das nach dem Mythos als himmlischer Same die Vermählung und Fruchtbarkeit von Himmel und Erde darstellt.
Kreatürliches Leben ist balancierende Einheit in der Unterscheidung. Selbst die Wahrheit ist kein statisches System, sondern ein dynamischer Prozess. Ueberall ist dem Menschen in den vielfältigen Spannungen die Balance oder die Analogie aufgegeben. Diese Balance ist für Mensch und Natur weder in einer antithetischen Verwilderung noch in einer durch die Technik nivellierten Umwelt zu halten.
Die durch das Identitätssystem der Klimaanlagen und der elektrostatisch egalisierten Betonbauten und Kunststoffe ausgelösten Verzerrungen in den synneurischen Ausgleichsprozessen stehen in analogem Verhältnis zu den Verzerrungen der dialektischen Ontologie. Und wie der Nationalökonom in der Welt des dialektischen Materialismus am Sorgenbett der Kollektiv- wirtschaft sich nicht mehr zu helfen weiss, so wird der Mediziner bei uns vor das Rätsel neuer Krankheiten gestellt.
Am bedrohlichsten ist heute die akt-potentielle Balance zwischen Mensch und Umwelt, Technik und Biosphäre gestört. Die für die Menschheit lebensgefährliche Antithetik besteht zwischen der weltumspannenden, karzinomhaften Wucherung der Wunsch- und Angebotsenergie der Zivilisierten mit ihrem falsch supponierten grenzenlos konstanten Reservoir an Rohstoffen und dem globalen Haufen von Müll und atomarer Abfallprodukte. Hier könnte tatsächlich das immanente Weltgericht zutreffen, das angemasste absolute Sein in das absolute Nichts umschlüge. Auch von der Nivellierung aller Zustandsunterschiede droht die totalisierte Einebnung der Lebensabläufe. "Si l'homme veut faire l'ange, il fait le bête" (Pascal).
Selbst im Bereich des Geistigen bleibt eine Institution nur dadurch gesund, dass sie sich permanent verformt. Das Geistige lebt in spannungsvoller Anpassung mit einer ihm gegenüber wirkenden Welt. Es verformt sich, um seine Form gesteigert zurückzugewinnen. Auch die sogenannte Lebenskunst besteht darin, sich anzupassen, ohne sich zu verlieren.
Hegel ist immer noch der heimliche Kaiser, dem sich leider sowohl die Welt des Ostens wie des Westens bewusst oder unbewusst weitgehend ergibt. So verblüffend es ist, die "graue" Ontologie war immer schon Schrittmacherin der Welt- und Kulturgeschichte. An uns ist es, zu wählen zwischen dem grausamen Spiel Hegelscher Dialektik und der organologischen, elastischen Energie der Potentialität, deren Waage und Gewichtswerte im wahren, transzendenten Absoluten verankert sind. In Gott allein vermag die Gestik des Geistes, der Natur und der Technik wieder heil zu werden.
Anmerkung: