II. TEIL

6. SPINOZA - VORLÄUFER VON KANT UND HEGEL

wenigstens was das in widersprüchlichen Gegensätzen sich entwickelnde Denken betrifft. Die Erscheinung der ineinander umschlagenden Gegensätze wird nicht nur im Westen beklagt. Der Tibeter Sogyal Rimpoché schreibt: "C'est de cet état de dissociation que s'élève la confusion" ("Aus der Aufspaltung erhebt sich die Vermischung"). (Sogyal Rimpoché: La guerison de la chair par l'esprit, in "Aurores" Paris, Mensuel No. 49,1985.)

6.1. Gottesbegriff und Weltschau in der Diskussion

Benedikt Spinoza, (1632 - 1677), gehört zu jenen Philosophen, deren letzte und höchste Zielsetzung eine Anweisung zum geistlichen Leben ist. Reichtum, Ehre und sinnliche Lust erklärt er als nicht imstande, uns eine dauernde Befriedigung zu verschaffen. Sein System gipfelt in der "intellektuellen Liebe" zu Gott. Diese und die daraus fliessende höchste Seligkeit ist die Frucht der philosophischen Erkenntnis Gottes. Unser Denker hat durch seine, ihm selbst von seinen Gegnern zugestandene erhabene Gesinnung und reine Lebensführung für diese Lehre das beste Zeugnis abgelegt.

Indessen stellen Methode, Auffassung und theoretische Formulierung, die ins Vieldeutige und Widersprüchliche abgleiten, eine nicht weniger seltsame Eigenschaft des spinozistischen Werkes dar. Weil diese wohl auch im Zusammenhang mit den dramatischen Lebensumständen Spinozas und seiner Ahnen stehen dürfen, sei an das Provozierende dieser Schicksale erinnert.

6.2. Vom Unglauben der Gläubigen und Glauben der Ungläubigen

Im Theologisch-politischen Traktat steht der Satz: "Kann man sich ein grösseres Unglück für einen Staat ausdenken, als wenn ehrbare Männer nur darum, weil sie anders denken und nicht zu heucheln verstehen, wie Verbrecher des Landes verwiesen werden?" (Zit. nach Gerd-Klaus Kaltenbrunner, 1977). Spinozas Vorfahren wurden durch die Inquisition von Spanien nach Portugal und von da über Frankreich in die Niederlande vertrieben. Weil manche seiner Ahnen unter dem Druck der dortigen Könige sich taufen liessen, wurden sie als abgefallene und gefährliche Scheinchristen, als Marranen, das heisst als "Schweine" qualifiziert. Im weltoffenen Amsterdam lag die Rückkehr zum Judentum nahe. Aber auch da wurden sie einer Reihe diskriminierender Einschränkungen unterworfen.

Von hier aus gewinnt man Verständnis für Spinozas liberale und kritische Haltung den jüdischen und christlichen Gemeinschaften gegenüber. Als 24jähriger wurde er aus der Synagoge ausgestossen. Psychologisch gesehen, musste im Verfemten ein starkes Bedürfnis nach persönlichem Eingreifen erwachsen; kein Machthunger, sondern die Menschheitsverpflichtung zur Ethik, zu einer umfassenden Ganzheitsidee.

Bereits die ersten Verlautbarungen des Philosophen verbinden die Erkenntnis der unendlichen Substanz (Gott) mit der vollkommenen Lebensfülle, die sich aus der Hingabe an Gott ergibt und sich im Drang zu einer weltbewegenden Ideenbildung auswirkt. Die Erkenntnis der Welt als einer Ganzheit erklärt bei ihm das Ineinandergreifen von Idee und Tat, Lehre und Leben, Eigenleben und Menschenbildung, das sich im gesamten Schrifttum Spinozas offenbart. Im Theologisch-politischen Traktat, in der Ethik und in den Briefen bricht überall dieser Wille zur Tat als einer Verpflichtung gegen die Menschheit, durch (St. von Dunin Borkowsky, Spinoza, 1932, S.19 ff).

6.3. Idealismus, Realismus und Tatwissen

Noch andere durch die Ahnen bedingte Aspekte kommen hinzu. In Spinozas Wesensgrund liegt das spanische Ringen zwischen Idealismus und Realismus mit seinen einseitigen Uebertreibungen. Dieses wird aber zugleich mit der weicheren, nach Ebenmass strebenden Geistes- und Gemütsrichtung des Portugiesen kombiniert. Zudem ist Spinoza vom jüdisch-aristokratischen Charakter der Sephardim geprägt. Das vielschichtige Ahnenbild dürfte etwas zur Erklärung des auch Widersprüchlichen in Spinozas Denken beitragen.

Etwas vom Besten portugiesischer Wesensart ist die schöpferische Eingebung, eine in die Tiefe gehende Erkenntnis und der dazu gehörige Realisierungswille, keinerlei Widerspruch zwischen Einsicht und Leben aufkommen zu lassen.

Ausfluss seiner tatschwangeren Ganzheitsidee ist gewiss auch sein Arbeiter-Philosophentum (Schleifen von optischen Gläsern). Gegen die Scheingrösse theoretischer, wenn auch religiöser Wahrheit, die der Realisierung entbehrte und für die das konfessionelle Leben mit seinen Progromen immer wieder Beispiele lieferte, galt es etwas zu unternehmen. Der Heiligkeit des Logos vermag keine ungelebte Wahrheit zu entsprechen, sondern nur eine Glaubens-, Wissens-, Tat-Einheit.

Dieses Urbild portugiesischen Geistes, das man als Tatwissen bezeichnen kann, drängt auch Spinoza zu einer Werbetätigkeit für eine philosophische Religion. In ihr soll die ganze Menschheit zur beglückenden Erkenntnis eines unabhängigen, aber mit Notwendigkeit (gegen die "Schweinerei") wirkenden Allwesens befreit werden.

Gegen den Verlust der Bibel, die er als ein nur natürliches, mit rein menschlicher Autorität aufgerüstetes Werk betrachtet, entschädigt er sich durch eine Philosophie, die theologischen Charakter hat. Er überträgt gleichsam die theologische Methode deduktiver Wahrheitsableitung aus Offenbarungssätzen auf das natürliche Denken. Anstelle der Wahrheitsgewissheit der Offenbarung setzt er die angebliche Unfehlbarkeit der Intuition. Aus ihr soll der ganze Welt- und Lebensinhalt abgeleitet werden: ein Versuch, jüdisch-mystisches und neuplatonisches Ideengut mit cartesianischen Denkmitteln zu bewältigen.

6.4. Der deutsche Pantheismusstreit

Wie steht es nun um Spinozas Gottesbegriff? Diese Frage hat eine literarische Vorgeschichte. F.H. Jacobi (1743 bis 1819), der Wortführer einer Gefühls- und Glaubensphilosophie, lehnte das spinozistische Denksystem als "Atheismus" ab, trotzdem bekannte er sich zum gottinnigen Menschen Spinoza und sprach mit Hochachtung, Bewunderung und Liebe von ihm. Mit seinen kritischen Schriften gegen seine spinozistischen Zeitgenossen M. Mendelsohn und Lessing rief er ungewollt eine Spinoza-Renaissance hervor.

Jacobis Spinoza-Bild hat lange Zeit in Deutschland Schule gemacht. Als er 1785 zu publizieren begann, gab die Leibniz-Wolffsche Aufklärungsphilosophie den Ton an. Nach Hegels Ansicht trieb Jacobi die Entwicklung von Kant zu Fichte. Kants Kritik (1781) erntete nur sehr langsam Anerkennung, und von Spinoza redete man "wie von einem toten Hund" (A.Hebeisen).

Das änderte sich aber bald durch Jacobis lautstarke Forderung, mit Spinoza endlich einmal ins klare zu kommen. Der sich dabei entzündende deutsche Pantheismusstreit und die Entwicklung des philosophischen Idealismus drehten sich nun im Grunde um die Interpretation Spinozas. Ueber diesem hing ein trauriger Ruf, für den auch Leibniz mitverantwortlich war. "Im ganzen", schreibt Ehrhard, "bringt Leibniz dem System des ältern Denkers wenig Wohlwollen entgegen und ist gegen ihn nicht so gerecht, wie man es wünschen sollte."

Jacobi, der scharfsinnige Beurteiler Kants, war neben Lessing zweifelsohne auch der gründlichste Kenner Spinozas, der den rätselhaften philosophischen Bahnbrecher nicht bloss nach damaligem Brauch aus Bayles Dictionnaire oder aus der Wolffschen Darstellung kannte. Sind aber seine Vorwürfe, die er in programmatischen Sätzen Spinoza gegenüber erhoben hat, auch berechtigt und stichhaltig? Ihm ging es um die Deutung des Spinozismus als Musterbeispiel des Rationalismus, um die Frage des Pantheismus, Atheismus und Fatalismus.

Vertritt Spinoza wie Giordano Bruno - dieser war ihm bekannt - einen Pantheismus, der, nach Jacobis Meinung, zu Atheismus und Fatalismus führt? Die Frage ergab sich damals im Gespräch zwischen Jacobi und Lessing. Dieser verteidigte den Goetheschen Prometheus mit dem hen kai pan (Eines und Alles) und identifizierte sich dabei mit Spinoza.

Ist aber der angeblich pantheistische Sinn sowohl in das Gedicht als auch in die griechische Formel Heraklits nicht leichter hinein- als herauszuinterpretieren? Lessing galt als Theist, und Goethe polemisiert gegen den Gott, der "nur von aussen stösst". Zeus blitzt in die Welt hinein, trifft jedoch oberflächlich nur die Bergkämme und Eichen und köpft die Disteln; er wirkt nicht in und aus der Tiefe (A.Hebeisen). In dieser Ironisierung des Anthropomorphen muss man noch lange nicht eine Ablehnung des transzendenten Gottes sehen.

6.5. Descartes, Spinoza und der Rationalismus

Huldigt Spinoza wirklich, wie Jacobi meint, einem Rationalismus extremster Ausprägung? In der Einleitung seiner Arbeit über Descartes erklärt Spinoza, dass wir über nichts gewiss sein können, solange wir keine klare Idee von Gott haben. Der Angelpunkt seines Systems, oder das erste Einleuchtende, ist bei ihm die Idee Gottes oder - wie er Gott bezeichnete - die unendliche Substanz. Dem Wortsinn nach kann Sub-stanz das, was unter oder hinter der sichtbaren Welt ist, bedeuten. Obwohl es Gott sicher gibt, ist der Zweifel möglich, indem ich als zweifelndes - sogar zweifelhaftes - Wesen meine Unvollkommenheit am Vollkommenen "messe".

Ich kann zweifeln - immer nach Spinoza -, solange ich Gott gleichsam von aussen betrachte. Solange ich keine klare Einsicht habe, zweifle ich; dann betrifft der Zweifel eigentlich mich und nicht Gott, denn zweifeln kann man am Unvollkommenen, nicht aber am Vollkommenen. Das Unvollkommene kann unmöglich das Vollkommene anzweifeln.

Die klare und deutliche Idee Gottes vermag allerdings, nach Spinoza, nicht vom Verstande begriffen zu werden. Die Erkenntnis, dass alles aus der Substanz fliesst, will nicht wissenschaftlich sein. Nur durch des Menschen Liebe, die "ein unendlicher Teil ist, mit der Gott sich selber liebt", kann die Idee Gottes erfasst werden. Das erinnert stark an christliche Theologie, wonach wir Gott nur durch sein eigenes Erkennen und Lieben im Glauben und in der Endschau zu erkennen und zu lieben vermögen.

Spinoza ist nur bedingt ein Schüler Descartes'. Er teilt mit Descartes die Hochschätzung der Mathematik als Typus des Exakten und bedient sich einer cartesianischen Weise, um seine eigene ethisch-religiösen Philosophie darzustellen. Affektlos wird auf alle subjektiven Mittel verzichtet.

Die Summen der Scholastiker bauen sich auf Gott, Schöpfung, Engel, Menschen und Erlösung auf. Nach neuplatonischem Vorbild beginnt Spinozas Ethik (sein Hauptwerk) ähnlich mit Gott, fährt fort mit dem menschlichen Geist, handelt von den Affekten und steigt im 5. Buch wieder durch die geistige Liebe zu Gott auf: eine religiöse Ethik auf intuitiv-mystischem Grund. Spinoza spricht allerdings nicht von der Schöpfung. Wenn man bedenkt, dass ein Johannes vom Kreuz die Schöpfung so sehr im innergöttlichen Hervorgang des Logos sieht, wird man ob dem Schweigen vor diesem Geheimnis allein noch kein endgültiges Urteil fällen wollen.

Vom Beispiel der Mathematik ausgehend, hat Jacobi den Rationalismus als Prinzip des Alles-Erklären-Wollens verstanden. Jene Ratio kommt nicht zur Ruhe, bis sie alles aus einem einzigen Prinzip heraus, mit Hilfe der Ableitung (Deduktion) erklären kann. Dabei setzt man restlose Erkenntnisfähigkeit des Menschen und eine ausschliesslich mathematische Begreifbarkeit der Welt voraus.

Hat Spinoza nun alles deduktiv begreifen wollen? Wahre Philosophie hat immer ein Stück Unbeweisbares in sich. Für Spinoza gilt die deduktive Methode als niedrigerer Erkenntnisgrad als das intuitive Erfassen. Er unterscheidet Erfahrung durch Induktion, die zu inadäquaten Ideen führe, rationales Erkennen durch notwendige, klare und adäquate Allgemeinbegriffe und schliesslich intuitive Einsichten, die unmittelbar einleuchten, wenn man in der Substanz verankert sei. In den zwei letzten Formen sei ein Irrtum nicht möglich.

6.6. Das Geheimnis Gottes als Ursache und Urgrund

Nach der Definition Spinozas ist Gott die unendliche Substanz, das heisst das, was in und durch sich selbst begriffen wird, im Gegensatz zur endlichen Welt, die ihren Grund nur in einem andern hat. Gott ist ursachlose Ursache seiner selbst: sein Wesen ist sein Dasein. Seiner Unabhängigkeit und seiner Unendlichkeit wegen kann es nur einen Gott geben (Ethik I, 17). Ausser dieser Definition weist Spinoza auf die Unreduzierbarkeit der beiden kosmischen Eigenschaften: Ausdehnung und Denken. Aus sich alleine, bemerkt er richtig, können sie nicht bestehen, denn dem göttlichen Aussichsein widerspricht jede Mehrheit. Es muss also ein umfassendes, einheitliches und einziges Ursein angenommen werden, das Urgrund alles Seins und Norm aller Wahrheit ist. Soweit wird man an die Definition des theistischen Gottesbildes erinnert. Und doch ist Spinozas Lehre von Gott nichts weniger als eindeutig. Denn ein andermal gebraucht er den Begriff "Gott" einschliesslich der Natur, das heisst all seiner notwendigen Wirkungen in der Welt. Von dieser Vermengung fällt Spinoza dann wieder ins andere Extrem der Aufspaltung von Gott und Welt, nach der Gott derart überweltlich sei, dass in keiner Weise von Personsein, Intellekt, Wille und Zielstrebigkeit Gottes gesprochen werden könne. Ueber die Gottesfrage bei Spinoza kann deshalb nur durch eine noch tiefer eindringende Untersuchung Genaueres ausgesagt werden.

Aus dem Begriff des göttlichen Allwesens - Substanz - und seinen unendlich vielen Attributen, von denen wir nur Ausdehnung und Denken zu erkennen vermögen, leitet Spinoza - wie Euklid auf seine Art in der Geometrie - alle Einzeldinge des Weltinhaltes als endliche Seinsweisen (modi) der Welt ab. Diese entsprechen sich als Ideen- und Körperwelt der einen Substanz, ohne jedoch in innerer kausaler Beziehung zu stehen (psycho-physischer Parallelismus). Jeder körperliche ist nur durch einen körperlichen, jeder seelische nur durch einen seelischen Vorgang bedingt. Ihre Einheit gründet in der einen göttlichen Substanz, nach der die psychische und physikalische Reihe, gemäss den göttlichen Attributen Denken und Ausdehnung, identisch sind. Gott selber ist Ausdehnung (Materie) und Geist. Als zeugende Natur (natura naturans) unterscheidet er sich nur relativ von der erzeugten Natur (natura naturata) oder der Welt.

6.7. Der Gott der Philosophen und der Gott der Bibel

Spinozas Auffassung von der Einheit der Substanz und ihrer Zusammensetzung aus den sich absolut ausschliessenden Attributen ist widersprüchlich. Einerseits schliessen sich die beiden Attribute absolut aus, anderseits identifizieren sie sich. Von ihnen lässt sich der Begriff des Seins bald nur äquivok (gleicher Name für absolut Verschiedenes), bald nur univok (ein Name für absolut Identisches) aussagen.

Aehnlich setzt Spinoza Gott einerseits über jeden Vergleich mit der Welt, um ihn anderseits mit ihr zu vermengen. Weil seiner Lehre von Gott die einheitliche Durchbildung fehlt, ist der oft gegenüber ihm erhobene Vorwurf des Atheismus verständlich. Spinozas Satz "Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein, noch begriffen werden" (E. I, 15), kann richtig und unrichtig gemeint sein. Richtig ist, dass alles von Gott abhängt und er allein aus sich selbst ist. Unrichtig ist, dass Gott allein nur in sich selbst sei, als einzige, alles andere aufsaugende Substanz.

Hier erweist sich - im Gegensatz zum äquivoken und univoken - der analogische Seinsbegriff als der allein richtige. Denn in Wirklichkeit gibt es die differenzierte, geschöpfliche Anteilnahme am Sein Gottes, dementsprechend eine analogisch gestufte Abwandlung des Substanzbegriffs.

Auf Spinozas anderer These: "Gott ist die immanente (inbleibende), nie aber in anderes übergehende (transiens) Ursache aller Dinge" (E. I, 18), beruht sein statisches, in gewissem Sinne einbahnhaftes Verhältnis von Gott und Welt. Nach ihm kann Gott die Welt nicht eigentlich lieben. Dem entsprechend verläuft die Wirkweise der Natur: obwohl Gott als der Welt immanent bezeichnet wird, bewegt sich in ihr alles mechanisch. Wie sehr unterscheidet sich doch dieses Absolute, diese unpersönliche Substanz oder der Gott der Philosophen vom lebendigen, kreativen und kommunikativen Gott der Bibel. Wie ganz anders verhält es sich - im Vergleich zu Spinozas göttlichen Attributen - mit der Einheit in der Unterscheidung der trinitarischen Hypostasen (Dreieinigkeit. Hier erst erfüllt sich überzeugend Spinozas Forderung, dass wir nur dann eine wahre Erkenntnis der Dinge haben, wenn wir diese in Beziehung zum Wesen Gott setzen.

Das christliche Gottes- und Weltbild ist wesentlich dynamisch. Bereits nach innen bestehen die substantiellen trinitarischen Hervor- und hypostatischen Uebergänge, und nach aussen gibt es das kreative Wunder der kreatürlichen Anteilnahme am trinitarischen Leben. Mit andern Worten: Es gibt in Gott ein immanentes (inbleibendes) Uebergehen des Einen ins Andere: als Zeugung des Sohnes aus dem Vater und als Spiration des Geistes aus dem Vater und Sohn. Dieser Tätigkeit Gottes nach innen entspricht nach aussen die Zeugung und Schöpfung der "Adoptivkinder" durch den Vater im Sohne, die als Inspirierte und Wiedergeborene aus dem mütterlichen Geiste hervorgehen.

6.8. Spinozas ethische Gesinnung: Nach oben schauen, nach unten wirken

Eine spanische Art könnte das Geschick für das Moralisch-Politische bei Spinoza sein, das immer mehr im spanischen Geist entdeckt wird. Hier können, wie bei den Grossen Spaniens - Theresia von Avila, Ignatius von Loyola -, Idealismus und Realismus in polarer Ausgeglichenheit erlösend wirken, oder aber sich als Wille zur Macht einseitig polarisieren - Richelieu, Mazarin, Louis XIV.

Nach Spinoza verbinden sich Macht und Recht nur in Gott zur vollkommenen Einheit und Harmonie. Ihr Einklang ist dem Menschen aufgegeben, indem er - wie in Spinozas Lebensführung - dieses Macht-Recht-Verhältnis auf ein bescheidenes Kleinmass von Besitz und Genuss, aus eigenem Entschluss, einschränkt. Indessen war Spinoza, der von Auerbach als "Charaktergenie" gepriesen, nicht ein "unbewegter Stoiker", der mit Gelassenheit alles ertrug. Wurde er beleidigt, konnte er gewaltig aufbegehren (Br. an A. Burgh). Er war nicht bloss unbestechlich, sondern auch unerbittlich bis zur (sachlichen) Verachtung (Br. an Velthuysen). In der Einleitung zu seiner Korrektur des Verstandes fragt sich Spinoza, ob es etwas gibt, das uns in Ewigkeit mit Freude erfüllen könnte. Will man philosophieren, so hat man, nach ihm, auf das Streben nach irdischen Gütern zu verzichten, weil diese die Seele nur zerstreuen. Was wir aufgeben, um zum wahren Gut zu kommen, ist eigentlich kein Gut. Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, um so mehr erkennen und infolgedessen lieben wir Gott. Diese "intellektuelle Liebe" ist ein Teil der unendlichen Liebe, womit Gott sich selbst liebt. In dieser erkennenden Liebe und Identifizierung mit der aktiven Quelle des Seins besteht unser Heil. Während die Affekte schwächer werden, weil sie sich immer auf etwas anderes richten, wächst die geistige Liebe, weil das wahre Gut, worauf sie sich richtet, immer gleich bleibt. Es gibt deshalb keinen Affekt, der nicht durch die Liebe Gottes überwunden werden könnte. Das Leben des Philosophen ist ein Beispiel dieser Selbsttranszendenz. Aber "so schwer alles Erhabene ist, so selten ist es auch". Spinoza wollte keine Darstellung religiöser Ethik geben ohne Möglichkeit der praktischen Verwirklichung. Es kommt ihm schliesslich nicht auf die blosse logische Möglichkeit (posse) an, sondern auf das praktische Vermögen (pollere). Religiöse Besinnung verwirklicht sich im ethischen Leben: nach oben schauen, nach unten wirken.

6.9. Freiheit als Selbstbestimmung des Geistes

Hier, wie anderswo bei Spinoza, fehlt es nicht an der guten Zielsetzung, wohl aber an der Gültigkeit der Theorienbildung. Wie der Hervorgang aus Gott ein mechanisches Folgeverhältnis, so stellt auch die Einswerdung mit Gott einen logisch deterministischen Prozess dar: durch die Umwandlung der Affekte und Leidenschaften oder der unadäquaten Ideen in adäquate Wesenseinsichten erlebt der Mensch die Dinge aus der Sicht Gottes, im Lichte der Ewigkeit und, bei Aufhebung des Bösen, als rein geistige Freude. Widersprüchlich bleibt dabei, wie die Affekte verbessert werden können, nachdem es keine Einwirkung der Seele auf den Leib gibt. Dass die menschliche Vernunft trotzdem durch mehr oder weniger klare Vorstellungen (Intellektualismus) die Affekte zu zügeln versteht, bleibt unerklärt. Der Mensch ist nach Spinoza frei, wenn er das in ihm waltende Notwendigkeitsgesetz als Norm seines eigenen Wesens anerkennt und bejaht. Freiheit und Glück bestehen in der gewollten Selbstunterwerfung unter das ewig Notwendige. "Eine undeterminierte Willensfreiheit ist Selbsttäuschung als Unkenntnis der bestimmenden Ursachen." Wie das physische, vollzieht sich auch das psychologisch-moralische Geschehen ebenso deterministisch und ziellos. Damit wird das kreative Schaffen sowohl bei Gott als beim Menschen unmöglich, weil das unerlässliche Moment der Freiheit fehlt.

Spinoza verzichtet auf die menschliche Freiheit, um die Unveränderlichkeit Gottes zu wahren, anstatt, in Anbetracht des göttlichen Geheimnisses, auf seine anthropomorphen "logischen" Schlüsse zu verzichten. Gott wirkt überall, auch in den freien Handlungen des Menschen, aber so souverän, dass er diese als freie nicht aufhebt. Zugegeben: auch die freie Tat ist motiviert, "determiniert", aber frei, aus dem einfachen Grund, weil der Geist selber frei bestimmt, welches Motiv ihn "determinieren" soll.

Spinoza macht den Versuch, den Inhalt der Moralphilosophie aus rein egoistischen Erwägungen (Selbstbejahung) abzuleiten. "Je mehr einer bestrebt und im Stande ist, seinen Nutzen zu suchen, das heisst, sein Sein zu erhalten, desto tugendhafter ist er ... Wenn jeder einzelne den eigenen Nutzen sucht, sind die Menschen einander am nützlichsten."

Der Unterschied von Gut und Bös ist relativ zum Endlichen; von der Notwendigkeitsordnung aus gesehen, ist er aufgehoben. Das Gute sei, ermahnt Spinoza, um seiner selbst willen zu tun. Dem widerspricht jedoch sein egoistischer Utilitarismus. Es ist nicht zu verwundern, dass Hegel, als Dialektiker des Widerspruchs und der Notwendigkeit, erklärt, es gäbe keine reinere und erhabenere Moral als die Spinozas.

Mit der Ineinssetzung von Egoismus und moralischer Gesinnung verlangt Spinoza die Befreiung von allen passiven Affekten wie Demut, Reue, Mitleid und Entsagung (Th.pol.Tr. 16). In all dem Nietzsches Vorläufer, identifiziert er ferner Macht mit Recht und Tugend, die Macht der Natur mit der Macht Gottes, sogar die Sünde Adams mit der göttlichen Notwendigkeit (K.Tr.II, 16, 2). Mit dieser, auf ein fälschlich als absolut betrachtetes Ich und seinen Egoismus gegründeten Ethik, ist der Mensch sowohl über- als auch unterfordert. Nur in Gott, im Absoluten, dürften "Egoismus" und "Altruismus" derart identisch sein, dass das Wollen seiner selbst auch das Wollen des andern ist. Mit seinem absoluten Prinzip verrät Spinoza, dass er das Menschliche mit dem Göttlichen identifiziert.

Als abhängige Kreatur, auf das Mitsein und Mitspiel des andern, des menschlichen und göttlichen Du verwiesen, bedarf das auf Paarigkeit gegründete Leben des Menschen auch eines bipolaren, ethischen Prinzips. Dem entspricht das Hauptgebot der Offenbarungsreligion: "Du sollst den Herrn Deinen Gott lieben ... und Deinen Nächsten wie Dich selbst."

6.10. Der anonyme Gott und seine unver-antwortete Welt

Der anonymen unpersönlichen Substanz kann man, wie Gerd-Klaus Kaltenbrunner bemerkt, nicht opfern, zu ihr kann man nicht beten: "Mit der Personalität Gottes verneint Spinoza auch dessen Anredbarkeit. Wie sollte Gott auch dialogfähig sein, da es metaphysisch nur ihn gibt und alles, was existiert, nur als endlich-vergänglicher Modus der unendlich-ewigen Gottheit existiert, bildlich gesprochen eine Welle im Ozean des All-Einen ist? ... Wenn im Grunde nur Gott ist, dann ist alles, was sich uns sonst als noch so real aufdrängen mag, nichts als eine Weise, in der Gott selbst uns erscheint, und zwar in den Dimensionen Ausdehnung und Denken." (Deutsche Studien, 57,1977, S.16). Hier wird die Welt nicht Gott gleichgesetzt, sondern jene droht in diesem kalten Ungeheuerlichen aufzugehen.

Wenn es zwischen Gott und seiner immerhin empfindlich realen Welt nicht Wort und Antwort gäbe, könnte man sich fragen, ob Gott diese Welt, als eine Art fensterloses Konzentrationslager oder Ort der Verdammnis ver-antworten könnte. Dass die Welt zu diesem vielfach geworden, ist nicht Gottes, sondern des "zivilisierten" und "aufgeklärten" Menschen Schuld. Denn Gott schuf den Menschen als Bild und Gleichnis seiner dreieinigen kommunikativen Gemeinschaft des Wortes und der Liebe. Spinoza spricht paradoxerweise von der adäquaten Idee Gottes. Indessen ist Gott, der jeder endlichen Gestalt Enthobene, nie adäquat begreif- und aussprechbar. Und doch hat er zu uns gesprochen in menschlichen Worten. Also muss es von ihm ein - wenn auch nur entferntestes - Gleichnis geben, auch weil wir nach ihm, in seinem "Wort" oder "Bild" erschaffen sind.

Indem Gott uns in Christus zu "göttlichen Menschen" erhebt, ist er, ohne Vermengung und Verwechslung, aber in sehr tiefem Sinne, ein "menschlicher" Gott. Das Wort von der Menschlichkeit Gottes ist also nicht vom Menschen, sondern von Gott her gesagt, als spezifisch christliche Offenbarung darüber, wer er in Wahrheit ist.

Die Menschwerdung Gottes in Jesus stellt sich Spinoza so unmöglich vor, als ob "der Kreis die Natur des Quadrats annähme". Gemeint ist mit dem Geheimnis der Inkarnation jedoch nicht, dass die Gottheit die Menschheit, oder der Kreis das Quadrat werde, sondern die Einheit beider, indem das Quadrat in den Kreis gesetzt wird. Aehnliche Missverständnisse lassen Spinoza auch über Sokrates, Platon und Aristoteles höhnen, die er jedoch nicht aus den Quellen studiert hat (Br.56).

Wenn der sich offenbarende Gott der Bibel, gleich jenem Spinozas, die, Freiheit und Liebe aufhebende, Notwendigkeit über die Menschen verhängt hätte, müsste man in ihm den höchst verschmähungswürdigen Grossinquisitor Dostojewskis entdecken. Warum unterwirft man sich eigentlich der Notwendigkeit oder Determiniertheit eines konstruierten Gottes? - Weil Spinoza "Gott" jeden, auch den nur analogisch entferntesten und übermenschlich eminenten Personcharakter mit Verstand und Willen abspricht? - Handelt es sich wirklich um eine Erhöhung des Gottes- und Menschenbildes und um eine eindeutige menschliche Seligkeit, sich in diesem unpersönlichen, geschichtslosen, Gut und Bös, Strafe und Belohnung, Liebe und Hass ignorierenden Gott geborgen zu wissen?

Nietzsche erkannte mit Recht in Spinoza seinen geistigen Ahnherrn. Die genialen Bild- und Ganzheitsvisionen beider, einerseits, in Ehren, aber diese verhindern leider anderseits nicht, dass ihre Vieldeutigkeit dem Tross der Terroristen und Menschheitsschlächter der heissen und kalten Weltkriege bis heute, gegen die Absicht ihrer Urheber, als Referenz dient. Spinozas janusköpfiges System kommt einem insofern monstruös vor, als es weder einen korrekten Theismus, noch einen reinen Monismus darstellt. Man könnte darin die sich rächende Aeusserung einer vorübergehend zu einer fragwürdigen christlichen Konfession gezwungenen Psyche erkennen; oder von der hellen Seite gesehen, kann es einem wie echte Mystik erscheinen, die sich allerdings in ihren rationalen Mitteln unzulänglich und irrtümlich ausdrückt.

6.11. Die Aufspaltung und Vermengung von Gott und Welt

Spinoza will angeblich Gott so rein und lauter denken, dass er zwischen Gott und Mensch nicht nur radikal unterscheidet, sondern überhaupt alle, auch analogische Aussagbarkeit über Gott absolut verneint. Gott wird seines Person-Vernunft- und Wille-Seins, sogar seines finalen, d.h. zielgerichteten Schaffens entledigt, zu einem blind wirkenden Prinzip einer determinierten Welt. Das Gott und Welt bezeichnende Sein wird äquivok, das heisst ein gleicher Name für angeblich unvereinbare Dinge. Dieser aufspaltende Seinsbegriff setzt sich in Spinozas System auf allen Gebieten bis ins einzelne durch und schafft falsche Alternativen und Verabsolutierungen, beispielsweise in der Auftrennung von Denken und Ausdehnung, von Geist und Stoff, in einem künstlichen Parallelismus, der jede Kommunikation von Idee- und Körperwelt aufhebt, oder in der Aufspaltung von Zeitlichem und Ewigem. Spinoza erklärt ausdrücklich, dass die Ewigkeit nicht durch die Zeit definiert werde, noch überhaupt eine Beziehung zur Zeit haben könne. (E.V, 23). Balthasar Staehelins Forschungsergebnisse an der Zürcher medizin-psychologischen Poliklinik bezeugen das Gegenteil (vlg. Der finale Mensch, Zürich 1976, und seine früheren Werke).

Weil die äquivoke Seinsauffassung keine angemessene Wirklichkeitsbeschreibung erlaubt, hat sie keinen Bestand und drängt auf Ergänzung. Indem ihr Geist jedoch bleibt, was er ist, nämlich ausschliesslich absolut, das heisst sich selbst vergötzend, kann die Korrektur nur ins andere, aber ebenso absolute Extrem umschlagen. Der Seinsbegriff wird folglich univok, das heisst ein Name für angeblich nur scheinbar verschiedene Dinge. Die Univozität lauert grundsätzlich hinter Spinozas gleichsam eindimensionalem Begriff der Substanz, unter den alles subsumiert, auf den hin alles aufgeebnet wird, die Welt auf Gott hin, mit dessen Namen sie auch bezeichnet wird: "Gott oder Natur" als unendliche Gott-Natur. In gewissem Sinne verwirklicht dies nun auch die christliche Heilsgeschichte, allerdings auf unvorstellbar innige gnadenhafte und doch nicht vermengende Weise.

6.12. Von der polarisierenden Verabsolutierung zur ana-logischen Zwei- und Vieleinheit

Spinozas geometrisch mathematische Einkleidung und Methode seiner Ethik, auf geometrische Art demonstriert, erscheint zunächst als Darstellungsweise; sie ist zugleich aber bezeichnend für seinen, auf dem univoken Seinsbegriff aufbauenden methaphysischen Inhalt. Nach Spinoza verhält sich die Gottheit zur Gesamtheit aller Dinge ähnlich wie der Raum zu den geometrischen Figuren, Verhältnissen und Gesetzen. Auch aus diesem Vergleich ergibt sich die Gefahr, Gott,das Absolute, als alles andere subsumierenden Gattungsbegriff zu betrachten, der keine eigentliche Transzendenz erlaubt. Nach Aristoteles ist der "unendliche" Raum nichts absolut Unendliches, sondern der auf die realen Beziehungen der Himmelskörper - die sich in endlicher, wenn auch undefinierter Zahl entwickeln - projizierte, abstrakte Allgemeinbegriff.

Eine Vermengung von Gott und Welt bekunden die Sätze: "Die Liebe Gottes zu sich selbst drückt sich ... vornehmlich in der Liebe des wissenden Menschen zu Gott aus." Es bedeutet "nichts wesentlich Verschiedenes", schreibt Spinoza, "ob man behauptet, alles gehe notwendig aus Gottes Natur hervor, oder das ganze Universum sei Gott" (Br.45). Die äquivoke Gespaltenheit schlägt um in die univoke Vermengung.

In der Peripetie (Kipphöhe) spinozistischen Denkens und im Umschlag der Aequivozität in Univozität wirkt ein verabsolutierendes (die Absolutheit Gottes nachäffendes) Denken und Sein, das die antithetische Dialektik Hegels ankündigt. Dieser konnte denn auch schreiben: "Wenn man anfängt zu philosophieren, so muss man zuerst Spinozist sein" (Vorl. ü.d. Gesch.d. Philos). Das sich vergötzende Denken und Sein verfolgt sein divide et impera (teile und herrsche), indem es die polare Wirklichkeit aufspaltet und den einen Pol auf den anderen reduziert, oder die beiden Pole kurzerhand identifiziert und damit verabsolutiert.

Bald spaltet Spinoza Gott und Welt erkenntnismässig, bald subsumiert er diese unter jenem. Die Substanz ist die nach "einwohnenden Gesetzen" wirkende unendliche und einzige Seinswirklichkeit, die sich in jedem Einzelwesen besonders auswirkt. Die unendliche Seinswirklichkeit in ihrem absoluten Wesen begründet nur Unendliches. Spinoza findet deshalb keinen Grund zur Schöpfung. Und doch ist das Endliche da. Also erklärt er es - den Widerspruch in Kauf nehmend - als notwendig zum Absoluten gehörig. Gott umfasst das Endliche, weil es notwendig aus der absoluten Substanz hervorgeht. Weil Gott uns eigentlich nicht liebt, fehlt die Schöpfung: das heisst die freie - die es bei Spinoza nicht gibt - kreative Entäusserung seiner selbst, das Wunder des sich Schenkens um des andern willen. Von hier aus werden die einseitigen reduktiven Verabsolutierungen Spinozas, des einen auf das andere, verständlich.

Entgegen der spinozistischen Aufspaltung und Ineinssetzung (Identifizierung) der Dinge, erweist sich die Wirklichkeit als ana-logische oder aufeinander angelegte Zwei- und Vieleinheit. Es geht nicht um die Ablehnung der konsequenten Verneinung aller menschlichen und allzu menschlichen Züge im Gottesbild - diese verlangt auch das christliche Denken -, sondern um die Berechtigung analogischer Erkennbarkeit und Aussagbarkeit Gottes. Jede Determination ist nicht, wie Spinoza meint, nur Negation, sondern irgendwie auch Qualifikation.

Nach der täglichen Erfahrung sind die Dinge weder ein einziges, gleiches Ding (Univozität), noch sind sie aufgespalten in eine beziehungslose absolute Vielheit (Aequivozität), sondern sie bilden mit-ein-ander eine Zwei- und Vieleinheit (analogische Einheit in Unterscheidung). In Spinozas Denken werden die Dinge, widersprüchlich, bald als vermengte Einheit (Identität), bald als unvergleichbar absolute Vielheit dargestellt. Dementsprechend wird ihre allgemeine Bezeichnung als Sein bald in univokem (Gott = Welt), bald widersprüchlich dazu, in äquivokem (absolute Verschiedenheit) Sinne von ihnen ausgesagt. Nach der natürlichen Erfahrung und nach der Offenbarung der Bibel jedoch sind unsere Begriffe auf Gott analogisch, das heisst in radikaler Unterschiedenheit und doch auch als entfernte Gleichnisse anwendbar.

Spinozas pionierhafte Ansätze gültiger Bibelkritik erheischen Respekt, indessen trennt er Vernunft und biblisches Geschehen; ähnlich Natur und Offenbarung, Philosophie und Theologie und reduziert diese auf jene. Anstelle der naturgegebenen kausalen Wechselwirkung von Geist und Stoff - Kennzeichen unserer kreatürlichen Polarität - lässt Spinoza die dualistischen Reihen in unorganische Identität übergehen. Anstatt des analogischen Beziehungsverhältisses schlägt das nach Descartes konstruierte äquivoke Verhältnis in univoke Identität um, die das kreatürliche Verhältnis von endlicher polarer Seinsweise mit der göttlichen Substanz vermengt.

Ebenso fallen in der Erkenntnis Sein und Denken in eins. "Die Identität einer Wirklichkeitsform aller Wesen mit der Idee, welche diese Wesen erkennt", schreibt Dunin Borkowski, "ist der letzte spinozistische Erklärungsgrund der Erkenntnis" (Spinoza, S.66). Wenn nicht alles trügt, mangelt Spinoza ein Verhältnis zum Schönen. Er reduziert es wiederum auf das Nützliche und Physiologische und hebt es damit auf. Vielleicht geht ihm auch auf diesem Gebiet die Gemütsseite ab. Sicher reduziert er weitgehend die Religion auf praktische Aufgaben der Moral. In dieser, vor allem, zeigt sich ein ichbezogenes, reduktives, ethisches Prinzip.

6.13. Wir "Zweifelhaften" vor dem notwendig Ewigen

Spinoza huldigt durch eine verabsolutierte Weltbejahung einem einseitigen Optimismus. Realistischerweise müsste er auch die Polarität von Freud und Leid, von Leben und Tod berücksichtigen. Er zieht es vor, konsequent, aber nicht ohne Hybris, vom Gedanken an den Tod abzulenken und dem Leiden keine positive Funktion einzuräumen. Er vergisst und übersieht seine eigene Todeskrankheit. Nicht als ob er sie verleugnete, aber er ignoriert sie als das Unabänderliche. Es wäre verfehlt, von Spinozas theoretischen Irrtümern auf seinen Charakter zu schliessen. Goethe bewundert seine grenzenlose Uneigennützigkeit. Auch wenn man sich der Ueberschwänglichkeit des Zeitstils bewusst ist, meint es Jacobi mit seinem Ausruf aufrichtig: "Sei mir gesegnet, grosser, ja heiliger Benedictus! Wie du auch über die Natur des höchsten Wesens philosophieren und in Worten dich verirren mochtest: seine Wahrheit war in deiner Seele, und seine Liebe war dein Leben." Wie oben angedeutet, steht hinter dem Intellektuellen der Mystiker Spinoza, der sich eines ungeeigneten begrifflichen Systems bediente und dem man deshalb begrifflich nicht restlos gerecht werden kann. Erzürnt über einen Menschen, der ihm alle Religion absprach, antwortete Spinoza, indem er den Atheisten als einen Menschen charakterisierte, dessen Begierde nach Reichtümern und Ehrenstellen die herrschende sei, und meinte schliesslich: "Wer Gott nur sucht als Mittel zu andern Zwecken - wär's auch die Unsterblichkeit der Seele -, habe, wenn man die Sache beim Licht besähe, nur seinen Bauch im Sinn" (zit.b.A. Hebeisen, Jacobis Auseinandersetzung mit Spinoza, 1959, S.35).

Von den Wirkungen auf die Ursache, nicht umgekehrt, und aus der Unzulänglichkeit dieser Welt schliessen wir notwendig auf das Dasein eines überweltlich, ewigen Allerfüllenden. Versuchen wir jedoch Gottes Sosein oder Wesenheit zu ergründen, erfasst uns, die aus dem Sein und Nicht-Sein Geborenen, der Schwindel des "Warum ist nicht eher nichts?"

Unsere Schlussfolgerung auf das blosse Dass oder die Existenz Gottes ist unvermeidlich und entspricht not-wendig unserem kontingenten Dasein oder unserem Nicht-aus-uns-sein-Können. In höchstem Masse unadäquat zu uns verhält sich jedoch das Wesen Gottes. Aus unserer Ohnmacht, Gottes Sosein zu erfassen oder zu umgreifen, auf seine Nichtexistenz zu schliessen, wäre Ueberheblichkeit: die Hybris des Atheismus.

Nach Spinoza sind wir es, die "Zweifelhaften", die schwinden (schwindeln) oder zweifeln, nicht aber Gott, der ewig Notwendige und unendlich Vollkommene. Zögen wir ihm das Nichts vor, widersprächen wir uns selbst. Denn der Tempel des Nichts, der Nihilismus, ist ein Widerspruch in sich oder unsere Selbstaufgabe. Unergründlich und unaussprechbar ist: wie Er, persönlich und nicht-persönlich, als Wort und mütterlicher Geist aus Sich hervorgeht und - wie wir aus Ihm geboren und in Ihn zurückkehren werden.

7. FEHLBARKEIT UND UNFEHLBARKEIT IN DER THEOLOGIE

Kann die Theologie, können die Geisteswissenschaften für ihre Methode etwas von den Naturwissenschaften lernen oder muss sich der Ur-Dualismus von Materie und Geist in der grundsätzlichen Aufspaltung der entsprechenden Methode verewigen? Die heutigen Wissenschafter (und wir ihnen gegenüber) reagieren oft allergisch auf jede Kompetenzüberschreitung, und an die Möglichkeit eines Universalgenies glaubt heute niemand mehr. Trotzdem erhebt sich immer dringlicher der Ruf nach interdisziplinärer Forschung. Sie setzt voraus, dass es mehrere, komplementäre Zugänge zum Erfassen eines Phänomens und einer "Wirklichkeit" gibt. Verhält es sich aber nicht auch innerhalb der einzelnen Disziplin so? Müssten wir nicht auch gerade in der Theologie und im Glaubensverständnis grundsätzlich mehrere mögliche konvergierende, aber einander zunächst ausschliessende, Sehweisen anerkennen? Würden wir mit ihrer Anerkennung nicht sowohl in der Oekumene wie innerkirchlich weiterkommen, als mit der von Katechismen, Evangelienharmonien usw. gemachten Vorraussetzung, es müsste sich grundsätzlich alles in der Bibel und in den Traditionen der "Väter" sowie in den Verlautbarungen des Lehramts "harmonisieren" lassen? Der Tod des Atomphysikers Werner Heisenberg gibt Anlass zu solchen Fragen.

Die hier folgenden Ueberlegungen erheben beileibe nicht den Anspruch, genau vom heutigen Stand der Atomphysik usw. auszugehen, wie überhaupt nicht die Einzelbeispiele interessieren, sondern der Grundduktus: Etwas von dem, was von Heisenbergs Unschärferelation bereits ins allgemeinere Bewusstsein gedrungen ist, soll als Denkanstoss für die Theologie und vielleicht als langfristige Therapie gegen Polarisierung und Verketzerung angeboten werden. Schliesslich hat auch ein Teilhard de Chardin dem christlichen Denken in erster Linie einen Dienst erwiesen, dass er das längst durch Darwin popularisierte Denkmodell der Evolution auch in dem bisher ihm verschlossenen Raum der Kirchlichkeit eingebürgert hat.

Der Verfasser verfolgt seit Jahren in mannigfachen Publikationen über analogisches Denken die hermeneutische Weiterführung der aristotelischen Ontologie. Red.

Was hier zur Sprache kommt, ist ein philosophisches und theologisches Anliegen. Wenn trotzdem das Kapitel der Physik von der Komplementarität reichlich herangezogen wird, dann in der Absicht, dass durch die gründliche Erläuterung einer physikalischen Gegebenheit und auf dem Wege analogischen Vergleichens neues Licht auf theologische Fragen falle, nicht zuletzt auf solche, die bisher Anlass zur Glaubensspaltung gaben. So versuchte bereits der Hauptbegründer der Komplementarität, Niels Bohr, analogische Vergleiche anzustellen, indem er beispielsweise von der Komplementarität der Liebe und Gerechtigkeit sprach (Markus Fierz). Bei aller Unterscheidung der positiven und negativen Elektrizität wissen wir von ihrer einheitlichen Leistung. Aehnlich werden die korpuskulare Natur der Materie und ihr Wellencharakter in der Quantenphysik nicht mehr als Widerspruch, sondern als komplementäre Aspekte der einen und gleichen Wirklichkeit verstanden. Aus empirisch ähnlicher Erfahrung wurden in der ontologischen Abstraktion das kreatürliche Dasein als relative Sein (Akt) und relatives Nicht-Sein (Potenz), als Einheit in der Unterscheidung, je schon verstanden. Und so, analogisch ähnlich, dürften sich auch die Gegensatzpaare der Humanwissenschaften, beispielsweise das Verhältnis von Glaube und Werk in der Theologie, verhalten. So wenig als in der Physik sollten in der Glaubenslehre die gegenseitigen Aspekte verabsolutiert werden und als unversöhnlicher Widerspruch in einer Glaubensspaltung weiterbestehen.

7.1. Von der Polarisation zur Polarität

Nach neuerer theologischer Forschung ist eine Vielzahl kerygmatischer Entwürfe im NT nicht zu übersehen. Die Frage ist nur, ob es in der christlichen Verkündigung, wie der prominente Neutestamentler Eduard Lohse meint, eigentliche Widersprüche gibt.1)

Müssen die bekannten Spannungen und gegensätzlichen Aussagen als "Risse" und "widersprechende Aussagen" bezeichnet werden? Ist nicht Paulus mit seiner toleranten Haltung gewissen "schwächern Brüdern" (judaisierenden Christen) gegenüber ein Beispiel der Einheit in der Unterscheidung? Können die vielfältigen Entwürfe der Synoptiker und des Johannes, des Paulus (Glaube) und Jakobus (Werke), die Entfaltung der Charismen und des Amtes, das Bekenntnis der Urgemeinde und eine gewisse hellenistische Ausgestaltung wirklich nicht in einen einheitlichen Rahmen eingefügt werden?

Ein vielfältiges Verständnis für die je andere menschliche Situation muss noch nicht gegen die grundsätzliche theologische Einheit des NT sprechen, und die Variabilität des neutestamentlichen Kerygmas legitimiert noch nicht die Aufspaltung in verschiedene Konfessionen oder Luthers antithetische Abspaltung des "Kanons" vom Kanon. Wo der Geist die Buchstaben lebendig macht, kommt es innerhalb der Einheit des NT wohl zur Unterscheidung, zur analogischen Differenz, zur organischen Spannung und Polarität, nicht aber zum Zerriss oder zur ausschliessenden Polarisation. Die Wissenschaften haben ihre Eigenständigkeit, dürfen sich aber nicht gegenseitig isolieren; sie verhalten sich in gewissem Sinne komplementär zueinander; sie sind methodisch zu unterscheiden, dürfen aber nicht voneinander getrennt werden. In den christlichen Konfessionen wird heute so etwas wie ein "Trend" nach natürlicher Theologie verzeichnet. Es geht um eine Entsprechung des Glaubens zur natürlichen Wirklichkeit im Sinne eines Nachweises der Spuren der im Glauben angenommenen Wahrheit. Dabei ist man sich klar, dass sich die natürliche Theologie aus der Glaubenserfahrung nährt, nicht umgekehrt: also kein Brückenwurf von der Welt zum Glauben, sondern eine Fallbrücke des Heils in die existentielle Erfahrung des Menschen. Luthers Lehre von der Hure Vernunft galt der falschen Subsumierung der Offenbarung unter die Vernunft.

Erinnert es beispielsweise nicht an eine natürliche Theologie, wenn aus dem kollektiven Unbewussten (C.G. Jung) dieselben Symbole auftauchen, deren sich auch die "von oben" (Transzendenz) kommende Offenbarung bedient. Jene haben ungezählten Menschen zur Heilung verholfen. Damit soll der Glaube nicht psychologisiert oder der transzendete Charakter der Offenbarungsreligion in Frage gestellt werden. Man weiss aus Erfahrung am AT, dass die menschliche Seele Symbole bereit hält, derer die Offenbarung sich bedient. Dadurch vermag der Mensch mit seiner natürlichen religiösen Erfahrung der Offenbarung nicht nur ablehnend, sondern in besonderem Masse geöffnet gegenüberzustehen. Dieser Sachverhalt führt uns unausweichlich dazu, den Menschen als eine das Ich übersteigende komplementäre Ganzheit von individuellem Bewusstsein und kollektivem Unbewusstem, von natürlicher und übernatürlicher religiöser Erfahrung zu betrachten. Dieses Verständnis braucht keineswegs die Einheit der christlich dogmatischen Wahrheiten zu zerstören; es öffnet vielmehr das Auge für deren Sinnerfülltheit. Das Christliche ist auf das Natürliche angelegt, und das Natürliche und Menschliche ist auf das Christliche finalisiert.

7.2. Ueber Heisenberg zu Aristoteles

Ein weiteres Beispiel von komplementärer Einheit in der Unterscheidung oder Vielfalt bietet uns die heutige Quantenphysik. Stand das 19. Jahrhundert noch unter dem unversöhnlich dualistischen Gegensatz von Raum und Zeit, von Kraft und Stoff, so schuf das 20. Jahrhundert nicht die Reduktion oder Identifizierung, wohl aber die komplementäre Einheit von Welle und Körper und die Solidarität von Raum und Zeit. Nach der Dialektik Hegels dürfte es nur die Alternative zwischen den sich gegenseitig ausschliessenden antithetischen Gegensätzen und ihren Umschlag in die Vermischung oder absolute Identität geben. Der bahnbrechende Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg rät, anstatt von unüberbrückbaren Gegensätzen, von der Vielseitigkeit der Natur und des Geistes zu sprechen. Er schreibt: "An die Stelle der reinen Alternative, die in ihrer Härte oft der Wirklichkeit nicht gerecht wird, tritt eine komplementäre Betrachtungsweise, die es leichter macht, ein Problem von verschiedenen Seiten zu sehen und nicht voreilig von unüberbrückbaren Gegensätzen zu sprechen."2) Heisenberg wünscht sich anstatt des "Verwischens der Konturen" (Hegel) ein "subtileres Denken".

Im Experiment kann der Ort eines Elementarteilchens gemessen oder aktuiert werden, während seine Geschwindigkeit unbestimmt bleibt; oder es kann umgekehrt, bei Unschärfe des Ortes, die Geschwindigkeit bestimmt werden. Das "An sich" zwischen den zwei Messungen ausserhalb unserer Beobachtung, oder besser Aktuierung - also nicht nur unsere Erkenntnis davon - bleibt unbestimmt und kann höchstens als "Tendenz" oder "Wahrscheinlichkeit" verstanden werden.

"Die Wahrscheinlichkeitswelle", meint Heisenberg, "bedeutet die quantitative Fassung des alten Begriffs der dynamis oder potentia in der Philosophie des Aristoteles. Sie führte eine merkwürdige Art von physikalischer Realität ein, die etwa in der Mitte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit steht..... Der Uebergang vom Möglichen zum Faktischen findet also während des Beobachtungsaktes statt. Wenn wir beschreiben wollen, was in einem Atomvorgang geschieht, so müssen wir davon ausgehen, dass das Wort <geschieht> sich nur auf die Beobachtung beziehen kann, nicht auf die Situation zwischen zwei Beobachtungen.... Es ist unmöglich, anzugeben, was mit dem System zwischen der Anfangsbeobachtung und der nächsten Messung geschieht. (Potentieller Zustand! A.E.) Nur im dritten Schritt einer neuen Messung kann wieder der Wechsel vom Möglichen zum Faktischen vollzogen werden." 3)Aehnlich drückt sich der Atomphysiker Bernhard Philberth, A. Wenzl zitierend, aus: "Die Welle ist die Verbindung der zusammengehörigen Reaktionen miteinander über Raum und Zeit. Die Wellenvorgänge sind die Zwischenereignisse zwischen den korpuskularen Reaktionsereignissen. Welle und Körper sind Potenz und Akt (A.Wenzl) im Geschehen."4)

Die quantentheoretische Feststellung von Teilchen und Wellen bewirkt, dass dieselbe Realität sowohl als Materie als auch als Kraft in Erscheinung tritt. "Wenn man diese Situation", schreibt Heisenberg, "vergleicht mit den Begriffen Stoff und Form bei Aristoteles, so kann man sagen, dass die Materie des Aristoteles, die ja im wesentlichen <potentia>, d.h. Möglichkeit, war, mit unserem Energiebegriff verglichen werden sollte; die Energie tritt als materielle Realität durch die Form in Erscheinung, wenn ein Elementarteilchen erzeugt wird." 5)

"Das Beharren", meint Heisenberg, "auf der Forderung nach völliger logischer Klarheit, würde wahrscheinlich die Wissenschaft unmöglich machen" und wohl auch die kreative Entwicklung aus dem Nicht-Sein (fortwährende Schöpfung! A.E.) erstarren lassen. Heisenberg hofft, "dass es möglich sein müsste, die Welt von einem einheitlichen Grundprinzip aus zu verstehen." 6) Dem entspricht in der Philosophie das Erste Prinzip des Aristoteles, nach dem ein und dasselbe zugleich sein und nicht sein kann, vorausgesetzt, dass es dies nicht in gleicher Hinsicht ist, sondern im Hinblick auf das Aktuell- und Potentiell-Sein ist. Jede der beiden Komponenten oder Aspekte ist nur teilweise richtig. Hier lässt sich ein Vergleich ziehen mit dem paulinischen "Sich freuen, als freue man sich nicht" (1.Kor 7, 30), was das eigentliche Kreatursein auf der ganzen Linie charakterisiert im Vergleich und im Hinblick auf Gott, den allein Absoluten.

Die neue Situation der Quantenphysik ist nicht mit den Begriffen der klassischen Physik oder des täglichen Lebens mit ihrem, der oberflächlichen Anschauung entsprechenden, Identitätsprinzip der Makrowelt zu bewältigen. Die Mikrowelt bestätigt und illustriert das aristotelische und thomasische Prinzip vom Zugleich des relativen Seins und Nicht-Seins. Dieser relative Charakter des Kreatürlichen bedingt jedoch die Unterscheidung von Komponenten und erlaubt keine Trennung und keine damit gegebene Absolutsetzung der beiden Komponenten. Durch diese kann es nur zu konfessionellen Ueberspitzungen und zur absolutistischen und antithetischen Dialektik Hegels kommen, die logischerweise durch die ungebührliche Absolutsetzung kreatürlicher Komponenten zur Auflösung führen dürfte.

7.3. Die kreativen Gestaltungskräfte der Natur

Die Ordnung der Schöpfung in den verschiedensten Wirklichkeitsbereichen beruht auf der Nichtausschliesslichkeit und Nichtabsolutsetzung der relativen Gegensätze, auf der Konstituierung der komplementären Komponenten zum einheitlichen Ganzen. Das ist der wertvolle Denkanstoss der Quantenphysik zur Regenerierung der Geisteswissenschaften. Die gleiche Wirklichkeit kann beispielsweise physikalisch zugleich aktuell Korpuskel und potentiell Welle, oder aktuell Welle und potentiell Korpuskel sein. Erst beide "Bilder" (man kann auch in der Mikrowelt wie in der Theologie die Vorstellungen und Bezeichnungen der Makrowelt nur analogisch verwenden) ergänzen sich zur vollen Wirklichkeit. C.F. von Weizsäcker spricht von "koexistierenden Zuständen", denn jeder Zustand enthalte bis zu einem gewissen Grad (eben potentiell.A.E.) auch den andern.

Nach Heisenberg bilden Atome und Elementarteilchen eher eine Welt von Tendenzen und Möglichkeiten, als von Dingen und Tatsachen. In diesem Reiche der "Urphänomene" (Goethe) wirken die kreativen, von Goethe als göttlich empfundenen Gestaltungskräfte der Natur. Die heutige Forschung führt von der unmittelbaren, sinnfälligen Gegenwart in eine zunächst unheimliche Leere und Ferne (wie sie die Mystik ähnlich in der geistigen Welt kennt), von der aus aber erst der schöpferische Impuls im grossen Zusammenhang der Welt erkennbar wird, der einheitlich alle Verhältnisse und Lebensvorgänge bestimmt.

Der Naturphilosoph Zeno Bucher durchleuchtet die Tatsache, dass die Elementarteilchen "aus einem sehr geheimnisvollen Urgrund, darin sie virtuell, potentiell als reale Möglichkeiten <schlummern>, unter bestimmten Bedingungen erweckt, aktualisiert, erzeugt, verleiblicht und geboren werden können. Und ebenso können sie wieder in dieses Urfeld hinab entwirklicht werden oder sich in andere, wenn auch nicht beliebige Teilchen mit völlig neuen Eigenschaften umwandeln." Er fragt sich, ob nicht "gerade das Schöpferische der Natur, metaphysisch hinterfragt, nur als fortdauernde Schöpfung zu verstehen sei, indem der eine und zeitlose Akt der Urschöpfung auch den ganzen durch die Zeiten sich schöpferisch verwirklichenden Selbstaufbau der Natur innerlich trägt und ontisch erwirkt. "Das bedeutet allerdings, fährt Bucher fort, keine "Entmächtigung der innerweltlichen Eigenkausalität der Natur", sondern nur "das Gottes schöpferisches Erwirken in jeder Phase der kosmischen Anagenese gegenwärtig ist und das Werk der Natur, was immer es hervorbringt, aus transzendenten Tiefen erstursächlich erwirkt."7)

Die moderne Physik hat durch ihre experimentelle Forschung den starren Rahmen des Determinismus gelöst und die Raum-Zeit-Einheit entdeckt. Der stärkste Teil dieses starren Rahmens war die nach dem Identitätsprinzip konzipierte nur aktuierte Materie. Die geheimnisvoll schöpferische Realität des platonischen me on (Nicht-Sein), des Potentiellen, hat mit ihrer dynamis oder Potenz diese Welt erschüttert. Aus Erschütterung und Ratlosigkeit müssen auch die Geisteswissenschaften zur wahren dynamis oder Potenz zurückfinden, die nicht wiederum für sich isoliert oder verabsolutiert zu einem kopf- und bodenlosen Evolutionismus entarten darf, sondern, auf die höhere und höchste Aktualität ausgerichtet, zu schöpferischem Werden und zu Neugeburt fortschreiten muss.

7.4. Theologische Komplementarität statt falscher Alternativen

Wenn schon die Materie das Geheimnis der Unschärfe, des Unbestimmbaren und der komplementären Zweiseitigkeit in sich schliesst, scheint es aussichtslos, die philosophischen und sogar theologischen Probleme ohne komplementäres Verständnis, mit einseitigen Reduzierungen und Verabsolutierungen bewältigen zu wollen. Gerade unser Kreatur- und Christsein beruht auf der Ergänzungsnotwenigkeit des einen durch das andere in vertikaler und horizontaler Hinsicht.

Was ist das Wesentliche: das Statische oder Dynamische, die Erkenntnis oder das Handeln, der Glaube oder die Werke? Solche und ähnliche Fragen sind in Gefahr, zu falschen Alternativen zu führen. Ist das Zeugende oder das Gebärende das Eigentliche? Im Verhältnis der Geschlechter erfahren wir das Uneigentliche solcher Fragen. Das Eigentliche liegt im männlich-weiblichen Zusammenspiel. Die kreative Entwicklung der Schöpfung, des kosmischen Eros, beruht auf einer Ueberfülle von Komplementaritäten. Die niedersten und höchsten Seinsebenen spiegeln sich, freilich nur analogischerweise, ineinander, während der Dreieine selbst das höchste Modell des Komplementären darstellt.

Der Sohn Gottes selbst erklärt: "Ich bin das Licht der Welt". Hell und Dunkel illustrieren die Ontologie, das schöpferische Spiel vom Sein (Akt) und Nicht-Sein (Potenz). Das Licht ist das grosse Gleichnis und Symbol Gottes. Da sind zum Beispiel die Grundfarben Blau, Rot, Gelb: zusammen geben sie das absolute Weiss. Und da ist die invariante Geschwindigkeit, auf die hin - als ihr Mass - alle Räume und Zeiten orientiert sind: auf die grosse Triade Raum-Zeit-Energie.

Welle und Korpuskel sind trotz ihrer komplementären Zusammengehörigkeit so uneinholbar unterschieden, dass eine Reduzierung des einen auf das andere unmöglich ist. Hegel löst das Problem der Gegensätze oder kreatürlichen Unvollkommenheit und Komplementarität durch eine Flucht nach oben in die göttliche Absolutheit, indem er die zunächst aufgetrennten Gegensätze kurzerhand reduziert und identifiziert. Die physikalische Forschung weiss heute, dass sich die bipolare Komplementarität (als Stigma des Kreatürlichen) auf keiner "höheren Ebene" (Hegel) auflösen lässt. An dieser Tatsache scheitert Hegels pantheistische Absolutheit und seine monistische Vermischung und Identifizierung der komplementären Gegensätze.

Nach der klassischen Physik ist die Materie als Komplementarität von Korpuskel und Welle ein glatter Widerspruch. Entweder ist die Materie, so dachte man, Welle oder Korpuskel, aber nicht beides zugleich. Aehnlich dachte die alttestamentliche Synagoge und denkt heute der rationalistische Verstand: Jemand ist entweder Gott oder Mensch. Ein Gott-Mensch wid zum "Aergernis" und zum "Zeichen des Widerspruchs". Hier und am Geheimnis der Dreieinigkeit sind (ob der transzendenten und analogischen "Unschärfe" und "Unbestimmbarkeit") der rationalen Feststellbarkeit der strukturellen Zusammenhänge die grössten Grenzen gesetzt. Man versuchte und versucht diese höchsten Mysterien des Glaubens jedoch mit rationalen Operationen zu umfassen, die sich nicht einmal die Elementarteilchen bieten lassen.

Gott wohnt im "unzugänglichen Lichte". Wenn wir, schon von dem Geheimnis der Komplementarität des irdischen Lichtes "geblendet", in Bescheidung das forschende Auge schliessen müssen, wieviel mehr stellen sich "Unschärfe" und "Unbestimmbarkeit" vor den Allerhöchsten, so dass wir in Demut vor seiner Unendlichkeit und Allmacht, vor seinem Abstieg in unsere Zeit und Geschichte, den kritischen Verstand mit der anbetenden Liebe vertauschen.

Hans Küng schreibt in seinem allerersten Buch (Rechtfertigung) trefflich von einem "dynamisch-lebendigen Denken, das in der Negation zugleich affirmiert und in der Affirmation negiert, das nie nur eine Seite beleuchtet, auch nie starr zwei Seiten nach- oder nebeneinander, sondern immer das Ganze von vielen Seiten zugleich in einem lebendigen Wechsel".8)

Mit der Komplementarität und Analogie des Glaubens kehren wir zum Grundanliegen dieser Ausführungen zurück 9). Glaube und natürliche Wirklichkeit sind in gewissem Sinne komplementär und implizieren sich, ohne identisch zu sein: als Einheit in der Unterscheidung. Mit der Ablehnung der natürlichen Theologie wird eigentlich nicht Gott die Ehre gegeben, sondern ein gewisses theologisches Bewusstsein bis zur Einengung und Verzerrung isoliert. Das beeinträchtigt nicht nur die Re-ligio, das Verhältnis des Menschen zu Gott und zu sich selbst, sondern nährt auch den konfessionellen Separatismus mit seiner Abkapselung und Erstarrung.

Wir haben den Zugang zu Gott und zum Guten "per ea quae facta sunt". Anderseits glauben wir, um uns und die Welt besser verstehen zu können. Wir benützen jedoch die neuesten Erkenntnisse der Atomphysik von der Materie, um die letzten und höchsten Geheimnisse unseres Glaubens ganzheitlicher und erleuchteter erleben zu können. Die Wahrheit ist, obwohl sie komplementär ist, einleuchtend. Die Komplementarität impliziert die - wenn auch spannungsvolle - Einheit und bewahrt vor aller unechten Harmonisierung. Die Zeit der vielen Worte und langen Abhandlungen sollte vorbei sein. Unter Berücksichtigung wahrer Hermeneutik, die Vergangenes nicht in jedem Fall absetzt, sondern mit der evolutiv bedingten Anreicherung mitführt (Gadamer), bleibt Goethes Wort sinnvoll: "Die Wahrheit ist schon längst gefunden, hat edle Geisterschaft verbunden, das alte Wahre - Fass es an!"

Anmerkungen:

7.5. "Der Geist weht wo er will" (Joh 3,8)

Seit dem Ruf des Zweiten Vatikanischen Konzils nach zeitgemässer Erneuerung wurde viel Zeit und Energie in Erneuerungskapiteln der Ordensgemeinschaft aufgewendet. Die Ergebnisse jedoch enttäuschen. Einerseits werden die Ordensregeln mit Begeisterung kommentiert und im Neudruck vorgelegt 1), und andererseits stellen Ordensleute den eschatologischen Zeichencharakter ihres Ordenslebens in Abrede. Beide Verlautbarungen sind berechtigt und stellen schwierige Fragen.

7.6. Von den grossen Regeln zu den kleiner werdenden Orden

Im Jahre 1965 erreichten die Ordensangehörigen die Rekordzahl von 336'000. Aber der Nachwuchs bleibt rückläufig und die Zahl der Austritte nimmt unaufhörlich und immer schneller zu. Es ist nicht zu verwundern, dass der Wille zur Restauration und die Rückbesinnung auf die Ursprünge sich regen. In diesem Zusammenhang ist wohl auch die Neuausgabe der Ordensregeln durch Hans Urs von Balthasar zu verstehen.

Nach der Einleitung H. U. von Balthasars über den Ordensstand kommentieren Laurentius Casutt, Franz Faessler, Winfried Hümpfner, Leodegar Hunkeler, Mario Schoenenberger, Robert Stalder und Adolar Zumkeller die Ordenssatzung von Basilius, Augustinus, Benedictus, Franziskus und Ignatius. Der Herausgeber spricht von der Strahlungskraft der Ordensgründer, ihrer Sendung als Quelle der Fruchtbarkeit göttlichen Lebens in Kirche und Menschheit. Wichtiger als die äusseren Konstitutionen seien nach Ignatius das innwendige Gesetz der Liebe, das der Hl. Geist den Herzen einprägt. Noch nie wäre die ungeteilte Nachfolge Christi so bedroht gewesen wie heute - nicht durch Anstürme von aussen, sondern durch Missachtung von innen.

Mit dem Sündenfall sei die Einheit von Natur und Gnade, von Leib und Seele zerfallen. Im Kreuz, das zur Ordnung der alten Natur wurde, hat Christus die ursprüngliche Schöpfung wieder hergestellt. In ihm gibt es "Einheit und Unterscheidung" des Räte- und des Ehestandes. Wohl noch treffender spräche man von der Einheit in der Unterscheidung und infolgedessen eher nicht von der "Unvereinbarkeit der beiden Stände". "Die Ehe bindet die Liebe endgültig ins Partikuläre, die Jungfräulichkeit aber ins Universale des geistlich-leiblichen, eucharistischen Verhältnisses zwischen Christus und der erlösten Menschheit. Der Mensch in der Ehe ist relativ geborgen: der jungfräuliche ist vor der Welt und für sie entborgen, ausgesetzt... ins Exponiertsein des Kreuzes."

Hier dürfte sich die unadäquate Scheidung erweisen. Ist das Ehesakrament nicht auch ins Universale des eucharistischen Christus gesetzt und sogar am Kreuz exponiert? Ist nicht auch, gerade heute, die monogame Ehe "Kirche als Stadt auf dem Berge" im Gegensatz zu den "Talwandern" des polygamen Eros, der noch nicht widernatürlich sein muss (Thomas von Aquin)? Balthasar setzt den Akzent mehr auf die Scheidung als auf die Einheit in der Unterscheidung: Symptom seiner ursprünglichen Sympathie für die dialektische Theologie, die anstatt in Analogie in Antithetik sich bewegt. Biblisch bedeutet hier der Standpunkt der Analogie, wie Paulus andeutet, dass die andern Apostel - allerdings "hundertfach" vollkommener (auch so kann man Mk 10,29 verstehen) - zu ihren Ehefrauen zurückkehren konnten: "Wahrlich, ich sage euch: Niemand verlässt um meinetwillen und um das Evangeliums willen Haus, Bruder, Schwester, Mutter, Vater, Kind oder Acker, ohne dass er alles hundertfach wiedererhält: schon jetzt in dieser Welt - wenn auch unter Verfolgungen - Haus, Bruder, Schwester, Mutter, Kind und Acker, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben."

Dass Christi Nachfolge nicht ausschliesslich zölibatär, sondern von allen verstanden werden kann, bezeugt Lk 14,25 - 27. "Die den Erwählten zugedachten Rufe und Lehren" - schreibt deshalb H. U. von Balthasar - "können sich auch an alle wenden, denn der Sauerteig der Erwählung muss ja den ganzen Teig durchsäuern." Von dieser Feststellung setzt sich dann fast antithetisch der Satz ab: "Nur die Apostel, die alles verlassen haben, werden mit der grossen Sendung betraut, in alle Welt zu gehen und allen Wesen die Frohbotschaft zu verkünden." So gut die "Weltchristen" nicht berufen sind die Orden als "überholt aufzulösen" dürfen sie andererseits den Ruf zur Anteilnahme an der grossen kirchlichen Sendung nicht überhören.

7.7. Ehelos und Ehegewinn

Nach Paulus ist der Verheiratete "geteilt" (1 Kor 7,34). Der durch die Sünde bedingte Widerstreit zwischen Gottes- und ehelicher Liebe ist mehr faktisch als wesentlich "notwendig", er ist durch die Gnade mehr oder weniger auch heilbar. Des Apostels Schwarz-Weiss-Zeichnung entspricht dem untern Durchschnitt der sündigen Menschheit. Uebrigens kann der Jungfräuliche durch die Sorge um sein Prestige, durch seinen Geltungstrieb, seine persönlichen Ambitionen und Werke noch mehr abgelenkt werden als der Verheiratete durch seinen Partner. Der einsame "alte Adam" ist möglicherweise noch der anspruchsvollere Partner als die altruistisch korrektiv wirkende Ehefrau. Analog zum integrierenden Wort des Herrn: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt 18,20), gesteht Paulus: "Ihr möget essen oder trinken oder sonst etwas tun, tut alles zur Ehre Gottes" (1 Kor 10,31). Auch im Ehestand ist der Partner jeweils in Gott zu lieben und vermag Gott als der vorzüglich und eigentlich Angetraute geliebt zu werden. Gegen das Nebeneinander und Geteiltsein vertreten viele, wie beispielsweise Léon Bloy, das untrennbare Ineinander von Gott und Mensch im Geheimnis der Liebe. Vielleicht müssen Eltern sich bisweilen eher selber vergessen und an Gott und an die andern denken als Zölibatäre, die in sich selbst und in einem Ueberlegenheitsbewusstsein steckenbleiben können. In diesem Zusammenhang ist es relevant, dass H.U. von Balthasar "eine Sinnrichtung der Ordensentwicklung" feststellt, "deren Bewegung ohne Mühe als eine solche aus der Wüste und Einsamkeit der ersten Orden in die Welt hinein gelesen werden kann." Von dieser Tatsache aus lassen sich die heutige Entwicklung besser verstehen und die heiklen Fragen lichtvoller beantworten. Der Herausgeber erwähnt selber als Zeichen "zeitgemässer Lebendigkeit", dass heute freie Gruppierungen auf die Form des Ordensgehorsams verzichten und "innerhalb der Welt dem christlichen Leben in Kontemplation und Aktion obliegen". Die Räte sollen so in erschwerter Form weiterleben. R. Hostie hat gezeigt, dass in Ordensgemeinschaften jede neue Inspiration nach 150 - 200 Jahren erlischt. Die Institution tötet nicht selten die Inspiration. Das Alte wird ob seiner historischen Bedingtheit nicht mehr als Anruf erfahren. Während Organisation und Disziplin die dynamische Idee ersetzen, verblasst das Ideal. Die Einleitung macht die grosse Einheit des Geistes in den Ordensregeln deutlich: die Gehorsamsidee, beispielsweise, hält sich in ihrer Grundkonzeption ohne Veränderung von Basilius bis Ignatius von Loyola im Verlauf von dreizehnhundert Jahren durch. In der Einführung zu den "Grossen Regeln" des Basilius weist Balthasar auf das wertvolle urchristliche Zeugnis des Ignatius von Antiochien, der die Jungfräulichen und Asketen von dem Verderbnis warnt, mehr sein zu wollen als der (verheiratete) Bischof (Ad Polyc. 5,2). Die Kirche musste sich bald schon der dualistischen Ansätze erwehren: der Trennung in "Pneumatiker" und "Weltliche" (Montanismus), in "Pistiker" (gewöhnlich Glaubende) und "Gnostiker" (Origenes), in "Gerechte" und "Vollkommene" (Messalianismus). Die Synode von Gangra (340) verwarf die Herabsetzung der Verheirateten zu Christen zweiter Ordnung, ferner die Absonderung der Asketen vom Gemeindegottesdienst und die Einführung einer obligatorischen Mönchstracht für alle. Die grossen Ordensstifter hatten primär keine Institutionalisierung, keinen besonderen "Stand" im Auge, keine "Ordens"-, sondern eine "Kirchenregel" als christliches Leben. Basilius blieb "eine absolute und zentralisierte Auffassung des Gehorsams fremd". Am Anfang aller grossen Ordensgründungen steht die Sehnsucht nach der Urkirche. Auch diese Einführung betont "wie sehr alle grossen Gründungen im Geiste verwandte sind, und wie sehr man diesem Geist widerspricht, wenn man ihre Spiritualitäten voneinander sondert und gegeneinander ausspielt".

Anmerkungen:

7.8. Franziskus und Ignatius

Indessen besteht bei aller Einheit des Geistes und des Zieles zwischen den verschiedenen Ordensregeln eine bemerkenswerte Spannung im Gebrauch der Mittel. An Franziskus gemessen, der die Wissenschaft als gefährlich für die Brüder ablehnte, enthalten die Satzungen der Gesellschaft Jesu eine Ueberbewertung der menschlichen Mittel, während für Ignatius die franziskanische Form ihre Unterbewertung bedeuten muss. Von der heutigen Glaubenskrise aus gesehen, war die Sorge des Franziskus nicht unbegründet. Man kann sich heute fragen: Was verspricht mehr, Nutzen oder Schaden: eine minimale oder maximale Heranziehung moderner Wissenschaft? Oder zeitgemässer gefragt: wo ist die Gefahr zu weltlichem Prestige und Geltungsdenken oder zum Verrat am Evangelium grösser: im positivistischen Trend moderner Wissenschaftspflege, oder in der Priesterehe? Jener ist mitschuldig an einer bedenklichen Verintellektualisierung des Christlichen und an einer schweren Glaubenskrise, diese jedoch könnte durch einen wesentlicheren Beitrag des Fraulichen aus eben dieser vornehmlich männerischen Krise herausführen.

Wenigstens der äussern Formulierung nach klingt das ignatianische "die Welt hinter sich lassen" dualistisch, wie auch die, die Laienbrüder betreffende Weisung nach innen: " sie müssen mit dem Los der Martha in der Gesellschaft zufrieden sein". Franziskus hat dem gegenüber durch sein "ihr alle seid Brüder" ausdrücklich vorgelebt, dass Martha und Maria, Handarbeit und Spiritualität auch im Weltgetriebe nicht unvereinbare Gegensätze sind. Die Minderbrüder sollten, ob Priester oder Laien, gelegentlich auch armen Bauern zur Erntezeit beistehen, um dadurch die Standes- und Klassenunterschiede zu überbrücken helfen.

Indessen vermag nichts die Einheit im Geist und die integrierende Tendenz der verschiedenen Orden besser zu illustrieren als die Tatsache, dass der Jesuit Mario Galli eines der bedeutendsten Franziskusbücher geschrieben hat. Wo tritt einem das kluge und wirksame Streben nach Heiligkeit überzeugender entgegen als in den Ordensregeln, und doch, oder gerade deshalb glaubt man in ihnen auch das Trippeln von Kinderschuhen zu hören. Ob dieser Zweischneidigkeit wollen manche Ordensgründer (Basilius, Franziskus) weder "Regel" noch "Amtsgewalt" kennen. Denn "Gesetz steht nicht notwendig, aber doch oft dem Geist im Wege" (L. Casutt).

Der von kühner Unternehmungslust getragene Franziskus plädierte für viel Freiheit, für weltweite Aktivität und eremitorische Abgeschiedenheit und lehnte einengende Normen bewusst ab. Eine Regel überschattet die auf den Hl. Geist verwiesene und in Dienst genommene Person mit ihrer Freiheit und impliziert die Gefahr, den einzelnen zu sehr als Mittel und Rad im Dienst einer Gesellschaft zu sehen. Deshalb verlief die Abfassung der Ordensregeln oft recht langwierig und verwickelt. Franziskus spricht genialisch nicht von "Regel", sondern von "Leben" und nachkonziliarisch modern: Ob Priester oder Laie "keiner soll sich Prior nennen ... sie sollen einander die Füsse waschen ... wer immer kommt, Freund oder Feind, Dieb oder Räuber soll gütig aufgenommen werden", wie Mitglieder. Man möchte fast sagen unter so vielen "Zuschneidern" war Franz Künstler und Schöpfer. Im Grunde gibt es nur eine Spiritualität, eine "Regel" für alle Christen, die Produzent und Kaufmann und sogar den Bankier als Freund der kleinen Leute beseelt.

7.9. Rat oder Gesetz?

Es bestehen Aenlichkeiten, mehr äusserer Art, zwischen Qumran und neutestamentlichen Gemeinschaften. Im Spezifischen, abgesehen vom Glauben an Christus, sollten beide allerdings differieren. Das Christentum erträgt die verschiedensten Frömmigkeitsformen und äusseren Einrichtungen, aber sein Geist ist intransigent und kompromisslos. Welch hohe Anerkennung hatte Jesus für den einsiedlerischen Täufer mit seiner ausgefallenen Lebensweise. Man darf alles, nur nicht den Geist oder die Freiheit verraten, die verbietet, meine eigene Lebensform andern zum Gesetz zu machen. Deshalb hatten Ordensgründer Mühe, Regeln zu schreiben. Der Geist ist das unerbittliche Kriterium, an dem Christus die Pharisäer richtet. Was sagt denn dieser Geist? Der Sabbat, die Ordensregel, das Zölibat sind um des Menschen willen da und nicht umgekehrt (vgl. Mk 2,27).

Auch um des Zölibates willen leiden Südamerika seit Jahrhunderten, andere Kontinente und heute sogar Europa unter grösserem Priestermangel. Lässt sich das Wort, das Jesus hier in ähnlicher Lage an die Pharisäer richtete, aufheben: Hypocritae? Jene wollten frömmer sein als Jesus: wir mit der "Aufwertung" des Rates zum eisernen Gesetz doch auch. Jesu Wort: "Wer es fassen kann, der fasse es" lässt den Fassenden im Freiheitsraum. Heisst Freiheit aber nicht, dass niemand, nicht einmal der Fassende selber, eine Notwendigkeit daraus machen darf? Deshalb schrieb der Martyrerbischof Ignatius von Antiochien: "Wenn jemand zur Ehre des Fleisches des Herrn in der Keuschheit zu bleiben vermag, so bleibe er es ohne Selbstruhm. Rühmte er sich, so ist er verloren, und wird er als mehr angesehen, als der Bischof (der damals verheiratet war), so ist er dem Verderben verfallen" (Br. an Polykarp, 5,2).

Teile ich nicht eine kommunistische Haltung, wenn ich den "Fassenden" durch kirchenrechtliche Absicherung von aussen zu nötigen versuche und ihn, im Falle, dass er es nicht mehr "fasst", als Abtrünnigen einschätze? Die "Krise der Berufungen" kann nicht bloss beim Berufenen, der nicht hören will, sondern auch an der Art der Berufung liegen. Can. 1307 definiert das Gelübde als ein Gott gegebenes Versprechen in bezug auf ein Gut. Nun geht es aber nicht um eine Sach-, sondern um eine Selbsthingabe. Das Gelübde impliziert als Du-Treue eine interpersonale Relation. Das Gelübde kann nur bestehen, wenn der Gelobende im Ordenshaus oder im Presbyterium, in die er eingegliedert, eine angemessene persönliche Verwirklichungsmöglichkeit vorfindet. Zu ihrer Erhaltung sind der Treue ganzmenschliche, spirituelle und psychologische Hilfen entgegenzubringen, wie echte Brüderlichkeit und selbstlose Partnerschaft es eingeben und verlangen. Wie steht es damit in christlichen Gemeinschaften? Gehen die Mitglieder darauf aus, einander gelten zu lassen, zu fördern oder einander auszuschalten? Die Fähigkeit zu einem Gelübde setzt ein gewisses Mass von Urvertrauen, von Leistungs- und Entscheidungskraft voraus.

Bei mangelnden Voraussetzungen ist es nicht zu verwundern, dass heute Ordensgemeinschaften auseinanderbrechen. Es gibt ausser den Austritten eine grosse Zahl ausserhalb ihres Hauses lebender Religiosen. Wenn einerseits Institute eingehen, so entstehen auf der andern Seite neue in fast gleicher Zahl. Das soll keine Aufforderung an die alte Orden zur Selbstaufgabe sein, aber ein Ruf zur Bereitschaft, neue Formen aus sich heraus wachsen zu lassen als Eintreten in die letzte Armut des Samenkornes unseres Herrn, die in ein neues Leben einmündet. So treten manche aus, oder treten nicht ein, die der kanonischen Sicherheit - mit einer Regel, die bisweilen höhere Geltung geniesst als das Evangelium - die Dynamik eines charismatischen Lebens, das in erstarrten Lehrformulierungen und unter, als ewig und unabänderlich erachteten, Regeln weniger möglich ist.

Es entstehen so "Basisgemeinschaften", die zwar in der Welt, aber nicht von der Welt sind. Männer und Frauen in echter Gleichwertigkeit der Geschlechter, Eheleute und Ehelose, Priester, Religiosen und Laien, Handarbeiter und Intellektuelle, Menschen in verschiedensten Lebensstellungen unter dem einen und demselben Ruf. In diesen, dem Evangelium gemässen, offenen Kleingruppen von starker innerer Lebendigkeit gelten die Priester und Ordensleute ohne Ueberlegenheitskomplex als einfache Brüder unter ihren Brüder und Schwestern.

Die Führungsrolle eines oder mehrerer Mitglieder stützt sich auf das Urteil und die Verantwortung aller. Die Basis ist heute überall, auch im Geschäftsleben, mündiger geworden, was eine Dezentralisierung und Demokratisierung bedingt. Man wünscht eine dienende Leitung, die zur Diskussion bereit ist. Alle grossen Pläne und Entscheidungen werden gemeinsam beschlossen. Jeder einzelne vermag Initiativen zu ergreifen und zum Wohle des Ganzen lenkend tätig zu werden.

7.10. Hefe im Teig

Das treibende Motiv, das diese Christen zusammenführt, heisst Weltpräsenz, um die heutigen Menschen bei ihrem Suchen nach dem Sinn des Lebens zu begleiten und ihr Dasein zu teilen. Indem Bedürftige und Suchende zu Tisch geladen werden, bilden diese Gemeinschaften eine Reaktion gegen die Anonymität und Entpersönlichung unserer heutigen Zivilisation. Weitere Antriebskräfte sind der Wille zum politischen Engagement, das Bedürfnis nach spontanerem Beten und charismatischer Liturgie, die Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung. Der Antimilitarist widersetzt sich auch dem Profitdenken, das um des Geldes willen zur Gewalttat neigt.

Komplementärerweise geht das Eintauchen in die Welt Hand in Hand mit einem Bemühen nach Kontemplation, in der evangelische Freiheit gelebt wird. Das kontemplative Leben soll nicht der Klausur vorbehalten bleiben. Zur Erneuerung der persönlichen Meditation, auch mit Hilfe östlicher Methoden, fügt sich die Einübung gemeinsamer Bewegung, sogar tänzerischer Ausdrucksformen im Gebet, die Wiederentdeckung gemeinsamen Fastens und des Stundengebetes.

Zwischen allen Gliedern der Gruppe ergeben sich Primärbeziehungen mit gegenseitigem Sich-Kennen. Damit wird auch die ungebührliche Partikularität des Einzelpaares, der isolierten Einzelfamilie behoben, die bisher das Grab gemeinschaftlicher Affektivität waren und die Konsumgesellschaft förderten. Der Abbau der herkömmlich bürgerlichen Entfremdungen entspricht der Urgemeinde, die auf keine Absonderungen und kein Kennzeichen als dem der Liebe zielte. Ehe und Familie werden in ihre wahre Rolle zurückgeführt: Urzelle der Verkündigung der Frohbotschaft zu sein.

Das Herrenmahl erfordert - im Anfang tat es noch diese seine grosse Wirkung - auch Gemeinschaft und Ausgleich aller Güter zwischen denen, die sich Christen nennen. Im Anschluss an Christus ist die Armut zu lindern, nicht zu idealisieren. Anstelle der Bettelarmut und des Almosens, das eine "bürgerliche Verdünnung der Lehre Christi" ist, tritt die Anteilnahme am Schicksal der einfachen Menschen, das Solidarischwerden mit der Not eines Lebens, das in Misserfolg und Tod endet. Die Armut der Jünger stand in hautnaher Relation zu den Armen. Die Jünger sollen diese in ihre Tischgemeinschaft aufnehmen (Kardinal Lercaro). Dabei geht es auch um die Vermittlung von Wissen und Ausbildung der persönlichen Fähigkeiten.

Dieser Austausch vollzieht sich vor allem unter den Mitgliedern der Gemeinschaft. Er ist spiritueller, affektiver und kultureller Art. Er drückt sich aus im persönlichen und freien Eingeständnis dieser oder jener Schwierigkeit und kann zu echten Beichten mit sakramentaler Absolution führen. Im übrigen gibt es keine Erkenntnis oder Erfahrung, von der ein Glied der Gruppe profitiert, die nicht auch allen andern mitgeteilt würden. Auf der materiellen Ebene geschieht dieser Austausch durch gemeinsame Mahlzeiten und vielleicht auch Wohnung und eine gewisse Gütergemeinschaft mit eventuell gemeinsamer Kasse: "Von jedem, entsprechend seinen persönlichen Fähigkeiten, an jeden, entsprechend seinen eigenen Bedürfnissen." Gruppen, die einen materiellen Austausch ablehnen, beginnen zu verflachen und sich aufzulösen. Man bemüht sich auch um eine Partnerschaft mit einer ärmeren Gemeinschaft, ohne sich als Klasse von Vollkommenen zu geben, sondern einfach als jene, die den Weg Jesu gehen.

7.11. Betrübt den Geist nicht

Der Religiose lebt seine Armut im abgeschlossenen Raum. Diese Selbstbezogenheit wurde nicht selten zur Quelle zahlreicher Uebel. Er lebte in einer kindhaften Sicherheit, hatte kaum eine Ahnung vom Wert der materiellen Dinge und hatte mangelndes Verständnis für die materiellen Sorgen seiner Zeitgenossen. Die Loslösung vom Eigentum, und der Teil an Verantwortung daran in den neuen Gemeinschaften ist wahrhaftiger, anspruchsvoller und steht mehr auf dem Boden des realen Lebens. Wer durch die Zeichen der Zeit den Hl.Geist zu hören glaubt, erfährt die Anziehung der neuen Gemeinschaften, die den Erwartungen unserer Zeit besser entsprechen als die alten Institute. Nicht selten erklären Religiosen, die in neuen Gemeinschaften leben: "Das ist es, was ich gesucht habe, als ich seinerzeit in einen Orden eingetreten bin." Hier finden sie eine, auf menschlicher Wärme gründende Brüderlichkeit, ein der menschlichen Vielfalt entsprechendes Milieu, ein persönlich bedingter materieller und spiritueller Austausch, ein liturgisches Gruppenerlebnis durch freie, persönliche Ausdrucksformen. Damit kehren sie zu den Wurzeln des Christentums zurück, das ja auch einen Bruch mit der traditionellen jüdischer Welt darstellte. Das Charisma der spontanen Gemeinschaft, die Verfügbarkeit dem Hl. Geist gegenüber, die Aufmerksamkeit für das Heute, stehen in einem gewissen Gegensatz zu einer überorganisierten Kirche, die ihre Mitglieder auf zuviel menschliche Satzungen festlegt und keinen echten Austausch, keine Teilgabe und keine Teilnahme lebt. Gerade die Orden waren womöglich noch starrer als die "gewöhnliche Kirche" und sperrten sich in ein immer festeres Gefängnis. Dahinter steht: der kollektive Reichtum, der Wille, sich und die eigene Organisation zu verewigen, die Beziehung zur "gewöhnlichen", hochorganisierten Kirche und die Versuchung, das eigene Institutionalisierte in Neugründungen zu multiplizieren. Die neuen Gemeinschaften wollen grundlegende Normen für eine wahrhaft menschliche Gesellschaft erproben und hoffen, dass diese durch Ansteckung zu einer radikalen Umwandlung der Gesellschaft führen kann.

7.12. Fehlbarkeit in Unfehlbarkeit

Der ausgewogene Diskussionsbeitrag zur päpstlichen Unfehlbarkeit von P. Magnus Löhrer regt, durch seine klärende Darstellung, zu weiterer Durchleuchtung der Frage an! 1) Unternehmen wir es einmal vom philosophischen Vorverständnis aus.

7.12.1. Was man immer schon und doch nicht wusste

Der obige Titel kann, um es vorwegzunehmen, ein Doppeltes bedeuten:  1. Kreatur, auch Kirche, ist grundsätzlich fehlbar, wird aber nach dem Ratschluss Gottes durch, und in Christi Unfehlbarkeit, gehalten.  2. Kirchliche Lehren, auch Kathedralentscheidungen, unterstehen der menschlich begrenzten Ausdrucksmöglichkeit und dem geschichtlichen Werdecharakter alles Geschaffenen und können deshalb keine absolute, sondern nur eine relative Unfehlbarkeit beanspruchen. Ein vertieftes Verständnis des Verhältnisses Bischofskonferenz-Papst beispielsweise, um bei der definierten Unfehlbarkeit des Papstes zu bleiben, könnte zu einer besseren Neuformulierung des Dogmas führen. In solchen Definitionen ist ein wandelbares und unwandelbares Element zu unterscheiden. Wie diese Unterscheidung begründet und erklärt werden muss, ist auch Sache eines philosophischen Vorverständnisses, das eine bewährte Ontologie zu bieten vermag. Das hier entworfene Versuchsmodell möchte dem versöhnlichen Fortgang der Kontroverse dienen.

7.12.2. Zweierlei Reiche: zweierlei Massstäbe und Aussageformen

Mit dem Sein und der Wahrheit ist es keine einfache (univoke) Sache. Man spricht deshalb vom analogen oder vielschichtigen Charakter des Seins. Wie gern möchte man die Gläubigen von dieser grundlegenden Erforschung unserer Daseins- und Denkweise verschont wissen. Es lässt sich aber nicht davon absehen, wenn man nicht das Opfer dieser im westlichen Alltag so ausschliesslich wichtig genommenen Welt des Quantitativen werden soll. 1000 Gramm sind ein Kilogramm und 2 + 2 = 4; daran gibt es in Ewigkeit nichts zu rütteln, sowohl bei uns nicht, als auch nicht in China oder in Afrika. In dieser wirtschaftlichen und moralischen Welt der Praxis gilt das Wort Jesu: "Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein! Was darüber ist, das ist vom Bösen!" (Mat 5,37). Dieses Wort hat seinen Sitz im Leben und seine Gültigkeit in einer Gesellschaft, wo listige Falschheit behaupten konnte: Beim Tempel schwören gilt nicht, beim Gold des Tempels jedoch gilt. Nun wissen wir aber durch die Relativitätstheorie, dass schon in der Physik Aussagen, je nach Bereich, von unterschiedlicher Bedeutung sind und somit ein differenziertes Verständnis erfordern. Noch viel mehr gilt dies im Bereich des Religiösen und der Theologie, in denen sich irdisch Menschliches und transzendent Göttliches begegnen. Der heilige Thomas von Aquin gab dem Leser seiner theologischen Werke zu bedenken: Glaube nun ja nicht zu wissen, was Gott ist, höchstens kannst du dir vorstellen, was er nicht ist. Das gilt wohl von allem Göttlichen, auch vom Wirken Gottes am Menschen, das wir Gnade nennen. Als der Mitbruder Raynaldus Thomas, wohl nachdem er mystische Erleuchtungen erfahren, aufforderte seine "Summa theologica" zu vollenden, entgegnete dieser: "Ich kann nicht mehr, denn alles was ich geschrieben, erscheint mir wir Stroh." Die Mystiker sind sich einig über die Unaussprechbarkeit Gottes. Es gibt gerade noch ein gleichnishaftes, analogisches Sprechen über Göttliches. Die von Thomas angedeutete via negationis (als Weg der Verneinung in der Erkenntnis und in der Aussage) lässt uns von einem Satz der Bibel und des Dogmas über Göttliches sagen: Er ist wahr und zugleich auch nicht wahr (nämlich so wie wir uns die göttliche Wirklichkeit vorstellen).

7.12.3. Aeltestes und zugleich neuestes Lösungsprinzip: die Analogie des Seins

Damit stellt sich aber die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis von Göttlichem überhaupt. Wenn unser Erkennen von Göttlichem wahr und zugleich nicht wahr ist, was schützt da noch vor Relativismus, Skeptizismus und Agnostizismus? - Diese kommen hier nicht in Frage, aus dem einfachen Grund, weil dieses Nicht-wahr-Sein kein absolutes, antithetisches ist, sondern dem relativen Nicht-Sein unserer potentiellen Daseinsweise entspricht. Als potentielles bleibt unser Nicht-Sein und das Nicht-wahr-Sein unserer Aussagen über Göttliches auf den absoluten Akt (Gott) ausgerichtet und auch zu spätern Aktualisierungen und ergänzenden Entwicklungen offen. Es erhält ja seine Definition (Nicht-Sein) und deshalb auch seinen Anteil vom absoluten Sein. Dieser, durch die relative Negation gekennzeichnete und doch wieder aufs Absolute gerichtete An-spruch, heisst deshalb ana-logische Erkenntnis. Unser Wissen ist im Vergleich zum göttlichen Wissen nicht univok (gleich göttlich), aber auch nicht aequivok (absolut anders), sondern ana-log, d.h. unser Erkennen ist wenigstens nach oben auf (ana-) das wahre göttliche Wissen angelegt, also entfernt richt-ig, d.h. der Richtung nach zur göttlichen Wahrheit unterwegs.

7.12.4. Analogie als potentielle und relative Anteilnahme am Absoluten, gegen absolutistische Identifizierung und antithetische Aufspaltung

Absolut ist also Gott allein. Jede Kreatur, auch die Kirche, ist als werdende auch nicht. Dies allerdings wieder nicht absolut antithetischer-, sondern relativerweise, so dass die Anlegung (Potenz) aufs eigene und göttliche Sein ausgerichtet bleibt. Daraus resultiert kein Relativismus, sondern viel mehr eine Relation zu Gott. Noch deutlicher gesagt: Gott allein ist absolute Aktualität oder die Fülle des Seins und der Wahrheit. Wir aber, oder die Kirche, haben nur eine potentielle oder begrenzte Aktualität, also auch nur einen begrenzten Anteil an der absoluten Wahrheit. Dieser Anteil ist nun, im Gegensatz zum quantitativen Bereich, kein Stück von einem Ganzen, sondern eine andere, niedrigere und fehlbare Seinsweise. Daher können auch Definitionen der Kirche nie als absolut wahr, wohl aber als relativ gültig oder unfehlbar bezeichnet werden.

Als Kreatur ist auch die Kirche weniger aktuell als potentiell, d.h. eher der Möglichkeit nach und annähernd in der Wahrheit. Jemand, dem gegebenenfalls entgeht, dass er nur annähernd die Wahrheit weiss, kann schlimmer daran sein als ein anderer, der diesbezüglich gar nichts weiss. Mehr noch gilt dies von der Kirche, die sich ständig des Mysteriencharakters ihres religiösen Wissens bewusst ist und meint, die Wahrheit des Glaubens wäre durchs kirchliche Lehramt gleichsam in zählbarer Münze adaequat auszahlbar. Man kennt den diesbezüglichen sinnvollen Witz. Auf die Frage: Wie ist es nun drüben?" soll der aus dem Jenseits Zurückgekehrte geantwortet haben: "Totaliter aliter!"

Demgegenüber laufen wir Menschen der Kirche Gefahr, unserem eigenen Totalitarismus zu verfallen. Wir identifizieren (wenigstens praktisch wie Hegel) Geschaffenes mit Unerschaffenem, dogmatische Definitionen mit absolut göttlicher Wahrheit, kirchliche oder päpstliche mit göttlicher Autorität. Anstatt differenzierend zwischen Schöpfer und Geschöpf (Kirche) besser zu unterscheiden, um desto wirksamer zur Vereinigung mit Gott zu gelangen und die menschliche Unzulänglichkeit der göttlichen Wahrheit und Allmacht anheimzustellen, hindern wir Gott, sich allmächtig unser und seiner Kirche anzunehmen. Der ungebührlichen Identifizierung entspricht anderseits (ganz nach Hegelscher Dialektik), an Stelle der Einheit in der Unterscheidung, eine gewisse Tendenz zur Trennung, beispielsweise zwischen Papst und Konzil (Bischofskonferenz), Aemterstaat und Volk Gottes. Ihrem göttlichen Entwurf nach sind die verschiedenen Bereiche und Elemente der Wirklichkeit weder identisch (univok), noch antithetisch gespalten (aequivok), sondern aufeinander angelegt (potentiell analogisch).

7.12.5. Christi Dogmen und Definitionen in Bildern, Analogien und Gleichnissen

Analogie und via negationis, wie Bibel und Mystik sie kennen ("Ich Bin derjenige, der Ist, du bist diejenige, die nicht ist" - Christus zu Katharina von Siena), sind für die Theologie und für das geistliche Leben gleichsam die höhere Mathematik. Leider bedienen wir uns aber in der lehrenden wie in der hörenden Kirche oft nur des Kleinen Einmaleins. Man gefällt sich in möglichst vielen begrifflichen Lehrsätzen und Definitionen, um über das Göttliche zu verfügen. Denzinger wird nach Art einer Sammlung diskreter, geometrischer Einheiten benützt, mit denen man ähnlich wie mit den Paragraphen eines Gesetzbuches umgeht. Warum hat Christus nicht in Begriffen, sondern nur in Bildern, Analogien und Gleichnissen von Gott und Göttlichem gesprochen? Die Antwort geht aus dem bereits Gesagten hervor. Alle drei weisen über sich hinaus ins Transzendente und zwingen zur via negationis. - Arzt heile dich selbst! Ja, und doch wieder nicht. Denn die vom rationalen Westen so tragisch missverstandene Begrifflichkeit von Akt und Potenz ist eher intuitiv als rational als Symbolik der Integration zu erfassen, vergleichbar der grossen Weltsymbolik, wie beispielsweise des Yin und Yang im chinesischen Tao.

7.12.6. Mehr gefragt als dogmatische Definitionen: der Becher Wassers

Es ist auffallend, dass in der Diskussion über die Unfehlbarkeit nicht ausgiebiger von Christus und vom Verhältnis Kreatur-Gott die Rede ist. Erst von der Integration Gott-Kirche, vom Ganzen aus, klärt sich alles und erhält die Kirche den richtigen Stellenwert. Demnach ist die Kirche grundsätzlich fehlbar, trotzdem wird sie, wie damals der strauchelnde Petrus, von Christus, dem Unfehlbaren, gehalten, nach Massgabe nicht unserer ultimativen Forderung, sondern seiner weisen Vorsehung. Vielleicht erhält Gott die Kirche nicht wegen, sondern trotz des wissenschaftlich rational exakten Wahrheitsverzeichnisses. Als die Heerführer, wohl nicht ohne menschlichen Perfektionismus, und Triumphalismus, das Kriegsheer der Israeliten zählten, verloren sie den Beistand Gottes und die Schlacht. Ein Organismus lebt und ist gesund, auch wenn der Träger keine exakte Vorstellung davon hat. Nach dem Wort der Heiligen Schrift wenigstens, wird Christus nicht nach der Dogmatik, sondern nach dem Becher Wassers, der gereicht oder nicht gereicht wurde, die Welt richten. Vielleicht betonen wir heute jene allzusehr, weil wir diesen vernachlässigen.

Die eschatologische oder endgültige Wahrheit ist aber ebenso wenig als der eschatologische Richter, so sehr wir Menschen es wünschen mögen, vorwegzunehmen. Das wahre Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der Kirche dient gerade der Eschatologie. Vielleicht ist die Kirche auch deshalb in der Krise, weil wir, was wesentlich geschichtlich und unzulänglich ist, ungebührlich mit göttlicher Letztverbindlichkeit und absoluter Unfehlbarkeit, die nur eschatologisch sein können, identifizieren.

Konnte Papst Johannes vielleicht deshalb von Dogmatisationen absehen, weil sein persönliches Leben bereits eine überzeugende Lehre war? Bedurfte die Kirche im Laufe der Zeit, um so mehr der unfehlbaren Definitionen, weil unser Zeugnis für Jesus nicht mehr unfehlbar einschlug? Sind wir so sicher, dass unser subtiler Streit um die Bedingungen der Unfehlbarkeit beim Gericht nicht zu den Gesprächen jener gezählt wird, die kniffig unterschieden, ob man beim Tempel oder beim Gold des Tempels geschworen hatte?

7.12.7. Paulusdienst am Petrusamt

Petrus hat den Herrn verleugnet. Christus hat ihm trotzdem, oder gerade deshalb, den ersten Hirtendienst in der Kirche anvertraut - nachdem er über seinen Fall bitterlich geweint und ihn bereut hat. Der Zusammenhang ist providentiell, weil auch seine Nachfolger, sie müssten nicht Menschen sein, fehlen können und gefehlt haben. Des Petrus Reue und Umkehr hat seinem späteren Dienst nicht geschadet, im Gegenteil. Aber ein unbussfertiger, seine Schuld vertuschender Petrus, hätte Vertrauen und Glaubwürdigkeit verloren. Denken nicht viele Menschen der Kirche gerade umgekehrt: Nur keine Rückfrage nach kirchlichen Entscheidungen. Wo bliebe dann der Glaube und das Vertrauen des Volkes? Wir Diener der Kirche müssten uns, in jedem bestimmten Fall, ernstlich fragen, ob es uns wirklich um die Ehre Gottes geht oder nicht mehr noch um unsere persönliche Ehre und das Prestige der Kirche. Jenen aber, die angeblich zum Schutze der kirchlichen Autorität meinen, Fehlentscheidungen vertuschen zu müssen, könnte man sagen: Petrus beweist das Gegenteil. Weder die gläubige Reue nach der Verleugnung des Herrn, noch sein reuiger Glaube und seine Kehr, nach den Vorhaltungen des Paulus, haben dem Vertrauen des Volkes in den vorbildlichen Diener der Kirche Abbruch getan. Aehnlich wird die herrschende Diskussion, um die wirksamere Art des Petrusdienstes, diesem und der Kirche nicht zum Schaden, sondern zum Nutzen sein.

Anmerkungen:

8. GOTTESBEWEISE IN DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNG

Das von Walter Heitler, dem bekannten und preisgekrönten Physiker, unter dem Titel (Transzendenz im Stufenbau naturwissenschaftlicher Entwicklung <Gottesbeweise>) erschienene Buch (1) wird heute wohl von manchen Geistes- und Naturwissenschaftern als Provokation empfunden. Die Zeit der systematischen Gottesbeweise liegt längst in der Vergangenheit. Seit Kant spricht man im Gegenteil von Beweisen, dass es keine Gottesbeweise geben könne. Dem Verfasser geht es nun nicht direkt um diese alte Streitfrage. Er will nicht thematisch oder vorsätzlich die religiöse Frage stellen. Wenn sich trotzdem in seinen naturphilosophischen Betrachtungen Religion erreignet, dann geschieht es ohne Absicht, zwangsläufig. Das grosse Anliegen des Autors ist ein praktisches, uns allen gemeinsames: das Ueberleben der Menschheit. Dieses ist nur gewährleistet durch eine ganzheitliche Weltanschauung und Lebensauffassung. Deshalb die Forderung nach Läuterung der sogenannten "Wissenschaft", die insofern nur eine halbe ist, als sie den geistigen und metaphysischen Aspekt der Wirklichkeit misskennt. Als positivistische Reduktion der Wirklichkeit aufs Materielle, führt sie zur Vernichtung der Ethik und dem Niedergang des Religiösen. Indem die Technik ein Kind dieser Halbwissenschaft ist, unterliegt auch sie dem gleichen, einseitigen Fortschritt und verstösst gegen Gesundheit und Ganzheit des Lebens.

8.1. Die verschiedenen über- und untergeordneten Bereiche der Natur

Die ungewöhnliche Leistung des Buches liegt nun darin, dass es aus den naturwissenschaftlichen Fakten das Geistige, Schöpferische und Metaphysische überzeugend aufleuchten lässt. Schon die physikalische Analyse der Materie lässt erkennen, dass lebloser Stoff mehr ist als gestaltlose oder gesetzlose Masse; er gehorcht sinnvollen, mathematisch darstellbaren Gesetzen. Das mathematische Gesetz hat seinen Ursprung in einer geistigen Welt. Punkt, Linie und Kreis weisen über die grobe, unscharfe Verwirklichung in eine begriffliche geistige Welt der Urbilder, die in der materiellen Welt wirken. Die Gesetze der Physik bestimmen ein weitgehend determiniertes Verhalten der leblosen Materie. Durch das vegatative-animalische und menschliche Leben erweist sich die Natur als Symbiose von qualitativ und seinsmässig unterschiedlichen, hierarchisch gestaffelten Ordnungen oder Reichen. Bereits in der Pflanzenwelt finden sich völlig andere Gesetze und Begriffe. Die Pflanze entwickelt sich von der befruchteten Keimzelle an durch Zellteilung der Pflanzengestalt mit ausdifferenzierten Zellen für eine spezielle Funktion. Eine Blattzelle hat eine andere Funktion als eine Wurzelzelle. Der Bauplan ist für jede Pflanze spezifisch anders und irgendwie bereits in der Keimzelle enthalten. Jede Pflanze ist ein klar abgegrenzter Organismus, obwohl er in enger Wechselwirkung mit der Umgebung steht. Seine Materie wird stets von aussen neu ersetzt. Ein Sandhaufen lässt sich quantitativ zerteilen, nicht aber ein Gänseblümchen, das seinen Bauplan, seine Gestalt hat und zielgerichtet ist. Es existiert so etwas wie eine Zentralinstanz; sie lenkt die komplizierten physikalischen und chemischen Vorgänge, die in ihrer Selbständigkeit zurückgedrängt, eingeschränkt und höheren biologischen Gesetzen unterstellt sind. Bei den Tieren findet sich wieder etwas völlig Neues vor: Sinnesempfindungen, Gefühle, Bewegungsfreiheit. Wie mit einem physischen oder chemischen Reiz eine Empfindung verbunden ist, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Eine sensorielle Empfindung ist weder rein materiell aus dem Nervensystem noch rein psychisch erklärbar. Beides durchdringt sich gegenseitig. Physik und Chemie allein erklären nichts; sie sind eingeschränkt und werden vom Leben überspielt. Die auf Begreifen beruhende Sprache des Menschen offenbart wiederum etwas ganz Neues, das wir als Geist bezeichnen. Der menschliche Kehlkopf, der allein zum Sprechen befähigt, hat deshalb auch keine Parallele bei irgend einem Tier. Nur der Mensch besitzt aufgrund des freien Willens Moralität. Nur der Mensch ist zu Wissenschaft, Kunst und Religion fähig. Wer all das vom materiellen Gehirn ableiten zu können glaubt, ist für den Hauptteil des Phänomens, der über das Naturwissenschaftliche hinausweist, blind (S. 13-27).

8.2. Individualität und Innerlichkeit als Zeugen des Geistes

Die zunehmende Vollkommenheit der hierarchisch gegliederten Naturreiche ist durch wachsende Zentrierung, Individualität und Innerlichkeit bis zum Selbstbewusstsein im Menschen gekennzeichnet. Masse kann, ohne Aenderung ihrer Qualität unterteilt werden. Atome sind austauschbar und noch keine Individuen. Demgegenüber zeigt sich Leben fast nur in Form von ganzheitlichen Individuen. Eine halbierte Rose ist keine Rose mehr. Je höher die Formen des tierischen Lebens, desto mehr zeigen sich individuelle Unterschiede. Wir nennen unsere Haustiere mit Namen. Unter den Menschen gibt es Grade der Individualität und Persönlichkeitsentwicklung. Die der Magik und Mythik ausgelieferten Frühmenschen waren nicht, oder nur wenig, individualisiert. Von heutigen persönlich geprägten Menschen können wir Biographien schreiben, von denen keine sich mit der anderen deckt. Als dekadente Gegenbewegung ist jedoch heute auch die Vermassung im Gang. Heitler sieht im wirtschaftlich-technischen Wohlstand eine Versuchung zur Vermassung und spricht von einer gewissen Wirtschaft als dem "Gesslerhut" vor dem man sich beugt, weil er materiellen Wohlstand verspricht. Indessen zerstörten wir nach und nach die lebendige Umwelt und die menschliche Würde mit der Tendenz, den Menschen in einer mechanisch-maschinellen Existenz zu versklaven. Zur Rettung aus diesen sozialen Zwängen besitzt der Mensch als eigenes Selbst das Privileg der Selbstbeobachtung. Die verbreitete These, der Mensch sei das Produkt von Vererbung und Umgebung ist nur bedingt richtig. In jedem Menschen offenbart sich ein Einmaliges, das nicht als Höherentwicklung des tierischen Instinktes, sondern nur als ganz neue Kategorie (Ich, Selbst) verstanden werden muss, die letztlich als geheimnisvolle Entsprechung Gottes in diesem seinen Ursprung hat. Mit den modernen Mitteln können wir Struktur und Vorgänge im Innern unseres Körpers beobachten (Röntgenstrahlen, Elektroencophalogram). Nicht weniger als den Leib können wir unser eigenes Innenleben erkennen und analysieren. Das doppelte "Erkenne dich selbst" eröffnet uns völlig verschiedene Welten, die indessen in diesem Leben untrennbar verflochten sind, was wir als Leib-Seele-Einheit bezeichnen. Diese kann weder als Vermischung von Geist und Stoff, noch als eigentlicher (auftrennender) Dualismus verstanden werden. Was untrennbar verflochten, ist gerade deshalb, auch unterscheidbar. Deshalb können beide unabhängig voneinander beobachtet werden. Weil diese Einheit eine Zweiheit oder Dreiheit (Leib, Seele, Geist) darstellt, empfindet der Autor keinerlei Schwierigkeit, eine Trennung im Tode und die Fortexistenz des menschlichen Selbst anzunehmen (S.29-43).

8.3. Vom Sinn und Ziel des Lebens

Infolge einer entgeistigten, nur auf wirtschaftlichen und technischen Fortschritt eingestellten Unkultur, leiden heute viele Menschen unter dem Gefühl der Sinnlosigkeit. Anstelle des eigentlichen Sinnes und letzten Zieles des Menschen, bieten sich heute Ideologien und Pseudosinngebungen an, beispielsweise der Glaube an eine, alle Probleme lösende Wissenschaft, an den technischen Fortschritt als Selbstzweck. Um herauszufinden, ob es einen letzten Sinn im Menschenleben gibt, greift Heitler bekannte Namen auf, deren Trachten und Arbeiten öffentlich vorliegen. Albert Einsteins Lebenswerk war es, die Naturgesetze ausfindig zu machen. Einstein hat bei seinem Schaffen nie daran gedacht, nützliche Anwendungen herauszufinden und damit der "Gesellschaft" zu dienen. Hat er also Wissenschaft um ihrer selbst willen getrieben: "l'art pour l'art"? In einem Brief an die Frau seines Kollegen Max Born schreibt Einstein: "Wozu sollen wir einander fördern, einander das Leben erleichtern, schöne Musik machen und feine Gedanken zu erzeugen suchen....? Wenn Du's nicht spürst, kann Dir's niemand erklären. Ohne dieses Primäre sind wir nichts und lebten wir am besten gar nicht." Einsteins "einander fördern" bezieht sich sicher nicht, bemerkt Heitler, auf eine anonyme "Gesellschaft", die nur in den Köpfen politischer Ideologien existiert. Gesellschaft ist Gemeinschaft von einzelnen, die durch jede geistige Erkenntnis gefördert werden. Zweck und Ziel der Forschung Einsteins erfassen wir, nach Heitler, erst vollständig aus den vielen Aeusserungen, aus denen hervorgeht, dass er die Naturgesetze als von Gott erschaffen ansah. Durch deren Erkenntnis versuchte er sich den göttlichen Schöpfungsgedanken zu nähern, was das eigentliche Ziel seiner Arbeit war. Kepler und Einsteins Zeitgenosse, Max Planck, haben das noch klarer und ausdrücklicher ausgesprochen. Die folgenden Aussprüche zeigen jedoch, dass auch Einstein Naturwissenschaft und Religion als zusammengehörig ansah: "Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm. Religion ohne Naturwissenschaft ist blind." - "Welches ist der Sinn unseres Lebens, welches der Sinn des Lebens überhaupt? Eine Antwort zu wissen, heisst, religiös sein" (S.45-48). Die Altistin Kathleen Ferrier mit ihrer einmaligen Stimme war, bevor sie entdeckt wurde, Telefonistin. Sie starb schon in ihren dreissiger Jahren an Kehlkopfkrebs. Heitler lässt erkennen, wie sinnvoll - wenn auch tragisch - dieses Leben war. Wahre Kunst birgt, es muss mit keinem Wort ausdrücklich erklärt werden, Gott, als letzten Sinn des Lebens. Viele Menschen setzen ihr Lebensziel in Geldgewinn, Karriere machen, Machtbesitz oder Aehnliches. Solange diese, ihre materialistische Gesinnung vorherrscht, ist ihnen nicht zu helfen. Dann sind die Millionen in den Büros und am Fliessband. Diese können in einer geistigen Tätigkeit, die unabhängig vom äusseren Werkberuf ist, dem letzten Sinn des Lebens dienen. Heitler erinnert schliesslich an jene Menschen, die über die willkürliche oder fahrlässige Zerstörung der Natur zutiefst erschrocken sind. Am allgemeinen Trend können sie nichts ändern, aber sie versuchen im kleinen, beispielsweise, Tierarten zu retten (Igel, Frösche), denen der von Bauwut und dem Geschwindigkeitsrausch besessene Mensch den Lebensraum nimmt, oder sie zutode fährt. Es mag wenig sein, aber dabei wird doch der vergessene göttliche Auftrag wachgerufen: der Mensch soll die Erde nicht nur "untertan machen", sondern diese auch "bebauen und bewahren". Die genannten Menschen handeln alle aus einem Impuls der Liebe. Diese ist der einzige Weg zum geistigen Fortschritt, als Teilnahme an dem einen Geist, der göttlichen Ursprungs ist (S.45-53).

8.4. Fragen um Gott

Des Verfassers naturphilosophischen Betrachtungen tangieren immer mehr die Spähre des Religiösen und dringen zuletzt in diese hinein. "Die Natur ist so voll von Weisheit, dass man zuerst nicht weiss, wo anfangen" (S.56).

Der im Gleichgewicht auf zwei Beine gestellte Mensch, sein Gehen und Rennen verrät, wie so manches in der Natur, höchste Ingenieurkunst. "Ueber Stock und Stein" gehen, ohne umzufallen, verlangt ein virtuosenhaft dynamisches Gleichgewicht. Der Vergleich mit einer mechanischen Höchstleistung hört auf, wenn wir daran denken, dass Gleichgewicht im Lebewesen ein Sinn, ein Gefühl ist. Hier beginnt animalisch-menschliches Innenleben. Als Zeuge geistig-schöpferischer Höchstleistung führt Heitler das Beispiel des DNS-Kettenmoleküls aus der Molekularbiologie an. Wenn nicht alles trügt, ist in den Kettengliedern (gewisse Atomgruppen) die "Information" für die gesamte Erbanlage des Organismus in kodifizierter Form enthalten. Die Anordnung der Kettenglieder bestimmt die verschiedenen Eiweissstoffe. Jede Eiweissart ist durch die Anordnung der Aminosäuren bedingt. Zwischen den DNS-Molekülen im Zellkern und den zu bildenden Eiweissstoffen im Zellplasma vermittelt ein "Boten"-Molekül die "Information". Dieses sammelt die spezifischen Aminosäuren in der Reihenfolge, in der sie im DNS-Molekül "aufgeschrieben" sind, und führt so zur Bildung der entsprechenden Eiweissmoleküle. Das sehr komplizierte und sinnvolle Ineinandergreifen verschiedenster Elemente lässt sich nicht allein durch physikalisch-chemische Kräfte erklären, da diese ja zielblind sind. Schon die summarische Beschreibung der Vorgänge muss sich verschiedener Begriffe, die an eine überaus weisheitsvolle Intelligenz erinnern, bedienen. In der befruchteten Eizelle steckt nicht nur der Bauplan für das zu bildende Lebewesen, sondern auch sein instinkthaftes Verhalten, beispielsweise das Verhalten der Katze, Mäuse zu jagen. Man scheut sich nicht, das so höchst komplizierte Geschehen durch Zufall erklären zu wollen. Die Wahrscheinlichkeit, erklärt der Mathematiker Heitler, ist jedoch so unvorstellbar klein, dass von Zufall keine Rede sein kann.

Heitler verweist sodann auf das höchste Künstlertum der Natur. Das gestalreiche, langsame Sich-Oeffnen einer Rosenknospe in die volle Blüte ist ein Kunstwerk, dem der Pinsel des Malers nicht gewachsen ist. Auch ein anderes vermag der menschliche Künstler nicht: den Geruch der Blüte kann er nicht malen. Heitler schliesst mit Recht vom Werk auf den Künstler und den weisen Schöpfer. Er weiss, dass man diesen Schluss streitig machen wird. Aber schliesslich ist es die gleiche Logik, meint unser Autor, die man einem Archäologen zubilligt. Wenn dieser nur einige Scherben von Töpfen entdeckt, so schliesst er auf menschliche Urheber. Niemand kommt auf die Idee, diese Scherben dem Zufall zuzuschreiben. Die Welt weist auf eine Schöpferkraft, die menschliches Vermögen weit übertrifft.

Wenn Leben sich aus der Urmaterie entwickelt haben soll, dann müssten auch unsere feinsten Gefühle aus der leblosen Materie hervorgegangen sein. Es ist jedoch nicht denkbar, dass eine Mozartoper sich auf diesem Weg entwickeln könnte. Johannes Brahms bemerkte: "Wenn ich den Drang zum Komponieren in mir spüre, wend ich mich zunächst an meinen Schöpfer.... ich spüre unmittelbar darnach Schwingungen, die mich durchdringen, dann strömen die Ideen mit solcher Schnelligkeit auf mich ein..." Die Idee werden dem Künstler geschenkt, er erzeugt sie nicht. Sie kommen aus einer andern Welt. Woher aber kommt diese? Wir können die Kette nicht ins Unendliche fortsetzen. Wir stossen auf ein Absolutes, das wir Gott nennen (S.55-80).

Die Auffassung, dass Wissen schon Wert und Tugend an sich sei, ist der verhängnisvolle Irrtum unserer Zeit. Die Spezialisierung brachte einen gewissen Fortschritt im Einzelwissen, aber den Rückschritt und die Gefährdung im Menschlichen. Angesichts des Schöpfers Macht in der Natur geziemt uns Menschen Demut, Ehrfurcht und Liebe.

8.5. Walter Heitler: Aufstieg des Vergeistigt-Körperlichen ins Göttliche

"Der Dichter hat die Welt geeinigt, die weit in jedem auseinanderfällt" (R.M.Rilke). Nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch geistig und moralisch fällt die Welt heute trotz technischem Fortschritt in tausend Stücke auseinander. Der international bekannte und mehrfach preisgekrönte Physiker Walter Heitler versteht es an Beispielen aus der Mathematik, Physik, Biologie und Religionsgeschichte, die Erfahrungswelt auf eine übersinnliche, geistige Welt hin durchsichtig zu machen. Dabei zeigt sich sogar, dass selbst die Geheimnisse der biblischen Offenbarungswelt dem Wesen der Materie nicht widersprechen, sondern als Krönung ihrer stufenförmigen Höherführung aufgefasst werden können. (Walter Heitler, Die Natur und das Göttliche, Klett und Balmer Verlag, Zug 1974 S.129-131. Die in Klammern gesetzten Ziffern im Text verweisen auf die Seitenzahl in Heitlers Werk, das dieser Artikel zusammenfasst.)

8.6. Stufen zur Gotteserkenntnis

Schon zur Zeit Platons erfreute sich die Mathematik ihrer spezifischen Reinheit und Wahrheit. Die Geometrie kennt Punkt, Gerade, Kreis und Dreieck als Idealgebilde, die niemand sehen oder handgreiflich erfahren kann. Nach Platon haben diese Begriffe eine reale Existenz, allerdings nicht wie irgendein Naturobjekt, sondern als rein geistige, transzendente oder überweltliche "Ideen" oder Urbilder, deren Ursprung auf ein Absolutes, auf Gott hinweist. Aehnliches gilt vom Baum und Pferd usw. als Universalien oder Allgemeinbegriffe. Diese weisen auf ein raum- und zeitlos Ewiges, das nicht restlos in der konkreten, greifbaren Wirklichkeit aufgeht.

Nicht weniger als die Universalien oder Allgemeinbegriffe verweist die Art und Weise des Erkennens auf eine metaphysische Welt. Der nach der Herkunft seiner Erkenntnisse befragte Wissenschafter spricht von "Einfall". Das bedeutet doch, dass wir die neue Erkenntnis nicht selbst fabrizieren, sondern dass sie uns von einer höheren, geistigen Welt geschenkt wird. Alle Versuche mehren unser Wissen nicht, wenn wir nicht etwas er-finden oder etwas bereits irgendwie Vor-gefundenes ent-decken. Dieses Ent-deckte kann nichts anderes sein als ein Teil einer Welt des Geistigen, zu der wir Zu- und Eingang gefunden haben. Auch das logische Denken ist uns vorgegeben, ist ein Geschenk. Logik ist etwas Unabänderliches, für alle Zeiten Gültiges, also Ewiges. Es gibt Vernunftsnotwendigkeiten, die immer gelten: 2x2=4. Der menschliche Verstand ist endlich, er kann diese nicht erschaffen, sondern nur ent-deckt haben. Ein Leibniz war sich klar, dass das Reich des Mathematischen und Logischen kein menschliches Machwerk sei, sondern uns ebenso objektiv wie die Natur, als Gottes Schöpfung gegenübertrete. Er bezog - nach einer Rede (1867) des Mathematikers E.E. Kummer - sein ganzes Wissen auf Gott, dessen Erkenntnis ihm das höchste Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit war (24).

Noch ausführlicher betrachtet Heitler die Gedanken des bedeutenden Mathematikers Cantor (1845-1918) über das Unendliche in der Mathematik. Die Menge aller Punkte auf einer Strecke ist unendlich, weil sie die Menge aller unendlich langen Dezimalbrüche ist. Ein anderes Beispiel ist die Zahlenreihe, die sich selbst über höchste Zahlen immer wieder fortsetzen lässt. Cantor nennt es das Potential-Unendliche, also etwas, das auf das Aktual-Unendliche hinweist, das in einer transzendent göttlichen Welt beheimatet ist. Für Cantor hängt die transzendente Welt der Ideen unmittelbar mit dem Göttlichen zusammen.

8.7. Wissenschaft als "priesterlicher" Dienst

Was für die Mathematik gilt, gilt auch für die physikalischen und chemischen Gesetze. Diese sind nicht menschliches Machwerk, sie sind gegeben und gehören einer transzendenten geistigen Welt an, obwohl sie zugleich die Materie durchdringen und ihr Verhalten bestimmen. Auf diesen Gesetzen beruht auch unsere Technik. Wären diese eine Machenschaft des Menschen, dann wäre es riskant, sich einer Brücke anzuvertrauen.

Für Kepler sind die Gesetze der Planetenbewegungen, die er als erster entdeckte, harmonisch und von einer Schönheit, die mehr als nur rationaler Natur ist. Kepler ahnt jene kosmischen Harmonien, von denen die Pythagoräer seit dem 6. Jahrhundert v.Chr. sprachen. Die grundlegende pythagoräische Entdeckung ist heute jedem Musiker bekannt: wenn die Schwingungsfrequenzen zweier Saiten (bei gleicher Spannung auch die Längen) in einem einfachen Verhältnis stehen, so erklingt musikalisch ein harmonischer Akkord. Dem Verhältnis 1:2 entspricht eine Oktave, dem Verhältnis 2:3 eine Quinte usw. Diese Entsprechung zwischen arithmetischen Proportionen der Physik (Schwingungen von Saiten) und dem menschlichen Harmonieempfinden weist auf eine transzendentale Einheit der Welt hin. Kepler glaubte noch manche solcher Verhältnisse in Natur und Kunst zu entdecken. "Gott hat sich", schreibt er, "auf zweierlei Art offenbart: in der Heiligen Schrift durch die Zunge, in der Natur durch seinen Finger." Und in einem Brief an H. von Hohenberg schreibt er: "jene Gesetze (der Körperwelt) liegen innerhalb des Fassungsvermögens des menschlichen Geistes. Gott wollte sie uns erkennen lassen, als er uns nach seinem Ebenbild erschuf, damit wir Anteil bekämen an seinen Gedanken. Die Ratschlüsse Gottes sind unerforschlich, nicht aber seine körperlichen Werke." (41) Und im Schlussgebet, das Keplers Hauptwerk "Die Harmonie der Welt" abschliesst, heisst es: "Der Du durch das natürliche Licht uns nach dem Lichte Deiner Gnade begehren machst, dass Du uns durch dieses in das Licht Deiner Herrlichkeit führest, Dir sage ich Dank, Herrgott unser Schöpfer, dass Du mich die Schönheit schauen lässt in Deinem Schöpfungswerk und in den Werken Deiner Hände frohlocke ich." (42) Es wären, nach Heitler, noch manche Vertreter der Wissenschaft zu nennen. Einer der edelsten Forschergestalten der letzten Zeit war Max Planck, der Entdecker der Quantentheorie. Während zu seiner Zeit die exakten Wissenschaften dazu missbraucht wurden, um einen oberflächlichen Atheismus zu begründen, sah Planck in der Vernünftigkeit der Weltordnung den Beweis dafür, dass es eine noch höhere Vernunft gibt, die sie geschaffen hat. In Naturwissenschaft und Religion sieht er kein Gegeneinander, sondern ein, aus zwei verschiedenen Richtungen kommendes Füreinander, das auf Gott hin konvergiert. In seinem Vortrag "Religion und Naturwissenschaft" (1937) erklärt der 80jährige: "Es ist der ... nie erlahmende Kampf gegen ... Unglaube und gegen Aberglaube, den Religion und Naturwissenschaft gemeinsam führen, und das richtungsweisende Losungswort in diesem Kampf lautet von jeher und in alle Zukunft: Hin zu Gott!" (30-44)

8.8. Physikalische Form und lebendige Gestalt

Während das Leblose als starrer Ausdruck des physikalischen Gesetzes grundsätzlich eine zufällige Form aufweist, besitzt ein Gänseblümchen eine Gestalt. Diese beruht auf einer im Samen verborgenen Gesetzmässigkeit, die diese Pflanze in Millionen von Exemplaren entstehen lässt. Zerschlage ich einen Stein, dann ereignet sich nichts Neues, zerschneide ich eine Pflanze, dann zerstöre ich ein Lebewesen samt seiner Struktur. Obwohl wir im Samen noch nichts von der spätern Pflanze entdecken, wachsen Wurzeln zur Aufnahme von Wasser und gewissen Mineralsalzen, Stengel, Blätter, Staubgefässe mit Pollen, zur späteren Befruchtung. Der unsichtbare Bauplan bestimmt schon den Samen und später jede Zelle, sonst käme es nicht zur geordneten Beziehung so vieler Funktionen. Der Bauplan ist mit den chemischen Verbindungen nicht erklärt, sowenig und noch weniger als mit den Baumaterialien eine chemische Fabrik erklärt ist. Der Bauplan hat seinen Ursprung in der Transzendenz oder Ueberwelt. Schon das Köpfchen eines Gänseblümchens ist etwas Kompliziertes, erscheint uns aber wie ein Nichts im unermesslichen Formenreichtum der Pflanzenwelt. (45-50)

Heitler hält es für unwissenschaftlich, gewisse Aspekte der Natur zu ignorieren, wie die Schönheit der Lebewesen. Die Darwinisten meinen, solche Schönheit habe einen "Selektionswert", diene der besseren Zuchtwahl. Es ist erwiesen, dass viele Blüten und Tiere weit über das hinaus, was zur Anlockung dienlich ist, gestaltet sind. Mit Sicherheit möchte der Verfasser auch die ästhetische Leistung in der Ueberwelt, im göttlichen Schöpfertum beheimatet wissen. Nicht weniger zeugen die unzähligen, sinnvollen und zielgerichteten Zusammenhänge unter den verschiedenen Natur- und Lebensbereichen, die gegenseitig einander das Leben ermöglichen, von der göttlichen Weisheit des Schöpfers. Hier von Zufall zu reden, meint Heitler, ist absurd.Es braucht wohl die heutige Umweltkrise, die allem Leben den Tod androht, damit wir uns der Zusammenhänge bewusst werden. Man sucht zwar dies und die Indienstnahme der Physik und Chemie durch die Lebensfunktionen mit "Regelmechanismen" zu erklären. Aber diese sind zielgerichtet und geistgeladen. Der lebende Organismus lenkt und überspielt die physikalischen und chemischen Prozesse in einem bestimmten Sinne, nämlich so, dass sie dem Leben dienen. (50-58)

8.9. Empfindung und Innerlichkeit des Tieres

Im wesentlichen Unterschied zur Pflanze hat das Tier Sinneswerkzeuge und ein erlebtes Empfinden. Beide haben ihre Entsprechung im Nervensystem, im Gehirn, im kompliziertesten Gebilde, das es gibt. Gefühle und noch mehr Willensakte sind seinsmässig andere Qualitäten als physikalische und chemische Vorgänge. Niemals kann ein elektrischer Strom, eine chemische Reaktion, ein Schmerz sein. Und doch bilden beide eine Einheit, ein Geheimnis, von dem wir bis jetzt nichts wissen. Weil seelische Faktoren physische und chemische Aenderungen bewirken, kann von einer uneingeschränkten Gültigkeit der Physik im Nervensystem keine Rede sein.

Die Biene vermag aus einer bestimmten Schwingungsrichtung des Lichtes (Polarisation), auch bei weitgehend bewölktem Himmel, den Stand der Sonne wahrzunehmen und sich danach zu orientieren. Die Biene weiss, wie schnell sich die Sonne bewegt, wieviel Zeit verflossen ist und in welchem Winkel zur Sonne sie zurückfliegen muss. Das Leben bedient sich der Physik und Chemie. Das Weibchen des Seidenspinners verströmt eine winzige Menge eines Riechstoffes, den das Männchen mit einem fächerförmigen Riechorgan auf zehn Kilometer Entfernung wahrnimmt. Die Fledermaus erzeugt Ultraschall und nimmt das Echo wahr (Radarsystem), um beim Flug nicht anzustossen. Das alles kann nicht Zufall sein und ist nicht vom Tier erfunden, sondern von jemand anderem dem Tier gegeben.

Der Augapfel kann äusserlich mit einer Kamera verglichen werden, obwohl eine Glaslinse nicht wie die Augenlinse von selbst die Scharfeinstellung vornimmt. Woher weiss das Auge, oder wissen wir, wann ein Bild scharf ist und dass dies wünschbar ist? Die Erregung der Netzhaut (130 Mio Einzelzellen) wird vom Nervensystem umgearbeitet. Aus einem anonymen Mosaik werden ganzheitlich Gestalten, nachdem die Erregung dem Sehzentrum (300 Mio Zellen) des Gehirns mitgeteilt wurde.

Sherrington hat diesen schöpferischen Prozess des Nervensystems mit einem verzauberten Webstuhl verglichen. Physikalisches und Mechanisches werden in etwas transzendent Geistiges verwandelt. Wer hier von Zufall redet, meint Heitler, weiss nicht, wovon er spricht. (68)

8.10. Geistiger Um- und Uebergriff als moralische Ambivalenz des Menschen

Der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht nicht im Verfertigenkönnen von Werkzeugen - hier sind die Unterschiede fliessend -, sondern im Geist oder im gedachten und gesprochenen Wort. Nur der menschliche Kehlkopf, der sich bei keinem Tier findet, kann Instrument des Sprechens sein. Ein Zeichen von Geist ist ferner die Ethik oder das moralische Bewusstsein des Menschen. Heitler rechnet es zu den verhängnisvollen Irrtümern unserer Zeit, Ethik mit Verhaltensnormen, wie man diese heute bei Mensch und Tier zu beobachten pflegt, zu verwechseln. Ethik geht aus dem Gewissen hervor, das im Unterschied zum Tier nur dem Menschen eignet. Die Gesetzgebung am Sinai ist nicht eine Kodifizierung, instinktmässiger Verhaltensnormen, sondern eine offenbarungsmässige Bestätigung des menschlichen Gewissens. Freiheit heisst nicht tun, "was einem Spass macht" - nach Dostojewski endet dies bei der Menschenfresserei -, sondern sich für das Göttliche entscheiden. So wie der Mensch ökologisch in der Natur verwurzelt ist, reicht er auch in die Welt des Geistes, die mehr ist, als was Sinne wahrnehmen und Verstand beweisen kann. Dazu gehören die Eingebungen der Wissenschafter und Künstler und schliesslich die göttlichen Erleuchtungen und Offenbarungen der Religion.

Im Altertum mögen wissenschaftliche Erkenntnis und religiöse Offenbarungen einander noch sehr nahe gestanden haben (Pythagoras). Jedenfalls steht Offenbarung nicht im Gegensatz zu menschlicher Erkenntnis, jene ist vielmehr die höchste Erfüllung dieser. Das Beispiel der indischen und christlichen Erleuchteten und Heiligen zeigt uns, wie weit die Beherrschung des Körpers durch den Geist gehen kann. Das christliche Pfingstereignis ist eine höchste Stufe der Erleuchtung. Für eine Halluzination, meint der Verfasser, lässt man sich nicht enthaupten oder steinigen. (88)

"Je stärker man durch Selbstbeobachtung seiner eigenen Individualität bewusst geworden ist, desto schwerer ist es zu denken, dass diese zwischen Geburt und Tod eingeschlossen sein sollte." (92) "Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn?" (R.M. Rilke) "Alle die Pflanzen und Tiere lieben und tief anschauen", schreibt Heitler, "vollziehen diesen Vorgang der Verinnerlichung. Vielleicht ist es ein kleiner Schritt zur Erlösung der Natur" (Vgl. Röm 8, 19-22). "Alle, die solche Wege gegangen sind oder gehen, sind sich einig, wenn sie ohne viel Philosophie sagen (oder auch gar nicht sagen und es einfach leben): der Weg führt in eine Richtung, die zuletzt auf Gott hinweist." (95)

8.11. Metaphysik des menschlichen Leibes

Heitler weist über verschiedene Stufen der Vergeistung der Materie auf das letzte Geheimnis der Schöpfung. Diese Stufen sind unter sich nicht getrennt, wohl aber seinsmässig unterschieden. Zielgerichtetheit, Gestaltbildung, Innenwesen, Geist sind Worte, die diesen Aufstieg charakterisieren. Kann diese Entwicklung fortgesetzt werden? Diese Frage betrifft unsere Zukunft. Eine Zukunft nicht im Sinne technischer Futurologie - solche "Extrapolationen" hält Heitler für zu billig -, sondern als göttliche Schöpfung. Von Gott aus ist ein Leib denkbar, der die Gesetze der Physik bald zulässt, bald ausser Kraft setzt und sogar die Notwendigkeit des Todes überwindet. Ein solcher Leib braucht kein Licht zu reflektieren, was ihn unsichtbar macht. Ebenso kann man sich vorstellen, dass er über den Gesetzen der Schwere und Elastizität steht und somit keinen Widerstand mehr erfährt. Wenn auch ein leibliches Auge solch durchgeistigten Leib nicht sieht, kann Gott unser geistiges Auge für ihn öffnen. Mit dieser Beschreibung steht jene Wirklichkeit vor uns, die das Evangelium von dem auferstandenen Christus zeichnet. Als eine Vorwegnahme des Auferstehungsleibes kann die "Verklärung Jesu" gesehen werden (Mk 9, 2-13). "Ihn aber als den auferstandenen Jesus Christus zu erkennen", schliesst Heitler seine ausführliche Auferstehungsbetrachtung, dazu gehört in jedem Fall die Gnade des "aufgetanen Auges". (120)

Der heutige Mensch ist ein kleineres oder grösseres Stück weit gegangen, dem Ziel entgegen, oder auch in der umgekehrten Richtung, in einen noch tieferen Fall. Die Geschichte von der Versuchung Jesu (Mt 4, 1-11) zeigt, dass der Mensch nicht vom Wohlleben, sondern vom Geiste lebt. "Was die Versuchungsgeschichte von uns verlangt, ist ein Verzicht... Ohne diesen ist nicht einmal das Ueberleben der Menschheit möglich... Wir können auch nicht mehr haben, als die Erde uns geben will, ohne dass sie selbst verarmt. Wenn wir mehr nehmen, dann machen wir sie zur Wüste und vernichten uns selbst. Wir können auch nicht die überdimensionierte Macht über Menschen und Natur ausüben, die heute durch die Technik möglich geworden ist, ohne die Menschheit zu einem computergesteuerten Ameisenhaufen zu machen." (125)

Während der physikalische astronomische Raum aller Wahrscheinlichkeit nach seine Grenzen hat, ist die geistige Tiefe der Welt unendlich. In dieser Richtung liegt der wahre menschliche Fortschritt, in der Richtung des "verklärten Leibes des auferstandenen Christus". Freilich verlassen wir damit "den Boden der direkten Erfahrung" und stützen uns begründeterweise auf den "Inhalt von überlieferten Offenbarungen". Von einem Widerspruch zwischen diesen und der Naturwissenschaft kann, nach Heitler, keine Rede sein. "Was aus Naturwissenschaft folgt, sind immer wieder deutliche Hinweise auf das göttliche Wirken... Offenbarungen sind höchste menschliche Erkenntnis, die über den Beweisen der Wissenschaft steht." (130)

Man kann, nach Heitler, Gott nicht mathematisch oder sonst wie "beweisen", weil alles Rationale dafür viel zu eng ist; wohl aber folgt aus einer nicht vereinseitigten Naturwissenschaft zwangsläufig die Existenz der Ueberwelt des Geistes und der göttlichen Schöpfung. "Der Einblick in die Welt des Geistes lässt uns aber Höhen erkennen, die uns das Göttliche erahnen lassen, mit derselben Kraft des Ueberzeugens, mit der menschliches Wissen überhaupt möglich ist." (130)

Hier wird aus der Praxis des Naturwissenschafters die Frage nach den "Gottesbeweisen", die seit Kant leider allzu theoretisch behandelt und entschieden wurde, positiv beantwortet. Grundsätzlich geht es dabei um die Einheit des Menschen, um die Einheit seiner Vernunft und Erkenntnisfähigkeit. Seit Kant wird die Erkenntnis des Daseins Gottes, weil angeblich der reinen Vernunft nicht zugänglich, als unwissenschaftlich bezeichnet. Nun beweisen aber gerade die Aussagen der prominentesten Naturforscher, dass eine Begründung dieser Welt aus ihr selbst oder durch den Zufall absurd ist und eine Rückführung auf eine allweise Ursache sich als notwendig, sogar als not-wendend und höchst vernünftig erweist. Nicht die sich unausweichlich ergebende Schlussfolgerung auf das Dasein einer ersten allweisen Ursache der Welt fällt aus dem Rahmen der reinen Vernunft, sondern die Einengung des Wissenschaftlichen auf den sinnfälligen Erfahrungsbereich im naturwissenschaftlichen Labor. Gottes Existenz lässt sich freilich nicht mathematisch oder an Hand von physikalischen oder chemischen Formeln beweisen. Dazu ist nicht nur Gott, sondern schon der Bereich der menschlichen Vernunft viel zu gross. Fragen wir die Aufführenden einer Symphonie oder die Mutter, die ein Kind geboren hat, ob das Wunder, das sie hervorgebracht, weniger sicher sei, weil sie es "naturwissenschaftlich" nicht analysieren können. Aehnlich ist das Dasein Gottes wohl das unanschaulichste, aber dennoch aktuellste Geheimnis für die menschliche Vernunft. Selbst jene, die dem zu widersprechen versuchen, - von Kant bis zu den Atheisten - beweisen dies durch ihre allergische Reaktion. Weil Gott der Unanschaulichste ist, gilt er für den einseitig sinnfällig Erkennenden als der Abgelegenste oder Abwesende schlechthin, für den im Geiste Bewegten jedoch als das unausweichlich sicherste Geheimnis.

8.12. Daseinsverständnis als naturwissenschaftliche Endstation

Man hat den perspektivisch weit blickenden Seher, Teilhard de Chardin, ob seiner kühnen Zusammenschau der Wissenschaften, schon mit Thomas von Aquin vergleichen wollen. Dem französischen Palaeontologen und Mystiker mangelt jedoch trotz der kühnen Aufnahmefähigkeit des Neuentdeckten, die auch Thomas charakterisierte, die Unterscheidungsgabe der hierarchisch vertikal differenzierten Lebens- und Denkbezirke. Richtiger nennt man in diesem Zusammenhang jene Naturwissenschaftler, die bei aller spezifischen Methode ihrer Fachwissenschaft, philosophisch menschlich weiter zu denken vermögen. Wir möchten hier auf die Frage nach dem Verhältnis der geschaffenen Dinge unter sich und ihrem Ursprung des Seins eingehen. Es ist merkwürdig genug, dass viele Naturforscher die Existenz von Materie überhaupt, wie selbstverständlich voraussetzen und damit ihre Zugehörigkeit zur Gattung <homo sapiens> eigentlich verleugnen. Unsere Frage ist, zugegebenermassen, das schwierigste aber auch grundlegenste Unternehmen des menschlichen Geistes. Es geht dabei nicht um das, wenn auch tiefe aber doch nur spezielle Wissen eines Einzelgebietes, es geht um die Struktur des geschaffenen Seins als Ganzes. Ist unser Dasein in jedem Fall zum Scheitern verurteilt, oder vermag es eine vertrauenswürdige Einheit zu bilden? Nikolaus von Kues sagte einmal: "Wahrheit und Einheit fallen zusammen. Wie in jeder Zahl nur die eine Einheit angetroffen wird, so in all dem Vielen nur die eine Wahrheit. Wer daher nicht auf die Einheit kommt, wird nie die Zahl verstehen, und wer nicht die Wahrheit in ihrer Einheit berührt, kann nichts wirklich und wahrhaft wissen. Man weiss keinen Teil, wenn man nicht das Ganze weiss. Das Ganze gibt das Mass für den Teil ab." Seit Descartes hat man immer wieder versucht das Dasein Gottes nicht aus der Struktur der Aussenwelt zu erschliessen, sondern Gott, das subsistierende Sein, aus der Tätigkeit des menschlichen Subjektes zu "ergreifen". Bei diesem methodischen Vorgehen sollte man sich jedoch bewusst sein, dass das innerhalb der Denktätigkeit angeblich in den Griff Genommene nicht der wirkliche, transzendente Gott, sondern nur etwas Kategoriales, ein Gedankending sein kann. Setzt der Erfolg und die Bedeutung der modernen Naturwissenschaft in ihrer Anwendung in der Technik die objektive Methode des thomasischen Realismus nicht wieder in ihr Recht ein? Sollten wir nicht zur Sanierung einer verabsolutierten, abgespaltenen Geistenswissenschaft mehr Bezug nehmen auf die naturwissenschaftliche Blickrichtung, als auf die subjektivistische Aufspaltung und phaenomenologische Unverbindlichkeit, die in einem Selbstbewusstseinskomplex gehemmt und erstarrt sind. Diese Tragik scheint nicht geringer zu sein als jene einer kirchlichen Gemeinschaft, die der Entelechie der Liebe, die ins Lebendige strebt, misstrauend, das Leben in juristischen Kategorien erstickt.

Wäre im kosmischen, der Methode des objektiven Realismus verpflichte- ten, Zeitalter eine Aufarbeitung des kommologischen, thomasischen Gotteserweises nicht angezeigt? Die Uebereinstimmung der rein mathematischen Denkergebnisse mit den empirisch gewonnenen mathematischen Einsichten und ihre Anwendungen in der Technik zeigt, dass die menschlich abstrakte Geistestätigkeit und die physikalische Aussenwelt auf das engste miteinander verbunden sind, dass auch ausserhalb von uns ein geistiges Prinzip existiert, das sowohl mit den Gesetzen und Geschehnissen der materiellen Welt, als auch mit unserer Geistestätigkeit zusammenhängt (P. Martini). Wenn auch manchem, in seiner materialkausalen Arbeitshypothese einseitig befangenen Naturwissenschafter der ganzheitliche Blick fehlt, liefert er dennoch der Naturphilosophie die nötigen Unterlagen. Eine ideale Forschung zeigt beispielsweise die wissenschaftliche Art von Walter Heitler, Adolf Portmann, Max Thürkauf u.a., die das Objekt nicht in den Grenzen der Spezialwissenschaft einschliesst, sondern den Ruf nach der Ontologie scharfsinnig und deutlich laut werden lässt: "Der Begriff des zielgerichtet-qualitativen Zufalls ist absurd. - Psychisches als ein Epiphänomen physikalischer Prozesse hinstellen zu wollen entspricht einer theoretischen Euphorie, der jede wissenschaftliche Begründung fehlt. - Die Frage was Leben sei, ist ein ontologisches Problem." (2) Das Wort <Bio-logie> selbst bezeugt, dass eine wissenschaftliche Methode, die nur unter dem Aspekt des physico-chemischen Mess- und Beschreibbaren zur Wahrnehmung und Charakterisierung des Lebendigen, zu eng ist. Das Wort Logos allein schon, lässt an Geist, Kreativität und Göttliches denken. Bei allem Fortschritt der Molekularbiologie hat die Wissenschaft in der Erklärung des Lebens "den entscheidenden Punkt auch noch nicht im entferntesten berührt." (P. Martini). Eine mutative Neuordnung zur Höherentwicklung durch Zufall entspricht einem Bruch 1:100 000 000 000 000, der sich der Grösse Null nähert. Nur schon die bestimmte Synthese von Eiweissen aus Quadrillionen von Kombinationen ist zweckmässig und könnte sich ebensowenig zufällig bilden, als eine Fabrik spontan entstehen kann. Wer nur materialkausal erklären wollte, gliche jener im Klavier eingeschlossenen Maus, die die Ursache der Mozartsonate bloss in dem kompliziert aufgebauten, technischen Material sehen wollte, ohne den Pianisten (Seele oder Entelechie) und Komponisten (Gott) miteinzubeziehen. Diese bestimmungsmächtige Ganzheit der Morphe wirkt auch in dem, materiell in der Mutation der Gene begründeten, phylogenetischen Werden. (3)

Bemerkenswert ist der Hinweis von H. Schaefer, dass die formalen, methodischen Unterschiede von Theologie und Naturwissenschaft überschätzt werden. Diese kann nämlich Submikroskopisches nur durch Modelle anschaulich machen, muss sich also, in diesem Fall, wie die Theologie, nur mit einer indirekten, gleichnishaften Erkenntnis zufrieden geben. (4) Nach E. Kellner soll dem heutigen Menschen mündiger Kritik in einem überzeugenden Existenzerlebnis ein Zugang zur Religion erschlossen werden. Harte Kritik erfahren der Dualismus von Glaube und Leben, wie auch der Unglaube der Kirche, die weithin mehr der Macht als der Führung durch den Geist vertraut. In der Krise böte eine "Philosophie der konkreten Wirklichkeit", als Ausgangspunkt zur Metaphysik eine Lösung. Von der breiten Basis aller Spezialwissenschaften aus, könnte sie versuchen Grundstrukturen der Wirklichkeit darzustellen, um von der Metaphysik ontologische Bedeutung, Klärung und Aufschluss zu empfangen, weil die Metaphysik allein vom Endlichen auf das Unendliche, auf die absolute Personalität des Schöpfergottes zu schliessen vermag. So würde die Philosopie wieder Brücke von der empirischen Wissenschaft zur Theologie. (5) Hier ist auf den aristotelischen Begriff des Potentiellen zu verweisen, der zwar aus empirisch rationaler Einsicht gewonnen, eine fortschreitende, rationale Aufhellung bedeutet, keinesfalls aber eine letzte, rationalistische Erschliessung der Wirklichkeit, oder Ablösung des Glaubens erlaubt, sondern für das Mysterium des Unter- und Ueberbewussten offen bleibt. "Alle echte Erkenntnis des Lebens, schreibt E. Kellner, hängt an der echten Mitte zwischen den Gegensätzen, sie ist weder Gleichspannung, noch vollzieht sie sich im gegenseitigen Umschlag der Widersprüche... sondern in einer tieferen Einheit, in der die Gegensätze eins sind." Dieser Satz rückt gleichsam das Grundbefinden aller Dinge mit ihrer Problematik ans Licht, allerdings auf eine noch allgemeine, abstrakte Weise. (6) Praktisch erfährt jeder diese Problematik in seiner Beziehung zur Umwelt. Jeder vollzieht im Leben eine Seinsauffassung, nur ist es nicht immer die "Philosopie der konkreten Wirklichkeit". Denn neben dem Ich ist auch das Nicht-Ich (Du), mit mir, dem Gleichen, ist auch das Andere gegeben. Alles hängt nun davon ab, ob ich mich in Bezug auf das Andere als relativ, als potentiell, d.h. in der Möglichkeit zu ihm erkenne, oder ob ich mich verabsolutiere, so dass das Andere sich vorkommt, als ob es überhaupt nicht wäre. In diesem Fall würde ich den oben genannten, gegenseitigen Umschlag der Widersprüche in Gang setzen, indem das Andere nun seinerseits sich bemüht, mich ins Nichts und sich als Absolutes zu setzen. Diese Dialektik bildet leider zum grossen Teil die Geistes- und Kulturgeschichte der Menschheit, vom Anbeginn bis zum heutigen dialektischen Materialismus. Die Welt vermag aber nicht in einseitigen Verabsolutierungen zu bestehen, so wenig die Menschheit weder rein männlich noch rein weiblich zu existieren vermag. Allerdings ist die Frau im Vergleich zum Mann der Nicht-Mann und umgekehrt. Dies aber nicht auf absolute, sondern nur relative potentielle weise. Gerade hier ist es nun leicht einleuchtend, wie das Ich auf das Du, das Gleiche auf das Andere und umgekehrt bezogen ist. Das eine der Geschlechter ist für das andere ein geheimnisvolles, dunkles Anderes, in dessen anderem Wesen jedoch das eine erst vollständig zu sich selbst und ins Licht kommt. Analog zur Begegnung der Geschlechter vollzieht sich die Begegnung von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis. Beide Arten der Begegnung werden in der Bibel mit dem gleichen Worte des "Erkennens" ausgedrückt. Mit der Einsicht ins Potentielle ist auch das Erkenntnisproblem geklärt und die Aufspaltung Kants in Subjekt und unerkennbares "Ding an sich" als Scheinproblem entlarvt.

Das Potentielle (Dynamis), dieses zwischen dem Sein und dem Nichts geheimwesende, aber reale Nicht-Sein, ist nur in Bezug auf das wirkliche, aktuelle Sein (Entelechie). So verhält sich also auch das Nicht-Bewusste potentiell zum Bewusstsein, oder das nicht erkannte "Ding an sich" potentiell zur Erkenntnis. Die Vorstellung vom hermetischen "Ding an sich", d.h. eines Objektes, das sich in Bezug auf die Erkenntnis als nicht potentiell erwiese, als absolut unerkennbar, fällt deshalb dahin. Im Potentiellen ist eben keine subjektivistische Aufspaltung oder phänomenologische Abblätterung möglich, denn es ist seinem ganzen Wesen nach Seinsbezug zur Aktualisierung, in unserem Fall zum Be- wusst-Sein in der menschlichen Erkenntnis. Das Potentielle ist das Geheimnis des organischen Zusammenhanges in allen, analog je anders gearteten Zweieinheiten des geschaffenen Seins, das Helldunkel in der ontologischen Differenz, die das Sein vor dem Zerreissen bewahrt.

Es bleibt allerdings zwischen Subjekt und Objekt eine doppelte Differenz. Zunächst eine seinsmässige, in der das blind und dunkel An-Sich-Seiende (wie ein Same im vollentwickelten Baum) in der Helligkeit der Erkenntnis, innerhalb einer analogischen Identität seine letzte Erfüllung findet. Und als zweite bleibt die Differenz des mehr oder weniger vollständigen Erkennens, weil jedes Objekt, wegen des in seiner eigenen Potenz beschränkten Subjekts (auf seine fünf Sinne), nie ganz umgriffen werden kann. Somit sind alle "Phänomene", insofern sie echt und nicht irrtümlich sind, wahre Erkenntnisse an der Substanz oder am "Ding an sich", wenn diese sich für die menschliche Erkenntnis auch als unerschöpflich erweisen. Die Wahrheit aber wird, in die seinsmässige Differenz gespannt, zur dynamisch analogischen Realität.

So ist dem menschlichen Geist eine fortschreitende, rationale Aufhellung der potentiell auf ihn harrenden Welt ermöglicht, keineswegs aber eine letzte, rationalistische Erschliessung der Wirklichkeit oder Ablösung des religiösen Glaubens, weil die aktualisierende Erkenntnis des Menschen, im Unterschied zur göttlichen, nie auszuschöpfen vermag, in dessen Halbdunkel das Mysterium des Unbewussten und ueberbewussten Göttlichen vollkommen bleibt. Der religiöse Unglaube dürfte vor allem auf dem abgeschlossenen System angeblicher rationalistischer Ausschöpfbarkeit aller Dinge durch den Menschen beruhen. Damit haben wir eine Folgerung aus der aristotelischen, thomasischen Ontologie gezogen. Sie bedeutet eine Auflichtung des Seins durch die wirklichkeitsmässige Auslegung des Geschaffenen, in der die Gegensätze (als Akt und Potenz) in relativer Bezogenheit eine Einheit bilden, aber nur insofern man ihrer Entelechie, ihrer Rückverweisung auf den unendlichen, reinen Akt, auf Gott hin folgt, in dem allein Dasein und Einheit des gegensätzlich polar strukturierten geschaffenen Seins ihre Begründung haben.

Allgemein abstrakt ausgedrückt haben wir also im Erkenntnisproblem, und in den andern Beispielen, die beliebig vermehrt werden könnten, das Gleiche (Akt) und das Andere (Potenz), an dem sich das Gleiche in geheimnisvollem Werden aus dem Andern erst vollständig aktualisiert oder sich selbst kommt. Natürlich steht alles Kreatürliche wechselseitig in akt-potentieller Beziehung, indem sich jedes gleichzeitig potentiell und aktualisierend zum andern verhält. Diese Affinität oder potentielle Möglichkeit der Dinge zueinander ist um so verständlicher als jedes geschaffene Ding in sich selbst als werdendes (in analoger akt-potentieller Bezogenheit) Gleiches und Anderes ist und trotzdem e i n Wesen bildet: Leib und Seele im Menschen und in den Lebewesen, Materie und Gestalt (Morphe) in der Körperwelt, Massenpunkt und Welle, positive und negative Spannung im Energetischen. Hier sind es allerdings nicht mehr zwei Dinge, sondern zwei reale Komponenten, wie Leib und Seele, die in gegenseitiger Beeinflussung ein Wesen konstituieren.

Keine dieser Komponenten lässt sich auf die andere reduzieren, noch hat eine die andere hervorgebracht. Keine ist also letzte Ursache. Auch beide miteinander, so wenig wie alle geschaffenen Dinge zusammen, haben sich nicht hervorgebracht. Sie finden sich, wie die Naturwissenschaft feststellt, vor. Die Ontologie muss aber, mögen sich die von einander abhängigen und in sich doch unselbständigen Dinge noch so lange schon zweitursächlich hervorbringen, auf eine Erste Ursache schliessen, die nicht wieder unselbständig d.h. in akt-potentieller Differenz stehen kann. Dieses Wesen, das reiner Akt ohne Potenz ist, auf das aber alles Potentielle zurückverwiesen wird, heissen wir Gott. Er allein hat das reine Dasein, während unser da auch ein dort in sich schliesst, indem wir in der Welt und in uns selbst im da und dort differenziert sind. Dieses dort verhindert uns wie es nach Heidegger geschehen könnte, unser menschliches Dasein zu verabsolutieren, indem es uns mahnt, unser volles Dasein nicht nur in den mitmenschlichen Weltbezügen, sondern im Gottesbezug zu suchen, der allein die Angst des Daseins im glaubensmässig bereits vollzogenen überweltlichen Dort-sein überwindet.

Diese Daseinsanalyse der konkreten Wirklichkeit hatte als Verkünder bereits Aristoteles. Ihr Logos von der analogen Bezogenheit aller Dinge ist die Entsprechung zum allumfassenden Geist der göttlichen Liebe, der die Welt zusammenhält, d.h. als Kosmos erhält.

Das Verlassen dieser Ontologie, in der alles Seiende als Relatives auf Gott, den einzig Absoluten verweist, brachte dem Menschen den Verlust der Mitte. Nicht mehr in Gott ruhend, im Absoluten, schwankt er unruhig in der ontologischen Differenz, d.h. in der relativen Zweipoligkeit alles Kreatürlichen hin und her; weil die aus Gegensätzlichem bestehende polare Grundstruktur alles Erschaffenen nur in der Gnade des dreieinigen Gottes in organisch ausgeglichener Zweieinheit ruht, spaltet sie sich nun in extreme Ueberspannungen, in denen sich der Mensch nun selbst als absolut setzen möchte, beispielsweise, im Marxismus. Daraus entspringt eine spezifische, dialektische Bewegung (Hegel), die, nachdem die in sich organisch unterschiedene, akt-potentielle Zweieinheit verlorengegangen, sich zwischen der absolut dualistischen Trennung der Gegensätze, einerseits, und ihrer monistischen Verwischung und Ineinsetzung, andererseits, hin und her bewegt. Diese Dialektik wurde besonders der westlichen Kulturgeschichte zum Schicksal.

So schwankt der Mensch, ausserhalb der christlichen Synthese, beispielsweise zwischen Materialismus und erkenntnistheoretischem Idealismus, zwischen Individualismus und Kollektivismus, und sogar in einer gefährdeten Theologie, beispielsweise, zwischen Alleinwirksamkeit Gottes (Reformation) und pelagianischer Selbsterlösung (Aufklärung, liberale Theologie).

Anmerkungen:

9. HÖLDERLIN - HEGEL

Der Dichter Friedrich Hölderlin schrieb in kindlicher Offenheit den wie so manchen anderen eifernden Satz: "Die Deutschen können mich nicht brauchen". Kein Wunder wurde dieser "Seher" und "frömmste unserer Dichter", der durch Werk, Schicksal und Einsamkeit einen seltenen Rang erreichte, zum empfindlichen Kriterium seines Volkes und der modernen Zeit. Unter anderem bezeichnete er lakonisch "den Verlust jenes unmittelbaren Bezuges zum Göttlichen" als Hauptschaden unserer modernen Kultur ("Feuer und Himmel").

Dieser ausgebildete evangelische Pfarrer betreute nie eine Gemeinde, wurde jedoch zum Seelsorger seiner Zeit und seiner Nation. "Die Kanzel mag ich nicht betreten", schreibt er, "weil sie zu himmelschreiend entweiht wird.. Ich mag mich und mein Herz nicht da bloss geben, wo es missverstanden wird, und schweige deshalb vor den Theologen von Profession". Er spricht das strenge Wort von den "Lumpereien der geistlichen Welt und von der religiösen Sklaverei". Auch mit ein Grund, dass seine Dichtung von den ihm am nächsten Stehenden verkannt wurde.

Dieser und andere unverhohlene Sätze, mussten durch ihre ehrliche Unverblümtheit Kirche und Universität und die damalige akademische Welt beleidigen: "Ich wusste lange nicht, warum das Studium der Philosopie, das sonst den hartnäckigen Fleiss, den es erfordert, mit Ruhe belohnt, warum es mich, je uneingeschränkter ich mich ihm hingab, nur immer umso friedloser machte.."(1).

In der hegelschen Dialektik werden komplementäre Gegensätze (z.B. Mann und Frau), als "Thesis" und "Antithesis" absolut gesetzt, wodurch sie einander ausschliessen. Tatsächlich kommt diese wechselweise Einseitigkeit zu keiner wirklichen "Synthesis", sondern sie bleibt schwankend zwischen Aufspaltung und Vermischung, wobei der Dialektiker willkürlich wählt, was ihm nützt. Ein Einzelner muss nach dieser Philosopie, wenn nicht physisch sterben, so doch moralisch aufgehoben werden, "weil sonst das Allgemeine im Individuum sich verlöre..."(2)

Hölderlin war jedoch, nach dem Beispiel seines Hermokrates im Drama "Der Tod des Empedokles", nicht geneigt, die Gegensätze nach der herrschenden Philosophie zu identifizieren, sondern bestrebt, diese zu "bändigen und ihre Wechselwirkung an ein Bleibendes und Festes (Substanz, letztlich Gott) zu knüpfen, das zwischen sie gestellt ist und jedes in seiner Grenze hält, indem es jedes sich zu eigen macht".(3) Hermokrates ist nicht ein die Gegensätze antithetisch Ausscheidender, sondern ein dies Unterscheidender, der die Entgegensetzung ohne Unterbruch erhält und auf sie Bezug nimmt.

Obwohl Hölderlin in Jena zunächst von Fichte fasziniert war, wurde er von der "Tyrannin Philosophie" gelähmt und konnte sein Denken nicht klären. Unser Dichter hatte das natürliche Bedürfnis, Natur, Schönheit und Liebe, Denken und Freiheit in einem zu empfinden. Er litt unter der aufspaltenden Dialektik und unter der Trennung der Lebensbereiche, die sein Leben zerstörten. Sein versöhnlicher, kindlicher Geist litt deshalb auch unter der Rivalität, dem üblichen Gebaren der Grossen (Schiller, Goethe u.a.): "Die Nähe der grossen Geister.. schlägt mich nieder und erhebt mich wechselweise".

Aufgrund der Revolution der Gesinnungen und Vorstellungen strebte er in der Dichtung die Synthese von Philosophie, Theologie und Politik an. Die Freundschaft mit Susette Gontard (Diotima), die er als "holde Muse," "Heilige" und "Botin des Himmels" empfand, befreite ihn von der Vereinsamung und legte ihm die Möglichkeit, die Menschheit aus der Natur- und Gottferne zu führen, nahe. Er sah seine Aufgabe in der Wiederherstellung der griechischen Synthese im Ideal demokratischer Freiheit, zu welcher Deutschland vermitteln sollte.

Obwohl "vom Gott geschlagen" wie er selber seine geistige Umnachtung umschrieb, erlag er letztlich doch als Siegender:" Und es sahen ihn, wie er siegend blickte, / Den Freudigsten, die Freunde noch zuletzt." Seine Krankheit, kann so als eine zum Ziele führende Läuterung verstanden werden. Das wäre der letzte Sinn seines christlichen "Trotzdem". "Uebrigens, wie es das heilige Schicksal will". "Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen/ Mit Harmonie und ewigem Lohn und Frieden". Der im Grunde kindliche Nietzsche teilte Hölderlins Wesensart "aus Wachs und Eisen" und fühlte sich ihm verwandt.(3)

Hölderlin wusste, vom Zeitgeist der Philosophie bestärkt, das Dasein grundsätzlich von Zerreissung bedroht. Das Denken in der Alternative <Entweder-Oder>, das ihn schwermütig machte, lag in der Luft. Sein Studienfreund Georg Wilhelm Friederich Hegel (1770-1831) entwickelte diese später zur antithetischen Dialektik. Nach Grillparzer war Hegel als "Philosoph der Macht" das Gegenteil von Hölderlin. "Er korrumpierte und brachte die Deutschen politisch hoffnungslos in Rückstand".(4) Wie sehr hat sich diese prophetische Aussage durch den Staatsabsolutismus Hitlers bestätigt.

Welcher Art die höchste göttliche Realität für Hegel war, verrät er in seiner Aeusserung zu Napoleon, als dieser in Jena einzog: "Ich sah den "Weltgeist" zu Pferde sitzen." Insofern wird ein, wenn auch differenzierter Zusammenhang zwischen Napoleon - Hegel und Hitler bestätigt. Auch später in Berlin mussten die Fürsten Hegels Absolutismus schmeichelhaft empfinden.

So stand Hölderlin zwischen Natur, Antike und Christentum. Für das mystische Schauen war im Christentum, besonders im theologischen Konvikt in Tübingen, wo Hölderlin und Hegel ihre Studienzeit verbrachten, kein Raum mehr.

Hölderlins Hyperion stellt des Dichters Loslösung vom Christentum in den Pantheismus der Griechen dar. Aber die antithetische Einseitigkeit zwang ihn seine Botschaft zu ändern. Er wendete sich vom Heidentum ab, Christus zu, ohne sich aufgenommen zu fühlen. Die Ferne unter Menschen - zwischen Menschen und Gott und Weltgebilden - drückt Hölderlin im Gedicht Patmos aus:

Drum, da gehäuft sind rings
Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten
Nah wohnen, ermattend auf
Getrenntesten Bergen,
So gib unschuldig Wasser
O Fittiche, gib uns, treuesten Sinns
Hinüber zu gehen und wiederzukehren.

Das Wasser erscheint als Element der Uferverbindung, des Zusammenhangs (biologischer Haushalt) und noch mehr als Sakrament. Hinter jeder Macht der Natur steht das Ganze und redet durch sie: Christus, der Versöhnende, der vor dem Auseinanderreissen bewahrt.(5)

Hölderlin bestätigt auch die christliche Lehre vom Diabolos, vom Durch- und Auseinanderwerfer: "Seien wir eine Melodie, zu der man seine Zuflucht nimmt, wenn einen der böse Dämon überwältigen will, es ist die volle Wahrheit, was ich sage..".

Es ist wohl die noch von Verführung freie Jugenderfahrung, die ihn aus der Tiefe und aus der Vermischung zum Bekenntnis zwingt:
... denn zu sehr O Christus, häng ich an dir, Wiewohl Herakles Bruder.. (Der Einzige)

Es war die Tragik der antithetischen Philosophie, dass der Dichter Herakles - Christus nur in Aufspaltung oder in Vermischung dachte, wo doch Herakles - wiewohl in Unterscheidung - als potentieller Christus gedacht werden kann.

Wie sehr unter dem mehr rational bewussten und öffentlichen Rollenspiel, eine Kern angestammten Glaubens sich behauptet, beweisen die Briefe Hölderlins. Es sollen hier in chronologischer Reihenfolge (nicht nach den Empfängern) spezifische Stellen aus des Dichters Briefen zur Sprache kommen. 6)

15. Brief (an Nast): " O ich war so ein Tor - glaubte oft, wenn Menschen mich hassten, wenn Spöttereien mich verfolgten - wenn alles, alles sich zusammentraf, um mir eine einzige - so lang ersehnte selige Stunde zu verderben - dann glaubt ich, Bruder, Gott liebe mich nicht! Glaubte - er zürne der Liebe!!... Wo Zweifel gegen den Lenker meines Schicksals in meiner Seele aufstiegen, die ich dir nennen mag. Er hat sie mir vergeben, der Allbarmherzige - ich habe mit mancher Träne, manchem nächtlichen Gebet bereuet... Ich dankte Gott endlich für alles - für all die Leiden - all' die Verfolgungen - all' die Tränen. Die Zweifel - das Murren gegen den Ewigen musst du nur in die ersten Wochen meiner Trauertage (Tod seiner Freundin) rechnen, wo ich noch nicht gewohnt war zu tragen".

27. Brief (an die Mutter): "Was das Vergangene anbetrifft, so bitt ich sie, Liebste, tausend Mal - um Vergebung, und habe auch, da ich vorgestern zu Gottes Tisch ging, ihm in Sonderheit jenes abgebeten".

81. Brief (an den Bruder): "... Zu prüfen, unter der heiligen, unerschütterlichen Maxime, sein Gewissen nie von eigner oder fremder Afterphilosophie, von der stockfinsteren Aufklärung, von dem hoch hohlweisen Unsinne beschwatzen zu lassen, der so manche heilige Pflicht mit dem Namen Vorurteil schändet, aber ebensowenig sich von den Toren oder Bösewichtern irre machen zu lassen, die unter dem Namen der Freigeisterei und des Freiheitsschwindels einen denkenden Geist, ein Wesen, das seine Würden und seine Rechte in der Person der Menscheit fühlt, verdammen möchte oder lächerlich machen, unter all diesen und vielen anderm reift man zum Manne... Glaube mir, mir wird sonderbar zumut' wenn ich der Hoffnung gedenke, die man sich folgenden Jahrhundert macht, und die verkrüppelten, vom kleingeisterischen, rohen, anmasslichen unwissenden trägen Jünglinge dagegen stellt, deren es so viele gibt..."

91. Brief (an den Bruder): ".. Weil aber dieses Ziel auf Erden unmöglich, weil es in keiner Zeit erreicht werden kann, weil wir uns nur in einem unendlichen Fortschritte ihm nähern können, so ist der Glaube an eine unendliche Fortdauer aber nicht denkbar ohne den Glauben an einen Herrn der Natur, dessen Wille dasselbe will, was das Sittengesetz in uns gebietet, der also unsere Fortdauer wollen muss, weil er unsern unendlichen Fortschritt im Guten will, und der als der Herr der Natur, auch Macht hat, wirklich zu machen, was er will. Natürlich ist dies menschlich dahin gesprochen, denn der Wille und die Tat des Unendlichen sind eines. Und so gründet sich auch das heilige Gesetz in uns, der vernünftige Glaube an Gott und Unsterblichkeit, auch an die weise Lenkung unseres Schicksals...

94. Brief (an Neuffer): "... Wir gehen nun beide so verarmt in der Welt herum, wir haben beide nichts, als was wir uns sind, ausserdem, was eine bessere Welt in und über uns ist..."

97. Brief (an Schiller): "... Das Missfallen an mir selbst, und dem was mich umgibt, hat mich in die Abstraktion hinein- getrieben, ich suche mir die Idee eines unendlichen Progresses der Philosophie zu entwickeln, ich suche zu zeigen, dass die unnachlässige Forderung, die an jedes System gemacht werden muss, die Vereinigung des Subjekts und Objekts in einem absoluten Ich - oder wie man es nennen will..."

135. Brief (an die Mutter): ".. Sie haben auch so viel Erfahrung um glauben zu können, um lebendig inne zu werden, dass im einzelnen wie im ganzen, mitten in Stürmen, ein guter all- erhaltender Geist unendlich waltet und lebt, ein Geist des Friedens und der Ordnung, der darum in den Kampf einwilliget, in Leiden und Tod, um überall alles durch die Misstöne des Lebens zu höhern Harmonien zu führen. Das ist auch meines Herzens Glaube..."

136. Brief (an den Schwager): "... Vom Gefühle der lebendigen Gottheit, in der wir leben und sind, zu dem echten Christusgefühle, dass wir und der Vater eins sind..."

148. Brief (an Neuffer): "... Lassen wir uns irre machen an uns selbst, an unserem Theion oder wie du es nennen willst, dann ist auch alle Kunst und alle Mühe umsonst..."

160. Brief (an die Mutter): "... übermütig, ungeduldig, unbescheiden kann und will ich nie mehr werden gegen den Lenker meines Schicksals."

176. Brief (an Diotima): "... Die berühmten.. liessen mich stehen, und warum sollten sie nicht? Jeder, der in der Welt sich einen Namen macht, scheint ja den ihrigen einen Abbruch zu tun. Sie sind dann schon nicht mehr so einzig und allein die Götzen, kurz es scheint mir bei ihnen, die ich mir ungefähr als meinesgleichen denken darf, ein wenig Handwerksneid mitunter zu walten..."

185. Brief (an die Schwester): "... Mich tröstet der Gedanke der überall mein bester Trost ist, dass nämlich Gott überall ist und in ihm und durch ihn wir alle jetzt und für immer vereiniget sind... Das Gefühl dieser Unsterblichkeit erfreut mich oft in meinem Namen und im Namen aller die da leben, und die gestorben sind. Und so ist es mein gewisser Glaube, dass alles gut ist und alle Trauer nur der Weg zu wahrer heiliger Freude ist..."

193. Brief (an die Schwester): " Auch du, Beste! bist wie ich höre, wieder fester auf Gottes Boden."

205. Brief (an den Bruder): "... Ich fühle es, wir lieben uns nicht mehr wie sonst, seit langer Zeit, und ich bin daran schuldig. Ich war der erste, der den kalten Ton anstimmte.. aber ein Unglaube an die ewige Liebe hatte sich meiner bemächtigt. Ich sollte auch dahinein geraten, in diesen furchtbaren Aberglauben, an das, was eben Zeichen der Seele und Liebe, aber so missverstanden ihr Tod ist. Glaube es, Teuerster! Ich hatte gerungen bis zur tödlichen Ermattung, um das höhere Leben im Glauben und im Schauen festzuhalten, ja, ich hatte unter Leiden gerungen, die nach allem zu schliessen, überwältigender sind, als alles andere, was der Mensch mit eherner Kraft auszuhalten imstande ist - ich sage dir dieses nicht umsonst. Endlich, da von mehr als einer Seite das Herz zerrissen war, und dennoch festhielt, da musste ich veranlasst werden nun auch mit Gedanken mich in jene bösen Zweifel zu verwickeln, deren Frage doch so leicht vor klarem Auge zu lösen ist, nämlich, was mehr gelte, das Lebendigstewige, oder das Zeitliche. A Deo Principium. Wer dies versteht und hält, ja bei dem Leben des Lebens! der ist frei und kräftig und freudig, und alles Umgekehrte ist Chimäre und zergeht insoferne in nichts. Und so sie denn auch unter uns, bei dieser Bundeserneuerung, die gewiss nicht Zeremonie oder Laune ist, A Deo Principium..."

288. Brief (an J. Gottfried Ebel): "..." Und was das Allgemeine betrifft, so habe ich einen Trost, dass nämlich jede Gärung und Auflösung entweder zur Vernichtung oder zur Auflösung notwendig führen muss. Aber Vernichtung gibts nicht, also muss die Jugend der Welt aus unserer Verwesung wiederkehren. Man kann wohl mit Gewissheit sagen, dass die Welt noch nie so bunt aussah wie jetzt. Sie ist eine ungeheuere Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten. Altes und Neues! Kultur und Rohheit! Bosheit und Leidenschaft! Egoismus im Schafspelz, Egoismus in der Wolfshaut! Aberglauben und Unglauben! Knechtschaft und Despotismus! Unvernünftige Klugheit, unkluge Vernunft! Geistlose Empfindung, empfindungsloser Geist! Geschichte, Erfahrung, Herkommen ohne Philosophie, Philosophie ohne Erfahrung! Energie ohne Grundsätze, Grundsätze ohne Energie! Strenge ohne Menschlichkeit, Menschlichkeit ohne Strenge! Heuchlerische Gefälligkeit, schamlose Unverschämtheit! Altkluge Jungen, läppische Männer - man könnte die Litanei von Sonnenaufgang bis um Mitternacht fortsetzen.. und hätte kaum ein Tausendstel des menschlichen Chaos genannt. Aber so soll es sein! Dieser Charakter des bekannteren Teils des Menschengeschlechts ist gewiss ein Vorbote ausserordentlicher Dinge. Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen wird. Und dazu kann Deutschland vielleicht sehr viel beitragen..."

Dass sich dies noch mehr ins Negative verschlug und das Positive weiter in die Zukunft verwiesen ist, hebt Hölderlins prophetisches Sehen nicht auf.(7)

Anmerkungen:

Man war froh, dass man den politisch von der französischen Revolution beeinflussten Fichte durch Hegel los wurde. Goethe hatte auf die Lohnauszahlung der Professoren beim Fürsten (Rektor Magnificus) der Universität Jena Einfluss. Und Hegel lobte und propagierte Goethes Farbenlehre gegen Newton.

Hegels Dissertation, die Newtons Leistung bekämpfte und diese vollständig als "Newtonsche Barbarei" verkannte, beruft sich auf Kepler, der ebenfalls von Hegel missverstanden wurde. Gauss schreibt später an Schumacher vom "Unheil" Hegels. Von den Zeitgenossen Laplace und Herschel wurde Hegel als lächerlich empfunden. In der experimentellen Naturwissenschaft wurde Hegels Irrtum offensichtlich; in seiner verzerrten Philosopie, die von Kierkegaard als "komischer Einfall" bezeichnet wird, leider nicht. Oder doch? - im Archipel Gulag als (wenn auch ungewollte) Folge seines Staatsabsolutismus. Es gibt in Deutschland keine Monographie von Hegels Dissertation. Diese wird im Schweigen begraben; was auch die Hegelsche Philosophie verdiente. Vorstehendes ist belegt durch die französische Ausgabe: G.W.F. Hegel: "Les orbites des planètes" (Disseration 1801), trad.par F. de Gandt, J.Vrin, Paris 1979.

Man begreift Schopenhauers Urteil über Hegel, das wohl emotional, aber leider, der Sache nach, zutrifft: "Hegel, ein platter, geistloser, ekelhaft widerlicher unwissender Scharlatan, der, mit beispielloser Frechheit, Aberwitz und Unsinn zusammenschmierte, welches von seinen geilen Anhängern als unsterbliche Weisheit ausposaunt und von Dummköpfen richtig dafür genommen wurde, ... hat den intellektuellen Verderb einer ganzen Gelehrtengeneration zur Folge gehabt."

9.1. Dichter und Denker - Bild und Zerrbild

Was gibt es in die Höhe Strebenderes als eine Rakete? Durch ihre Stufung und sich stets verjüngende Zuspitzung gleicht sie nach ihrem äusseren Bild dem "Sursum corda" eines gotischen Kathedralturms. - Nach ihrer inneren Beschaffenheit jedoch, als Sprengkörper und Vernichtungswaffe konzipiert, ist sie etwas ganz anderes, das pure Gegenteil. Wir staunen, wie eng Bild und Zerrbild, Organisches und Aorgisches (Chaotisches) einander naheliegen.

Hier sind wir aufgeklärt und gewarnt. Jedermann erkennt und durchschaut diese Zerstörungswaffen. Auf dem intellektuellen Sektor jedoch gibt es ähnliche Spreng- und Zerstörungskörper. Da stehen imposante und ehrfurchtsgebietende Bibliotheks- und Universitätsgebäude. Aber viele Menschen geben sich kaum Rechenschaft über die gewaltigen Sprengkörper intellektueller Art, die in Form von äusserlich harmlosen Büchern auf bescheidenen Regalen stehen. Diese sind verantwortlich für Bild und Zerrbild ganzer Zeitepochen in der Menschheitsgeschichte.

Unter dem irreführenden Namen "philosophischer Idealismus" ereignete sich von Deutschland aus eine in der Neuzeit beispielslose verderbliche philosophische Beeinflussung universalen Charakters. Für das fatal Schicksalhafte genügt es allein schon Faschismus und Kommunismus mit ihrem Staatsabsolutismus als ihre Früchte bezeichnen zu müssen.

Der Lebenstrieb lässt sich auf zwei gegnerischen Prinzipien, auf zwei grundsätzliche Möglichkeiten zurückführen: auf den Trieb ins Aorgische (Chaotische) oder ins Organische.

Der Dichter Friedrich Hölderlin (1770 - 1843) hat sie beide beschrieben und dargestellt; ersteren in der Gestalt des "Empedokles", der sich in den alles auflösenden und alles ineinander verschmelzenden Vulkan stürzt.

Das Bewusstsein des Empedokles spaltet sich ab von seinen Mitbürgern, von der Welt, vom Sein (Urspaltung), um im Sturz in den Vulkan in die absolute Idendität, in die Allverschmelzung umzuschlagen.

Das Sein aus dem "Grund" kommt angeblich im Menschen zu sich selbst, wird diesem zum Anlass der Hybris, indem der Mensch sich Herr des Seins dünkt. Der Idealist setzt von sich aus prometheisch das Absolute, wo er doch sehen müsste, wie anders geartet die Wirklichkeit ist. Der Idealismus führt ad absurdum, anstatt zur Weltdeutung; zur Ungestalt, indem er in seiner Einseitigkeit gefangen bleibt und die zum Wesen des geschaffenen Seins notwendige Ergänzung verpasst. In Hölderlins Roman fühlt "Hyperion" im Traum den Weltgeist wie eines Freundes warme Hand. Als er erwachte, hielt er seinen eigenen Finger.

Die Wurzel des Uebels liegt in der selbstherrlichen Absonderung von der Natur und vom Göttlichen, im Verlust des Ganzen. Die Folgen sind Vereinzelung, Betriebsamkeit ohne Widerhall, knechtische Sorge, die Unfruchtbarkeit allen Tuns: Der Fluch des Umsonst.

Hölderlin schildert das im Gedicht:

Ans eigene Treiben sind sie geschmiedet allein,
Und sich in der tosenden Werkstatt höret jeglicher nur
Und viel arbeiten die Wilden mit gewaltigem Arm, rastlos,
Doch immer und immer unfruchtbar, wie die Furien,
Bleibt die Mühe der Armen.

Hölderlin charakterisiert damit die dissonante durch Ichsucht einander entfremdete Gesellschaft, in wilder sinnentleerter Betriebsamkeit. In sich verfangen, fühlt keiner die der Gemeinschaft einwohnende Gottheit, die erst den einen zum anderen bringt und jedem Tun das Mass und den Sinn des Ganzen aufprägt.

Bedarf der Mensch des gegebenen, von ihm unterschiedenen Objekts, um bewusst zu werden, so ist er ein endliches Wesen. Ist der Mensch der Schöpfer seiner Welt? Gibt er sich selbst sein Objekt, so ist er ein unendliches Wesen. Der nach dem Idealismus als Ich verstandene Mensch hat das, was er ist, sich selbst gegeben: Absolutheit und Aus-sich-selbst-Sein.

Wer im Angesicht des Absoluten seine Endlichkeit annimmt, der findet sich. Wer sich selbst absolut setzt, verliert sich. Die Selbstvergötzung des Empedokles, wie wir noch eingehender aus dem Drama Hölderlins vernehmen werden, führt zum Selbstverlust. Die Erstürmung des Himmels bedingt den Sturz in den Abgrund.

Während Hegel Hölderlins spät sich entwickelnder Altersgenosse war, besuchte unser Dichter die Vorlesungen Fichtes, dem er, bis zum Bruch, seine volle Aufmerksamkeit und Hörerschaft schenkte. Joh.G. Fichte /1762-1814) fragt kritisch nach der Möglichkeit des Daseins der Welt. Er antwortet jedoch nicht mehr in den Vorstellungen der realistischen Philosophie. Die Verlegung des Ursprungs der Welt in ein anderes absolutes Sein bezeichnet Fichte als "Dogmatisierung". Man kann nach ihm nur nach dem Grundakt des Verstandes fragen, aufgrund dessen die Vorstellung einer objektiven Aussenwelt mit ihren gesetzlichen Ordnungen entsteht.

Georg W.F. Hegel (1770-1831) lässt alle Wirklichkeit aus der Dynamik des Begriffs hervorgehen. Auf der höchsten Stufe der Idee und des Selbstbewusstseins ist alle Wirklichkeit aufgehoben. Die "Schale der Objektivität" fällt ab und hervortritt der reine Geist, der zum Subjekt geworden ist, der alles (auch Gott) in sich und sich als alles begreift. Hegel flüchtet von der Natur, von der Aussenwelt überhaupt in die Gedankenkonstruktion. Er verdrängt die Wirklichkeit und vermischt das Menschliche mit dem Göttlichen, obwohl die Grenze zwischen dem Endlichen und Unendlichen in Wirklichkeit unaufhebbar bleibt.

Hegels Werk strebt rein intellektuell die geistige Macht, die im absolutistischen Staate gipfelt, an, als der höchsten sittlichen Realität, der sich die einzelne Person vollständig zu unterziehen hat. Hegel hebt den Einzelnen auf, indem er ihn aufs Ganze verweist, dem er angeblich erhalten bleibt. In Wirklichkeit hört dieser aber als individueller oder persönlicher Bestand zu existieren auf.

Die kommunistische Gesellschaft illustriert dieses Verhältnis durch den Bedeutungsentzug der Person im Kollektiv. Für Hölderlin ist aber gerade die Besonderung und das Persönliche das Lebenselement der dichterischen Anschauung und Existenz. Es genügt eben nicht, die Ganzheit des Seins auf dialektische, vorübergehende Momente zu verteilen, deren jeder den vorhergehenden nicht ergänzt, sondern unter-kriegt. Die Natur lebt, wie das Seelische und der Geist, von der realistischen Koexistenz und Durchdringung der Momente. Denn in der ganzheitlichen Gestalt schliessen sich Besonderes und Allgemeines nicht antithetisch aus, sondern sie durchdringen sich.

Hölderlin tritt sowohl für die Rechte der "Natur", als auch für jene des "Individuums" gegenüber der Allmacht des Staates ein: "Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte. Er ist die Mauer um den Garten menschlicher Früchte und Blumen. Aber was hilft die Mauer um den Garten, wo der Boden dürre liegt?" 1) Der Einzelne gibt sich der Gemeinschaft hin, wird ihr nie absolut zu eigen. Das Individuum hebt sich nicht in einem Allgemeinen auf, sondern es weiss sich noch als ein Selbständiges und Eines, auch wo es in das Leben des Alls übergeht.

Wenigstens stürzt sich "Empedokles" allein, d.h. als Einzelner, in den Vulkan, während die Hegel'sche Idee des absoluten Staates in einer ganzen (marxistischen) Gesellschaft irgendwie verwirklicht wurde. Dabei stürzen jedoch nicht die Gründer der Ideologie, sondern bedauerlicherweise die Glieder des Kollektivs in der permanenten kommunistischen Revolution in den versengenden Abgrund. Dass in Hölderlins Dichtung der Opfercharakter anklingt, ist nicht der Identitätsphilosophie oder dem Kommunismus gutzuschreiben, sondern dem mystischen und in der Rollenverteilung unsicheren Dichter. Deshalb blieb sein Drama auch unvollendet. Was - menschlich als barer Unsinn betrachtet - einer irrtümlichen Ideologie zuzuschreiben ist, und wohl hätte überwunden werden können, dürfte wenigstens auf anologe Weise in einem Bezug zum Opfer Christi gesehen werden. Der Tod des Empedokles bringt allerdings keine Versöhnung der Gegensätze, sondern vielmehr deren Vermischung. In einem Brief (1794) an Hegel beschwört Hölderlin die gemeinsame Freundschaft zu seinem Jugend- und ehemaligen Studienfreund, gerade weil er im Denken von Hegel abweicht. Auch an diesem Zwiespalt, der nie zur Ruhe kam, dürfte Hölderlin letztlich zerbrochen sein. "Empedokles" meint ganz hegelisch, er sei "ein Schimmer nur, der bald vorüber muss. Im Saitenspiel ein Ton.." Nicht ohne inneren Widerstand lässt Hölderlin seinen Helden dieser Bestimmung zutreiben, die er einerseits wohl als unvermeidlich betrachtet. Anderseits beschwört er die Götter vor der ungebührlichen Identifikation von Gott und Welt.

Das "Empedokles"-Drama wird zudem vom antithetischen Widerstreit zwischen dem fälschlich verabsolutierten Dichterleben und der alltäglichen Menschenwelt mit ihrer geschichtlich-politischen Realität gezeichnet. Das war tatsächlich auch der Kern von Hölderlins damals politisch unruhiger Existenz und Parteinahme für das Neue, Revolutionäre. Der nicht ruhende Widerstreit im Dichter selbst kommt in den drei verschiedenen Entwürfen des Dramas und in ihrer Unvollendetheit zum Ausdruck. In Hölderlins Werk verknüpfen sich die rein gedanklichen und die rein dichterischen Elemente. Er fasst Denken und Dichten als "nicht getrennt(e)", sondern als "aufeinander bezogen(e), korrelativ zusammengehörige Gebiete" auf. Sicher war er auch philosophisch begabt, nicht aber für die herrschende Pseudophilosophie. Seine Aeusserung: "Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste" klingt ganz aristotelisch.

Die Merkmale der damaligen Zeit waren schon dieselben wie heute: das Auseinanderstreben des intellektuellen und vitalen Bereiches als Zerfall des Lebens; die Spaltung von Ich und Du, Leib und Seele, Aussen und Innen, von Himmel und Erde. Deshalb klagt er: "Ach, wäre ich nie in eure Schule gegangen !" In einer Mitteilung an die Mutter im Januar 1799 liest man, er habe sich mit (dieser) Philosophie befasst, um dem Ruf eines leeren Poeten zu entgehen. Dabei habe er aber nur Unfrieden und Missgunst erlebt, so dass er heute den entscheidenden Trennungsstrich zwischen Dichtung und (dieser) Philosophie ziehe. - Es war schon zu spät, die geistige Infektion zu tief in sein Herz eingedrungen.

Hölderlins Begriff der Innigkeit, den er noch mehr anstrebte als erreichte, war der des befreundeten Ineinanderwohnens der Gegensätze.

Das Licht der Höhe und das Dunkel der Tiefe waren eins in ihm, in der Absicht, "dass das Unterscheidende nicht verloren geht, wenn das Vereinigende sich auswirkt" (Emil Steiger). "Der Heilig-Trunkene fühlt das Dasein so, wie es in Wahrheit beschaffen sein muss als wohlunterscheidende, aber liebvoll vereinte Mannigfaltigkeit..."

Welch frohes In- und Zueinander der in Zwei- und Vieleinheit versöhnten Gegensätzen im Gedicht:

Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilig nüchterne Wasser
Weh mir, wo nehme ich, wenn
Es Winter ist die Blumen, wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde ?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt im Winde Klirren die Fahnen.

Im Widerspruch zum Inhalt der ersten Strophe steht das Winterbild mit dem isolierten Ich und der im Zerfall erstarrten Einsamkeit.

Der tragische Mensch, der sich mit dem Göttlichen identifiziert, verbrennt oder erfriert am Göttlichen.

Unser Dichter fand bei Sophokles wie "das grenzenlose Einswerden von Gott und Mensch durch grenzenloses Scheiden sich reinigt!"

Während Schiller in der Macht des Schicksals eine feindliche Macht, ein "böses Verhängnis" sah, ringt Hölderlin auch hier um die Integrierung, weil dem Herzen, sofern es aushält und die Mitternacht des Grauens durchduldet, eine neue Seligkeit aufgeht. Das bedeutet: Trauer und Hoffnung, Heiterkeit und Leid; oder "wie Nachtigallgesang im Dunkeln göttlich erst in tiefem Leid das Lebenslied der Welt uns tönt". Nur im Ineinander besteht die tiefe Wirklichkeit des Natürlichen, Seelischen und Göttlichen.

Hierin und im Glauben an die Grundvollkommenheit der Welt sowie an einen letzten guten Sinn des Daseins erweist sich, wie tief christlich Hölderlins Denken fundiert war.

Dem Kind ist die Natur gegeben, es ist noch nicht von dieser abgeschnitten. Im Symbol des Kindes löst Hölderlin das Problem. Dieses kennt keine Subjekt-Objekt-Spaltung, keine Wesensgründung in sich selbst; es liefert aber den Massstab zur Beurteilung des Menschen. In der "reinen Einfalt", der "vollendeten Bildung" sind Ich, Welt und Gott einander vollkommen zugesprochen.

Anmerkung:

9.2. "Hyperion" oder vom Widerspruch zum Zuspruch vom Sonnengott zum "Licht der Welt"

"Hyperion" ist in der griechischen Mythologie der Name des Sonnengottes. Schon dieser Name lässt erkennen, dass sich Hölderlins "Hyperion" einer höheren, idealen Identität verpflichtet weiss: "Eine Sonne ist der Mensch, allsehend, allverklärend... Die Allwissenheit womit wir uns durchschauten... ein Gott ist der Mensch, sobald er Mensch ist". (Hölderlin, Friederich: Hyperion, Inselverlag Frankfurt 1980, S.100, 95). Dass dies zu hoch, nach Hybris schillert, zeigt sich auch darin, dass Adamas, sein Erzieher, beim Abschied Hyperion Einsamkeit prophezeit.

Das Lebensgefühl des sich so übersteigenden Menschen polarisiert sich zwischen dem "Alles" und dem "Nichts", wovon Hyperion immer wieder spricht. Denn die visionär erlangte Gewissheit von der Identität mit dem Absoluten lässt sich nicht in der Wirklichkeit erhärten und stabilisieren: "Die reizende Flamme versucht mich, bis ich mich ganz in sie stürze und wie die Fliege vergehe...(95). Sie bleibt Gefühlsekstase, die bald in sich zusammenbricht: "Du wirst in einem Tag siebzigmal vom Himmel auf die Erde geworfen". (86).

Wenn der Mensch wähnt, Gott zu sein, es aber nicht ist, fällt er ins Nichts, dorthin, wo er ohne Gottes Schöpfung schon immer war. Deshalb der von Hölderlin erwähnte, sich stets von neuem wiederholende Sturz von der Höhe in die Tiefe: "Das ungeheuere Streben, alles zu sein, das, wie der Titan des Aetna, heraufzürnt aus den Tiefen unseres Wesens... Oftmals lag ich, wo kein Auge mich bemerkte, unter tausend Tränen da, wie eine gestürzte Tanne, die am Boden liegt und ihre welke Krone in die Flut verbirgt.. O es ist jämmerlich, so sich vernichtet zu sehen.."(24,25)

Schöpfung als Mittelstufe zwischen "Alles" und "Nichts" wird hier trotzig oder blind übergangen. Deshalb muss Hyperion klagen: "...die Natur verschliesst die Arme, und ich stehe, wie ein Fremdling, vor ihr, und verstehe sie nicht". (222). So empfindet der Erzähler Hyperion am Anfang des ersten Buches nur das Traurige der eigenen inneren Zerrissenheit. Hyperions Bewusstseinsprozess bezeichnet Hölderlin selbst als "exzentrische Bahn", dh. als eine ohne um das wahre Absolute gravitierende Existenz.

Nach der idealistisch utopischen Konstruktion bewegt sich das Leben zwischen einem paradiesischen Zustand der höchsten Einfalt und einem Zustand der höchsten Bildung; zwischen reiner Natur und reinem Geist. Weil dies nicht der realen Schöpfung entspricht, erlebt es Hyperion als "exzentrisch".

Das Wissen um den Verlust des Einfachen in der Vergangenheit und um die Unerreichbarkeit der Vollendung, gibt Anlass zur Trauer. Oder beide erzeugen Freude, wenn sie als wirklich vorgestellt werden, indem Hyperion beispielsweise die "selige Insel" eines privaten Liebesglücks mit Diotima erträumt.

In dieser utopischen Illusion liegt der Grund der Abschieds- und Trennungstragik, die in mehrfacher Stufung die Alabanda- und Diotima-Geschichte durchzieht. Mit dem Freund Alabanda, der die Züge Fichtes und Hegels trägt, versteigt sich Hyperion in den Aktionsabsolutismus: "Handeln! Handeln! das ist es, wozu wir da sind". (211)

Weil es diesen und das autonome Individuum mit seinem Freiheitspathos in einer solchen Absolutheit nicht gibt, mussten beide scheitern und auseinandergehen, zumal Hyperion Alabandas Etatismus und revolutionären Terrorismus nicht teilt. Sie mussten einsehen, dass es falsch war, in einem gewalttätigen Aktionismus - wie etwa "durch eine Räuberbande - ein Elysium pflanzen zu wollen"(Französische Revolution).

Das Absolut-sein-Wollen wie Gott ist nicht ein Weg, der ins Leben hinein-, sondern vielmehr einer, der aus dem Leben hinausführt; und logischerweise ins Nichts.

Der von Hölderlin häufig verwendete Begriff der "Trauer" meint die Isolation vom Allzusammenhang des Lebens, den Zustand unseligen Ausgeschlossenseins, was schliesslich und folgerichtig Hölle sein kann, als letzter Zustand des Abfalls von Gott.

Ist die einst am Kind gepriesene himmlische Ruhe nur seine Nähe zum Tod mit dem bewusstlosen Schlaf des Nichts? Dieser Tod und sein Nichts bleibt jedoch ewig angefochten, gerade durch ihre Ankündigung, die im Grunde keine Antwort, sondern eine ruhelose Befragung bleibt.

So endigt denn auch Hölderlins Hyperion mit der Verheissung: "Nächstens mehr". Dieses "mehr" ist angedeutet in seiner Dichtung um den "Einzigen": Jesus Christus.

"Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch"! Diotima warnt vor der exzentrischen Bahn. Sie ist das kindlich-vollkommene von keiner Exzentrik berührte Dasein. Indessen verzehrt sie die von Hyperion auf sie übergreifende Flamme des idealistischen Strebens, indem das naive Leben dadurch zerstört wird. Aber gerade durch ihren Tod, ihr langsames Absterben, wird sie zum moralischen Kriterium, zur entscheidenden Botschaft. "Stille war mein Leben; mein Tod ist beredt" - so schreibt sie selbst in ihrem Abschiedsbrief. (217)

Zugleich aber wirkt Diotimas Zurechtweisung dem Exzentrischen entgegen, im Sinne einer Zentrierung. Nach Diotimas Tod erfährt Hyperion durch die schmerzlichen Erfahrungen in der Sphäre des Exzentrischen eine aufbauende Rückwirkung.

Nachdem Hyperion immer schon, Heraklit zitierend, in dem "in sich selber unterschiedenen Einen" das Wesen der Schönheit erblickte, entdeckt er nun dazu die darin verborgene, die Ganzheit des Seins und der Geschichte umfassende Grundstruktur der Welt.

Hölderlin hat tatsächlich am Rande seines Hyperion-Manuskripts die Absolutheits- und Identitätsphilosophie korrigierend - später die ausdrückliche Bemerkung geschrieben: "Unterscheidung muss sein", nämlich dem Absoluten gegenüber und zwischen den Einzelwesen der Schöpfung.

So gilt nicht mehr die in der Ekstase übertriebene Identifikation - "Wir waren Eine Blume nur" (78) - sondern die durch ein ruhig erkennendes Bewusstsein gewonnene Einheit in Unterscheidung. Konkret heisst das beispielsweise: Ich und Du, Gott und Schöpfung in respektvollem Selbststand und zugleich in kreativer Liebesverbindung. Anstelle der destruktiven Vermischung und Spaltung der Dinge lässt sich allgemein das konstruktive Ineinander des Unterschiedenen entdecken.

Am absoluten Tiefpunkt von Hyperions Leben, wo er im endgültigen Abschied von Alabanda und Diotima Verlust und Vergänglichkeit im Uebermass erleiden muss, wird ihm die neue erlösende Erkenntnis geschenkt. Danach kann das so vehement Angestrebte - was sich prometheisch nicht erzwingen lässt - erst recht gnadenhaft geschenkt werden: die unio mystica, d.h., die innigste Vereinigung mit dem Absoluten.

Anstelle einer vollständigen Spaltung des Lebens in utopische Idealität und jammervolle Realität, statt dieses Dualismus erlebt Hyperion die Einheit der Gegensätze, wie jene von Tod und Leben, Trauer und Seligkeit: "Muss nicht alles leiden?... O meine Gottheit! dass du trauern könntest, wie du selig bist, das konnt' ich lange nicht fassen.. Aber die Wonne, die nicht leidet, ist Schlaf, und ohne Tod ist kein Leben". (225)

Während er früher exzentrisch zwischen Trauer und Seligkeit, Tod und Leben polarisierte und dabei orientierungslos hin- und herschwankte, vermag er nun beides als Ganzheit des Daseins zu begreifen: "Freude ist das Erlebnis gelungener Zentrierung" (215). Es mag wie ein spätes christliches Einsehen anmuten.

Immer schon sollte sich nach Hyperion die menschliche Gesellschaft frei entfalten. "Die rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der Staat" (212). Nicht einer neuen Staatsform, sondern vielmehr der Heranbildung eines neuen Menschen und einer von innen her erneuerten Gesellschaft gilt seine Zukunftssorge: "Das hat den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte". Damit wendet sich Hyperion gegen das totalitäre Staatsideal der Jakobiner und Hegels. Etwas weniger Utopie und etwas mehr Unterscheidung hätten ihm die Bewältigung des tätigen Lebens und auch die endgültige Verbindung mit Diotima ermöglicht.

Statt dessen ergab sich Hyperion der grausam widersprüchlichen Dialektik, wie sie ein Liebhaber, der zugleich tatbesessener Aktivist ist, heraufbeschwören muss.

"Ich muss dir raten, dass du mich verlässest, meine Diotima. Ich bin für dich nichts mehr, du holdes Wesen! Dies Herz ist dir versiegt... Ein Tag hat alle Jugend mir genommen; am Eurotas hat mein Leben sich müde geweint, ach! am Eurotas, der in rettungsloser Schmach an Lacedämons Schutt vorüberklagt mit allen seinen Wellen. Da, hat mich das Schicksal abgeerntet". (128).

Bezeichnend ist, wie der absolutistische Aktivist "das Verlassen" der Geliebten überwindet, nachdem er selbst, indem er freiwillig in den Krieg zog, sie verlassen hat.

"Noch einmal möchte ich wiederkehren.. aber höre das nicht! ich bitte dich, achte das nicht! ich würde sagen, ich sei ein Verführer, wenn du es hörtest.. (150).

"O das ist ja meine letzte Freude, dass wir unzertrennlich sind, wenn auch kein Laut von dir zu mir, kein Schatten unserer holden Jugendtage mehr zurückkehrt". (151)

"O Diotima! Diotima! Wann sehen wir uns wieder?" Es ist unmöglich, und mein innerstes Leben empört sich, wenn ich denken will, als verlören wir uns. Ich würde Jahrtausende lang die Sterne durchwandern, in alle Formen mich kleiden, in alle Sprachen des Lebens, um dir Einmal wieder zu begegnen". (152)

Die dialektisch antithetische Haltung ist keine Lösung der Probleme; deshalb der Schrei nach Dialog, nach Begegnung.wieder lieben, wie sonst". (164)

"Es ist zu spät, Hyperion, es ist zu spät. Dein Mädchen ist verwelkt, seitdem du fort bist, ein Feuer in mir hat mählich mich verzehrt.. müder und müder wurden die sterblichen Glieder. . deinem Liebling zur Ehre stirbst du, konnt ich nun mir sagen". (179, 180).

"Dein Feuer lebt in mir, dein Geist war in mich übergegangen aber das hätte schwerlich geschadet.. einer deiner Liebesreden hätte mich wieder zum frohen, gesunden Kinde gemacht.." (181) "Wir trennen uns nur, um inniger einig zu sein". (183) Das stimmt nun gerade nicht. Und das Leben selbst beweist es,indem die Geliebte zerbricht.

Eine durch schmerzliche Erfahrungen gemachte späte Einsicht lässt Hyperion seine akademische Ausbildung verwünschen: "Ach! wär ich nie in euere Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte, vor der ich, jugendlich töricht, die Bestätigung meiner reinen Freude erwartete, die hat mir alles verdorben.. bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne.." (14)

"Ach, mit mir ists aus; verleidet ist mir meine eigene Seele, weil ich ihr vorwerfen muss, dass Diotima tot ist, und die Gedanken meiner Jugend, die ich gross geachtet, gelten mir nichts mehr. Haben sie doch meine Diotima mir vergiftet!" (187)

Es betrifft jene Hegelsche Dialektik, nach der heute noch Marxisten handeln, welche Bejahung und Verneinung, d.h. Gegensätze nicht vereint, sondern diese identifiziert und dadurch das geschöpfliche Leben sprengt und zerstört, als ob der Mensch Gott selbst und auf seiner Ebene wäre. - Nach der Biographie hat sich Hölderlin tatsächlich von seinem ehemaligen Freund Hegel abgesetzt.

In Hyperions Verallgemeinerung wird der Groll zur bittern Schelte und Ablehnung der Deutschen überhaupt: Barbaren von alters her, durch Fleiss und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tief unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark.. in jedem Grad der Uebertreibung und der Aermlichkeit beleidigend für jede gut geartete Seele, dumpf und harmonielos., (189)

Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande zerrinnt?.. (190).

Es ist auch herzzerreissend, wenn man euere Dichter, euere Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht, wie der Dulder Ulyss, da er in Bettlergestalt an seiner Türe sass, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und fragten, wer hat uns den Landläufer gebracht?.. (192)

Und darum fürchten sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens willen, alle Schmach, weil Höheres sie nicht kennen, als ihr Machwerk, da sie sich gestoppelt..." (193).

Der Vorwurf der Zerrissenheit trifft allerdings auch Hyperion selbst. Denn mit der gleichen Liebe, die er Diotima schenkte, bedachte er - widersprüchlicherweise - auch seinen Freund Alabanda. So lastete über allen, über Hyperion, Alabanda und Diotima der dialektische Fluch einer in Trennung zerplatzenden Identität. - Die eigentliche Lösung durch "die in sich unterschiedene Einheit" war von Hyperion wohl anvisiert, aber noch nicht durchgreifend realisiert worden. Uebrigens ist dieser ernste Tadel von Menschen jedwelcher Nationalität zu bedenken. -

Hölderlin verliess Deutschland; kehrte aber bald wieder aus dem ihm fremd gebliebenen Frankreich zurück, in eine noch tiefere Fremde seelischer Abspaltung - in geistiger Umnachtung. Diese jedoch als Reinigung oder Katharsis verstanden, war und blieb, wie es Hölderlins letzte Gedichte unmissverständlich bezeugen, auf das eigentliche "Licht der Welt", auf Jesus Christus ausgerichtet.

10. HÖLDERLINS "AFTERPHILOSOPHIE"

Was hat der von einer Philosophie der Identität oder Selbstvergötzung bereits schwer infizierte Dichter gelitten, um sich von den eisernen Gitterstäben einer "stockfinsteren Aufklärung" und eines "hohlweisen Unsinnes", wie er diese selber nennt, zu befreien? Hölderlins Grösse besteht in dem beständigen Kampf des Geistes gegen eine gestörte geistige Innen- und Aussenwelt und in der Tendenz zum Ausgleich.

Herz und Geist, Glauben und Denken, Gefühl und Verstand, Innen und Aussen stehen sich in der Psyche Hölderlins anscheinend als kontradiktorische Gegensätze gegenüber. Die Entgegensetzungen sind in seinem Stil, in seinen Stimmungen und Haltungen und in den Gegensätzen seiner Charakterzüge zu beobachten. Der Dichter war sich darüber klar, dass beide Seiten seines Wesen im Widerstreit lagen und doch zur Einheit drängten. Er umschreibt deshalb sein Wesen durch Doppelbegriffe, wie "Herz und Geist", "Kopf und Herz", "Geist und Gemüt", die er in einem Komplementärverhältnis vereinigen möchte.

Die Einheit sah Hölderlin im Wesen seiner Freundin Diotima dargestellt. Er war in die Extreme Gefühl und Geist geworfen und strebte immer wieder in die Mitte zurück. Weil dies nurmehr theoretisch gelang, wie bei der "Synthesis" Hegels, musste Hölderlin, wenn auch nicht in seiner höchsten geistigen Tendenz, so doch in seiner konkreten Existenz an den Gegensätzen zerbrechen. Aehnlich die Philosopie Hegels. Hegel selbst starb plötzlich an der Cholera, während sein System bedrohlich immer weiter auseinanderstrebte und zugleich in die Vermischung umschlug.

Durch eine tiefe Ambivalenz von extremer Nähe und extremer Ferne und durch die Oszillation zwischen extremer Trennung und absoluter Identität wird bei Matussek die Person des Schizophrenen charakterisiert (1).

Vom griechischen Gott Dionysos heisst es, dass er "die Ordnung des Daseins, Zucht und Scham zerbrach, wie auch die Unterschiede zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Tier, Mensch und Gott" aufhob.

Goethe erkannte diese Gefahr bei Hegel, wobei "das Falsche zum Wahren gemacht wurde". Er mochte sich deshalb nicht näher mit der Hegelschen Philosophie einlassen. Doch anerkannte er Hegels Wissen im Einzelnen; dieses erschien ihm jedoch zu kategorisch. Er konnte nur wünschen, dass der "dialektisch Kranke sich durch die Natur heilen lasse". Hegel jedoch verachtete von seiner apriorischen Philosophie des Geistes aus die Natur. Goethe eignete ein solch gesund natürliches Denken, dass er nach erster Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie diese ablehnte. (2) Das kommt in einer Kritik an Hegels Vorrede zur "Phänomenologie des Geistes" zum Ausdruck.

Dort schreibt Hegel: "Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte und man könnte sagen, dass jene von dieser widerlegt wird: ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus." (3)

Dazu schreibt Goethe: "Es ist wohl nicht möglich etwas Monströseres zu sagen. Die ewige Realität der Natur durch einen schlechten sophistischen Spass vernichten zu wollen, scheint mir eines vernünftigen Mannes ganz unwürdig.. Wenn der sich einen Spass daraus macht, die Natur sophistisch zu verfratzen und sie durch künstlich sich einander selbst aufhebende Worte und Wendungen zu verneinen und zu vernichten, so weiss man nicht, was man sagen soll". (4) Goethe meint anderswo und ausserhalb dieses Zusammenhanges, <In jeder grossen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn>.

Tatsächlich wird die Knospe von der Blüte nicht widerlegt, sondern vielmehr ausgelegt, was ein organisch potentielles Verhältnis und Wachstum darstellt. Das "falsche Dasein" der Blüte ist wiederum vielmehr die potentielle Voraussetzung der Frucht. Was Hegel mit "verdrängen" und "unerträglich" erklärt, ist zwar rein äusserlich gesehen ein Nacheinander, im Innern jedoch vielmehr ein Ineinander, indem die Blüte bereits den wachsenden Fruchtknoten birgt und nach ihrem Absterben, beispielsweise beim wachsenden Apfel nurmehr als "Schönheitsfleck" oder Fliege auf der Oberfläche der Frucht erscheint.

Die katastrophale "Verdrängung" leistet sich vielmehr Hegel selbst, indem er die Hauptdimension des geschaffenen Seienden, die Potentialität unterschlägt. Im zweiten Teil des Zitates, wo Hegel von "notwendigen Momenten" redet, widerspricht er der vorausgehenden Aeusserung und verkennt zudem in seinen "Momenten" das kontinuierlich kreative Ineinander und Ausreifen des Ganzen (Aristoteles).

Hölderlin musste sich vom Schock solcher und ähnlicher Philosophie langsam erholen, vom deduktiven Denken des Idealismus, der - von der Abstraktion ausgehend - die Wirklichkeit errechnen wollte. Des Dichters Denken hingegen ist ein - im besten Sinne - gebundenes Denken; das sich in gewollter Bindung an das schicksalhafte Konkrete, an das vielschichtige, vielgestaltige Werden des wirklichen Lebens konstituiert.

Hölderlin ist ein "Wanderer", der unablässig dem Faden des Lebens nachspürt und es in keinem konstruierten System aushält. Im wachen Gehorsam gegenüber der lebenden Natur entwickelt der Dichter sein Denken, und zwar nicht in Begriffen, sondern in Satzungen, die stimmen.

So bittet er seinen Bruder: "Wir müssen auch der Gottheit, die zwischen mir und dir ist, doch wieder von Zeit zu Zeit das Opfer bringen, das leichte, reine, dass wir nämlich zueinander sprechen von ihr, dass wir das Ewige, was uns bindet, feiern". (5)

In der Begegnung mit dem schicksalhaften Du will unser Dichter des Dritten teilhaft werden, des absolut Göttlichen, "das zwischen mir und dir ist". Hier bricht das Denken Hölderlins ab und geht in Anbetung über. (6)

In einem Fragment von Hyperion heisst es: "Es muss heraus das grosse Geheimnis, das mir das Leben gibt oder den Tod - das Geheimnis des Seins schlechthin. Auf keinem ihrer Schritte vergisst die durstende Seele dies Geheimnis, nach dem sie unterwegs ist.. Was mir nicht Alles, und ewig Alles ist, ist mir nichts." (7)

Im Gegensatz zur vorausgehenden, echten Gotteserkenntnis spricht Hölderlin hier - was für seine pantheistische Phase des Hyperion bezeichnend ist vom Entweder-Oder und von der Möglichkeit des Todes, der ihn als Folge der Hybris oder des Uebergriffs ereilen könnte.

Hölderlin lebte in der Spannung auftauchender Hybris mit ihrer abrupten empörerischen Schärfe und inniger echter Frömmigkeit. Letzteres bezeugt auch das Gedicht:

Die Heimath
Denn sie, die uns das himmlische Feuer leihn,
Die Götter schenken heiliges Leid uns auch,
Drum bleibe dies. Ein Sohn der Erde
Schein' ich; zu lieben gemacht, zu leiden.

Die Entwicklung zum Bessern, vom pantheistischen zu einem Gott und Welt unterscheidenden und vereinigenden Weltbild vollzieht sich deutlich und überzeugend in seiner Tragödie: Der Tod des Empedokles. Man erkennt die wachsende innere Distanzierung des Dichters von der Identitätshaltung des Empedokles und die zunehmende Bedeutung seines Gegenspielers Hermokrates. Dieser achtet die Eigenart der Gegensätze und ihre Verbindung zum Gegenpol als Voraussetzung ihrer harmonischen Entgegengesetztheit. Dadurch entsteht "ein Bleibendes und Festes." Das Unterschiedene wird nicht wie bei Empedokles zur Identität gebracht, sondern in Unterscheidung bewahrt. Empedokles vereinigt identifizierend Kunst und Natur; Hermokrates hingegen unterscheidend. Empedokles "ersetzt" die Subjektivität durch das Objekt. Er verliert sich im Objekt, so dass er in ihm in einem Abgrund untergeht. Dagegen hält Hermokrates das Objekt oder die Natur in ihrer Festigkeit aus. Er verkraftet den Andrang des Werdens. Dadurch verfällt er nicht einem falschen Austausch oder einer falschen Alternative, sondern erzielt durch die Wechselwirkung der Gegensätze deren Annäherung und die Ganzheit. Nur in der Unterscheidung liegt die wahre Wechselwirkung und kann sich die Einheit vollenden. Auch nur in der Unterscheidung liegt das Allergrösste - die Möglichkeit der Liebe. Durch "Festigkeit im Ausdauern" des Subjektiven kommt es dem Objektiven gegenüber zur Annäherung und zur Ruhe des Gleichgewichts. Darin liegt die Voraussetzung zu organischem Leben; im Gegensatz zum Aorgischen, der ungebändigten und antithetisch dialektischen Entwicklung, die keinen organischen Zustand erlaubt. Was hier dargelegt wird, ist keine apriorische Deduktion aus dem Blauen, sondern philosophische Verarbeitung naturwissenschaftlicher Resultate. Sowohl der eine wie der andere Pol muss gegen jede Ausklammerung und gegen jede auch nur relative "Aufhebung" feststehen, d.h. "ausdauern". Würde ein Pol antithetisch abgestossen oder fahren gelassen, wäre es um die tranquilitas ordinis, um den Frieden oder das Gleichgewicht der dynamisch lebendigen Ruhe geschehen. Indem das Subjekt "ausdauert", wirkt es organisierend auf das Objekt; es bildet ergänzend zu diesem Objekt das andere Element der integrierten Ganzheit. Die "Ruhe" oder das "bleibende Feste" ist kein statischer, sondern ein dynamischer Zustand. Es handelt sich um eine lebendige Ruhe, in der alle Kräfte regsam sind; die aber - ihrer innigen Harmonie wegen - zu "ruhen" scheinen und deshalb auch nicht als tätig erkannt werden. Die Schöpfung wird vom Göttlichen gehalten, und zwar unter der Bedingung der harmonischen Einheit in Unterscheidung." ... Wenn jedes (der beiden Extreme) ganz ist, was es sein kann, und eines verbindet sich mit dem andern, ersetzt den Mangel des andern, den es notwendig haben muss, um ganz das zu sein, was es als Besonderes sein kann, dann ist die Vollendung da, und das Göttliche ist in der Mitte von beiden (8). Diese Weise des Daseins ist nüchterner als die antithetische, auch weniger dramatisch als diese, dafür umso standhafter. Führt die antithetische Dialektik zu permanenter Revolution, zum unausweichlichen Untergang, so ringt die analoge um ein heldenhaftes "Bleiben im Leben". Der Dialektiker ist bedingungslos seinem tragischen Spielraum ausgeliefert. Hegel geht an den Bedingungen des Lebens vorbei, das eine Forderung des Bleibens impliziert. Hölderlin versucht den "Fehl" des gewaltigen Empedokles (bzw. Hegel) zu vermeiden. Die Analogie ist nicht nur nüchterner, härter und standhafter, sondern auch den Nöten des Zeitlichen angemessener als das Identifizieren. In der dritten Fassung des Empedokles wird aus dem Gegenspieler der König und Bruder: "Doch hat eine Mutter uns gesäugt", sagt Empedokles von sich und seinem Bruder. Ihre Verwandtschaft erweist sich auch darin, dass beide dem Ganzen und den Gegensätzen verpflichtet sind. Beide wollen das Problem der Extreme lösen, jeder auf seine eigene Art. Dabei ist König Strato in der dritten Fassung Empedokles innerlich überlegen. Das Drama bricht ab, bevor Strato gesprochen hat. Detlev Lüders fragt mit Recht, ob nicht dieser, hätte ihn Hölderlin zum Schluss auftreten lassen, der eigentliche Held des Dramas gewesen wäre. (9) Das Daseinsproblem des Empedokles hat sich nur scheinbar gelöst. In dem Masse als diese Lösung nicht allgemeine Gültigkeit hat, bleibt Hegel mit seiner Philosophie temporär. In seiner Radikalität aber erweist er sich und folgerichtig auch der Marxismus, am meisten vergänglich und wird darin auch am auffallensten sich selbst zum Opfer (permanente Revolution oder gewaltsame Tötung). Die Selbstaufhebung der Menschheit im Kommunismus ist in dem Ueber-Mass begründet, mit dem dieser das Objektive (Materie) verabsolutiert und sich das personal Menschliche unterwirft.

Hölderlins Problematik ist tatsächlich die philosophisch eigentliche, klassische, die bereits das alte Griechenland aufwies. Sie dreht sich um zwei Haupttendenzen, die als das "königliche" (der Ana-logie) und das "empedokleische" (antithetisch dialektische) Prinzip bezeichnet werden können. Jenes ist dem "Bleiben" verpflichtet, dieses dem "Aus-der-Haut-Fahren" oder dem aorgischen Untergehen. Der Dichter will das Streben nach aorgischem Ausgleich des Schicksals in ein Streben nach organisiertem "Ausdauern" desselben wenden. (10)

Seit dem Jahre 1800 dürfte die "königliche" Haltung (Analogie als Einheit in Unterscheidung) in Hölderlins spätem Werk eine überragende Bedeutung erlangt haben. Das Prinzip der Analogie verweist auf das Auf-einander-angelegt-Sein der Dinge; prinzipiell auf das relative Nicht-Sein (Potenz) im Werden inbezug auf das Sein (Akt). Aristoteles definiert das Werden als "Akt in der Potenz, sofern dieser in der Potenz ist" (11) Das bedeutet immerwährende, relative Veränderung; relativ und nicht absolut (Hegel), weil vom endlichen und schliesslich vom unendlichen Akt (Gott) her definiert und gehalten. Der Relativismus hat mit der absoluten antithetischen Verneinung oder Absetzung zu tun, während die Relativität nur das relative, potentielle auf das Sein bezogene und im Sein ausdauernde relative Nicht-Sein kennt. Im Bezug auf das "Ausdauern" schrieb Hölderlin gegen die absoluten Absetzungen des Relativismus sowohl für die Philosophie als auch für die Theologie ins Stammbuch folgende Verse:

Wir haben gedient der Mutter Erd
Und haben jüngst dem Sonnenlichte gedient,
Unwissend, der Vater aber liebt,
Der über alles waltet,
Am meisten, dass gepfleget werden,
Der feste Buchstab, und Bestehendes gut
Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.

Das Entscheidende in Hölderlins Werk ist die Begegnung von Gottheit und Menschen: "Der Höchste, der ists, dem wir geeignet sind" ("Dichterberuf"). Das Gelingen der Dichtung hängt von der rechten Beziehung zum Höchsten ab. Welcher Art ist diese Begegnung in Hölderlins Spätwerk? Der Dichter schwankt zwischen dem "Streben nach organischem Ausdauern des Schicksals und gewaltiger Resignation und unheilbarer Verzweiflung. Er liefert sich nicht der christlichen Entscheidung. Aber, wer weiss um das Innerste und das Letzte, wer weiss um die Frucht seiner langen Läuterungszeit? "Was ist der Menschen Leben?" - "Unendlichkeit der Einheit" und "Reichtum der Vielfalt". Indem die Menschen sich dem zuwenden und beides nachahmen, entsprechen sie der Ganzheit der Welt und werden "ein Bild der Gottheit", der Einheit in Unterscheidung der Dreieinheit, an der auch unser Dichter festhält:

Vom Alllebendigen aber, von dem
Viel Freuden sind und Gesänge,
Ist einer ein Sohn, ein Ruhigmächtiger ist er,
Und nun erkennen wir ihn
Nun, da wir kennen den Vater
Und Feiertage zu halten
Der hohe, der Geist
Der Welt sich zu Menschen geneigt hat.

In dem Mass als der Mensch einen Teil oder sich selbst absolut setzt, möchte er sein wie Gott. Und an dem, das nicht nur durch die heutige Welt, sondern auch durch eine universale und vielfältige Geschichte des Menschenopfers dargestellt ist, hält der Dichter auch fest: Je radikaler sich der Mensch mit der Gottheit identifiziert, desto notwendiger wird sein Untergang. "Die Sphäre, die höher ist als die des Menschen", schreibt Hölderlin, "diese ist der Gott" 12). Der Dichter weiss sich dessen verpflichtet, was ist: Gott und Menschen sind unterschieden, aber dennoch vom "gemeinsamen Geiste beseelt". Dies will er seinem Gesang anvertrauen: "Innigst im Innersten gleichen wir uns" 13). Alles Seiende wird von einer innersten Gemeinsamkeit durchwaltet. Des gemeinsamen Geistes inne zu werden, ist die höchste Erfüllung des menschlichen Daseins. Und der Name des Eins und Alles ist Schönheit.

Geh, fürchte nichts, es kehret alles wieder,
Und was geschehen soll, ist schon vollendet.

Anmerkungen:

10.1. "Empedokles": die ausschliessliche Einseitigkeit - die "pars pro toto" und der "homo pro Deo".

In der Uebersetzung heisst das: Verabsolutierung des Teils, als ob er das Ganze wäre und Verabsolutierung des Menschen anstelle Gottes. Der Mensch will sein wie Gott, absolut, obwohl er notwendig zusammengesetzt oder ergänzungsbedürftig ist. Heute wird diese Haltung zur Krise der zivilisierten Menschheit überhaupt. Die Tendenz ist unübersehbar. Man mag hinsehen wo man will. Da ist unser Alltag mit seinem tierischen Ernst in Schule und Geschäft, während die seelischen und religiösen Belange an Schwindsucht leiden und eingehen. Oder da ist die waffenstrotzende Parade auf dem Roten Platz, während das Volk für die einfachsten Lebensgüter Schlange stehen muss. Da ist der Grosskapitalismus Südamerikas, während das Volk sich für einen Lohn abrackert, der nicht leben und nicht sterben lässt. Diese Haltung der einseitigen Ausschliesslichkeit mit ihren falschen Alternativen und Verabsolutierungen geht heute bis ins einzelne.

Friederich Hölderlin sucht diese irrige Haltung in seinen Entwürfen zur Tragödie Der Tod des Empedokles zu thematisieren. Der Autor selbst erscheint zunächst unsicher, ob er der Verabsolutierung dh. der Vergötzung des Empedokles oder der massvollen Zwei- und Vieleinheit demokratischer Freiheit sein Verständnis schenken soll. Heute noch schenken die Menschen im Osten und im Westen entweder dem Absolutismus, der Diktatur oder dem ausgleichenden Prinzip der Demokratie, der Zwei- und Vieleinheit ihre Anerkennung.

Im Tod des Empedokles sucht Hölderlin eine von natur- und gottfernen Priestern verführte Gesellschaft wieder in den "grossen Akkord mit allem Lebendigen" zurückzuführen. Zielsetzung und Konzeption Hölderlins selbst schillert. Deshalb die drei bruchstückhaften Entwürfe. Im ersten Entwurf unterliegt Empedokles, der Held selbst, einer tragischen Schuld. Er überhebt sich zum Herrn der Schöpfung; "Gesetz und Brauch, der alten Götter Namen, / vergesst es kühn und lebt wie Neugeborene, / die Augen auf zur göttlichen Natur.

Der des Landes Verwiesene wird nach Entlarvung der Priester zurückgeholt und zum König ausgerufen. Empedokles weist die Krone zurück und glaubt durch seinen Freisturz in den Aetna das Leben des Einzelnen und des Volkes zu erneuern.

Nach der Dritten Fassung - die zweite ist grössten Teils verloren gegangen - wird die Wiederherstellung des goldenen Zeitalters durch die Abschaffung des monarchischen Prinzips noch ausdrücklicher erstrebt. Bezeichnend ist nur, dass durch die Beseitigung des Absolutismus im Grossen und im Kleinen, die andere Verabsolutierung, die des Helden Empedokles sich Platz verschafft.

Das Drama stützt sich auf die Legende vom Freitod des geschichtlichen Philosophen, Arztes und dichterischen Sehers Empedokles. Die Dichtung aber verkörpert nicht die Verhältnisse des alten Agrigent, sondern das aktuelle Geschehen der französischen Revolution, nach der ein vergeblicher Revolutionsversuch in Schwaben erfolgte. Hölderlins Trauerspiel bleibt so weit zutreffend, als auch durch die Revolution weitgehend ein Absolutismus durch den andern ersetzt wurde, was sich selbst heute noch in der marxistischen Revolution bestätigt.

Diesbezüglich ist auch der Tod des Empedokles ein programmatischer, da jeder Sterbliche, der sich Absolutheit oder irgendwie das Gottsein anmasst, notwendig ins Leere treten und untergehen muss. Hölderlin selbst, der ideale Freiheitskämpfer, kann nicht als Jakobiner bezeichnet werden. Seine letzten Gedichte weisen, wie noch zu sehen ist, vielmehr auf ein geläutertes Gottesbild und auf Jesus Christus hin, Hölderlins erstes und letztes Bemühen gilt dem "Ganzen". Daher verabscheut er das Isolierte oder das antithetisch Abgespaltene zutiefst. Im ewigen Sein sind die Gegensätze in eine goldene Mitte versammelt, was jedoch etwas anderes als die empedokleische oder hegelsche Identität meint. Mit dieser gibt es, wie Hölderlin später bemerkt, keine Versöhnung und keinen Ausgleich. (1)

Nach der Frankfurter Zeit gelangt Hegel in Jena zu einer Philosophie der absoluten Identität, die ebenfalls in Hölderlins Werk enthalten ist, aber auch gerichtet wird. Th. Haering betont die tiefe Einheitlichkeit in Hölderlins geistigem Wesen, in der die Einheit von Natur und Geist nie ernsthaft verloren ging; dem steht das widersprüchliche Doppelwesen Hegels gegenüber, nach dem der Geist sich von der Natur abspaltet. (2)

Ueber Hegels Synthesis oder Ganzheitsbegriff schreibt Emil Staiger: "... wie Freiheit und Notwendigkeit als identisch erwiesen werden sollen, geschieht mit einer jener bedenklichen Aequivokationen, die so oft in seinem System eine Lösung vortäuschen müssen... Welch innere Ferne bekunden solche Paralogismen... Der Anspruch philosophischer Systematik... wird frappant zuschanden... (3)

Die idealistische Synthesis löst sich in Nacht auf, aus der In- differenz und Täuschung hervorgehen. Hegel möchte mit Hilfe der Vieldeutigkeit des Wortes "aufgehoben" die Schwierigkeit elegant bewältigen. Die Lösung ist jedoch zu glatt, zu mühelos wirksam, um gültig zu sein. (4)

Hölderlins philosophische Aufsätze sind, wenn auch nicht inhaltlich, so doch im Satzbau ähnlich ausholend und schwerfällig wie jene der übrigen idealistischen Denker. Der Inhalt jedoch zeichnet sich durch "Unterscheidung" und Transzendenz aus.

Bei der Gegensatzstruktur der Wirklichkeit, schreibt Hölderlin, "kommt alles darauf an", dass die Gegensätze "nicht zu sehr sich ausschliessen, sich aber auch nicht zu sehr vermischen"... "Isolieren sie sich zu sehr, so ist die Wirksamkeit verloren, und sie gehen in ihrer Einsamkeit unter; vermischen sie sich zu sehr, so ist auch wieder keine rechte Wirksamkeit möglich..." (5)

Der Dichter visiert genau die Einheit in Unterscheidung oder das Auf-einander-Angelegtsein der Dinge, wie sie Platon und besonders Aristoteles im Potenzbegriff erarbeitet haben: "Potentia dicitur ad actum" (Ein Potentielles wird zum Aktuellen hin definiert).

An anderer Stelle erörtert Hölderlin: "Im rein poetischen Leben" gibt es das "nur Entgegensetzende und Trennende" nicht. Dies hätte einen durchgängigen Widerstreit zur Folge". Das sich "Entgegensetzende" ist auch "verbindend" und das "Begrenzende und Bestimmende ist nicht bloss negativ, sondern auch positiv". (6)

Indem der Mensch sich von der äusseren Sphäre unterscheidet und somit nicht identifiziert, kann er nach Hölderlin "von dieser Sicht abstrahieren... und auf sich reflektieren... Dies ist der Grund, warum er aus sich herausgeht... Auf diese Art erreicht er seine Bestimmung. Er muss sich zu erkennen streben, sich von sich selber in seiner Sphäre zu unterscheiden suchen, indem er sich zum Entgegensetzenden macht, insofern dieses harmonisch ist, und zum Vereinenden, insofern sie entgegengesetzt ist." Wollte der Mensch "die Realität des Widerstreits, indem er sich mit sich selbst findet, vor sich selber leugnen", dann wäre auch "diese seine Identität, als Erkanntes eine Täuschung. Hält er aber "diese Unterscheidung für reell", dann "setzt er sich als Vereinendes und als Unterscheidendes "absolut abhängig". (7) Deutlicher würde man sagen: von einem Absoluten abhängig.

Mit der Feststellung des "Widerstreits" oder des "unterschiedenen" Wesens, vermag der Mensch sich nicht als "Alleinsein" oder Absolutes zu erkennen; seine Komponenten verweisen ihn vielmehr auf ein transzendent Göttliches.

Die in sich versperrten Philosophen des Idealismus legten, nach Hölderlin, unbekümmert der Natur und Wirklichkeit eine ihnen fremde Ordnung auf und waren nur um die Möglichkeit ihres Gedankens besorgt. (8)

Hölderlin versteht die Schöpfung, im Einklang mit der herkömmlich theologisch mystischen Tradition, als Zeichen, worin sich Gott irgendwie zeigt. In Natur und Kunst ahnt er die Unendlichkeit des Absoluten und fühlt er das Höchste gegenwärtig.

Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar
Wie der Himmel? dieses glaub ich eher.
 
Was ist Gott? unbekannt, dennoch
voll Eigenschaften ist das Angesicht
Des Himmels von ihm.
 
Doch reiner ist nicht der Schatten der Nacht
Mit den Sternen, wenn ich so sagen
könnte, als der Mensch, der heisset
Ein Bild der Gottheit. (9)

Gott ist höchstes Geheimnis und dennoch irgendwie offenbar. Nach Hölderlin vermögen wir sozusagen sein Gewand zu erblicken:

Alltag aber wunderbar zu lieb den Menschen
Gott anhat ein Gewand.
Und Erkenntnissen verberget sich sein Angesicht
Und decket die Lider mit Kunst. (10)

Danach ist dem Menschen eine direkte Erkenntnis Gottes versagt. "Mit Kunst" kann ein Zweifaches bedeuten. Einmal mit der Bedeutung "geschickt" versteht es die Gottheit ihr Geheimnis zu wahren. Dann aber auch, ganz im Sinne Hölderlins: durch die "Kunst" im schönsten Sinne des Wortes wie auch durch die Natur und vor allem durch den Menschen, als Bild Gottes, erscheint uns irgendwie Gottes Wesen und unendliche Grösse.

Der oberflächliche Mensch nimmt nur die äussere Erscheinung wahr, der tiefer dringende Blick des Dichters oder gläubigen Menschen erfasst die auf Gott zeichenhaft weisende Wirklichkeit. Dies gilt - denken wir an Franz von Assisi - vom Schönheitserlebnis in Natur, Kunst und menschlicher Liebe. Diese Erlebnisse entstehen "aus der Tiefe des verborgenen Grundes und aus der Höhe des göttlichen Geistes".

So war Hölderlins Ergriffenheit durch Diotima eine ungewöhnliche, der metaphysischen Tiefe entsteigend und aus der Höhe des göttlichen Geistes bewirkte. Diese Möglichkeit ist dem Menschen wesensgemäss gegeben, aber nicht jeder verwirklicht sie.

Ich bin in einer neuen Welt. Ich konnte sonst wohl glauben, ich wisse, was schön und gut sei, aber seit ich's sehe möchte ich lachen über all mein Wissen. Lieber Freund! Es gibt ein Wesen auf der Welt, woran mein Geist Jahrtausende verweilen kann und wird. Du weisst ja, wie ich war - wie ich jetzt bin, froh wie ein Adler, wenn mir nicht dies, dies Eine erschienen wäre und mir das Leben, das mir nichts mehr wert war, verjüngt, gestärkt, erheitert, verherrlicht hätte mit seinem Frühlingslichte? Durch Geistberührung in dem Quell ewiger Jugend getaucht, gottumgeben ewigkeitsbewusst. Die Schönheit, der Glanz am Gewande der Götter. Es ist eine ewige fröhliche heilige Freundschaft mit einem Wesen, das sich recht in dieses arme geist- und ordnungslose Jahrhundert verirrt hat. Mein Schönheitssinn ist nun vor Störung sicher. Er orientiert sich ewig an diesem Madonnenkopfe". (16.2.1797) 11)

An Diotima, an der Natur, an der Kunst wird Hölderlin das Höchste gewahr. Es ist nicht ein Traum der Sehnsucht, eine Idee, sondern das Absolute, das sich durch einen Menschen zu erkennen gibt; eine Art Epiphanie der Gottheit. Durch eine Art Inkarnation erscheint die Gottheit. Sie bezeugt damit, dass sie ist. Die Frage nach dem "wie" bleibt offen. Alles wird auf dieses Höchste bezogen. Die Welt verliert irgendwie ihre selbständige Wirklichkeit und empfängt dafür die von Gott ausgehende Sinnfülle. (12)

Es gibt nun allerdings bei Hölderlin auch die Vermischung. Die "Jungfrau Maria" beispielsweise vermischt sich mit der "Jungfrau Germanien"; der "Vater im Himmel" mit dem "Gott der Götter"; der "Engel der Verkündigung" mit dem "Adler des höchsten Vaters". Die christliche Entscheidung und Unterscheidung sind aufgehoben zugunsten der idealistischen Synthesis, die identifiziert.

Es figurieren auch Götter- als eine sich von Gott loslösende Menschheit, die sich selbst vergottet und Herr sein will. Wie so oft in der Bibel werden auch diese als Schein und Trug entlarvt, besonders wenn sie in den Dienst des Dämonischen zu stehen kommen. Unter einer besonderen Perspektive gesehen, können die Götter aber auch zur Ahnung und somit zur Potentialität des lebendigen Gottes werden.

Jedenfalls hat Hölderlin für die religiöse Mächtigkeit und Gestaltenfülle der Welt Zeugnis abgelegt. Man vermag in den griechischen Göttern die Einheit sehen: die Polarität von Aether und Erde. Für die Einheit spricht auch der androgyne Charakter der einzelnen Gottheiten, sodann die Aufteilung in Vater (Höhe, Licht, Macht, Herrschaft) und Mutter (Innerlichkeit, Dunkel, Dulden und Fruchtbarkeit). Der Sonne (Apollon) entspricht ergänzend das Meer (Poseidon). Herakles und in etwa auch Dionysos können als Ahnung und Andeutung der erlösenden Tätigkeit Gottes betrachtet werden. (13)

Je nach Gesinnung weisen die "Götter" ins Nichts oder ins relative Nicht-Sein, als Potentialität zum lebendigen Gott. Dieser adventliche Charakter der Götter kann überall und zu allen Zeiten walten. Bei Hölderlin scheint die Entwicklung der Götter als Besiegelung einer vergotteten Welt zum Einen Gott deutlich genug zu sein. In einer der letzten Hymnen betet er dichtend zu demjenigen, den er "den Einzigen" nennt:

Viel hab ich Schönes gesehn,
Und gesungen Gottes Bild
Hab'ich, das lebet unter
den Menschen. Aber dennoch
Ihr alten Götter und all
Ihr tapferen Söhne der Götter,
Noch einen such' ich, den
Ich liebe, unter euch,
Wo ihr den letzten eures Geschlechts,
Des Hauses Kleinod, mir
Dem fremden Gaste, verberget...
... Denn zu sehr,
O Christus, häng ich an dir,
Wiewohl Herakles' Bruder,
Und kühn bekenn' ich, du
Bist Bruder auch des Eriers, (Dionysos)
Es hindert aber eine Scham
Mich, dir zu vergleichen
Die weltlichen Männer.
Und freilich weiss
Ich, der dich zeugte, dein Vater, ist
Derselbe...

Ein Tasten - oder ist es mehr? - nach Christus. Der Dichter bereut im Hinblick auf sein Leben und Wirken, dass er zu sehr vom eigenen Herzen gesprochen und deshalb nicht offen genug den "Einzigen" bezeugte. Er verspricht es gut zu machen in einem anderen Leben:

Dieses Mal ist mir vom eignen Herzen
Zu sehr gegangen der Gesang,
Gut will ich aber machen
Den Fehl mit nächstem...-

Unser Dichter sucht in den letzten Hymnen den Zwiespalt zwischen der sinnlichen Götterwelt Griechenlands und dem erlösenden, Tragik überwindenden Christentum, zu überwinden. Er fand in Sophokles wie "das grenzenlose Einswerden (von Gott und Mensch) durch grenzenloses Scheiden sich reinigt ". (14) Gott rein und mit Unterscheidung Bewahren, das ist uns vertrauet. (15)

Das Reine ist nur in der Unterscheidung möglich. Es ist das Unvermischte. Christus als "Gott und Mensch" - weder Halbgott noch Zwitter - ist das die göttlichen und kosmischen Beziehungen wiedergebende grosse Modell. In den spätern Gedichten bemüht sich der Dichter die Personalität Gottes zurückzugewinnen.

Gott hat sich den Menschen in Christus gezeigt (Brot und Wein), weil ihnen "das Gedächtnis der Himmlischen ausgegangen" und sie "übermütig des Himmels vergessen" hatten. Christus wird wiederkehren am Ende der Zeit. Für seine ausserirdische Herkunft findet Hölderlin mächtige Bilder: der "heiligkühle Strahl des Vaters", das "Licht der Sonne Gottes".

Ein Mittler genügt nicht, er braucht Gefährten, eine Jüngergemeinde. Gott war in Christus da und liess eine Gemeinde zurück, die dieses Faktum im Martyrium der Welt bezeugt. Was geschehen ist und geschieht, wissen wir nur aus der Ueberlieferung der Jünger, deren "fester Buchstab" zu "pflegen" ist.

Zunächst heisst der Vater "der Höchste" und "des Himmels Herr". Christus ist der "Sohn des Höchsten", der "Herr", der "Gott", der "Freudigste". In der Hymne Patmos erarbeitet der Dichter Schritt für Schritt, Vater, Sohn und Geist als dynamischen Vollzug. Wie die meisten Hymnen ist auch Patmos triadisch aufgebaut. Leicht konnte unser Mystiker der Natur die Dreigliederung in der Umwelt und in der Naturwissenschaft entdecken: die drei Keimblätter als Urpflanze, die drei "Röhren", aus dem sich der ganze leibliche Organismus entwickelt.

Hölderlin schreibt vom "philosophischen Licht um sein Fenster". Der Blick zum Fenster hinaus entdeckt Triadisches: den Fluss inmitten zweier Bergflanken. Fliessendes und Festes verhalten sich nicht antithetisch, sondern analog. Auch die Bergkette "wogt" und der Fluss "bleibt" im Land und macht es urbar. Diese ontologischen Strukturen sind überall und alltäglich. Bis ins Seelische spiegelt sich das geistige Urbild. Und in der "bewegten Ruhe" (Akt in der Potenz), wird der Mensch sich seines Ursprungs und Zieles im Ewigen inne.

Hölderlin vergleicht die orientierungslose Zeit mit der "ungewissen Meeresebene". Aber es gibt die Bucht, der mütterliche Meeresbusen mit der Höhle, der "dunklen Grotte" (Bethlehem), dem Ort transzendenter Ereignisse. - "Wer Ohren hat, der höre - ".

Das zeitliche Werden, die ganze Menschheitsgeschichte ist eine schwache Wiederspiegelung des Ewigen Seins. Der Dichter steht im wissenden Dienst am "festen Buchstab" und in der guten Deutung des "Bestehenden". Er widerstrebt dem Wunsche, sich aus eigenmächtigem Geist seinen "Christus" zu bilden.

"Gottes Geheimnis nimmt zu, ebenso auch seine Evidenz". (Guardini) Aus dem Opfertod (Empedokles?) entspringt eine neue Deutung des Seins: Nicht mehr der Drang zu sich selber zu kommen, sondern das sich Offenbarende liebend zu empfangen. Das höchste Ineinander der Zwei-Prinzipien-Wirklichkeit und -Lehre heisst: "deuten und preisen".

Möglicherweise war das Griechentum Hölderlins eine zeitbedingte Abweichung vom streng biblischen Pietismus mit der Erwartung "eines herrlichen und endzeitlichen Zustandes des Reiches Gottes auf Erden". Christlich ist des Dichters Glaube an die Grundvollkommenheit der Welt und an den letzten guten Sinn des Daseins, weil eine "neue Seligkeit dem Herzen aufgeht, wenn es anhält und die Mitternacht des Grauens durchduldet... wie Nachtigallgesang im Dunkeln, göttlich erst im tiefsten Leid das Lebenslied der Welt uns tönt".

Jenes tausendjährige biblische Reich lässt noch auf sich warten. Der bereits Umnachtete und doch in letzter Reifung stehende Dichter schrieb in einem lichten Augenblick auf ein Brett:

Die Linien des Lebens
Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

Anmerkungen:

11. EINHEIT VON WISSEN UND GLAUBEN

"Ich bin derjenige, der ist", erklärte Christus der heiligen Katharina von Siena, "du bist diejenige, die nicht ist". Gott ist der Bestimmungsmächtige, wir sind die Bestimmungsbedürftigen. Wir können von uns aus nichts ausmachen über Gott. Er spricht, und wir haben zu hören und zu gehorchen. Immerhin sind wir durch Gott geworden. Auch wir sind aber im Vergleich zu Gott, der uns aus dem Nichts geführt, nur relativerweise. Denn im Werden sind wir auch nicht, das heisst aber nicht, dass wir nichts wären und nichts erkennten, denn dieses Nichts wird etwas, ist somit potentiell und verweist ana-log auf das absolute Sein. Wenn der Mensch, ohne von einer göttlichen Offenbarung ausdrücklich zu wissen, etwas über Gottes Dasein und Wesen erkennt, dann nur, weil Gott sich schon durch die Dinge der Welt irgendwie offenbart und zu erkennen gibt. Weil das Christentum ein aus der freien Entscheidung Gottes gnadenhaft Gegebenes ist, kann es als solches nicht, wie Hegel wollte, philosophisch deduziert werden. Andererseits kann es aber auch nicht, wie die dialektische Theologie möchte, derart verabsolutiert werden, dass jede philosophische Hinlenkung abzuweisen wäre. Schon Clemens von Alexandrien bedauerte es, dass die Mehrheit der Christen sich der Philosophie gegenüber ablehnend verhielt und den Glauben allein verlangte. P. Tillich legt als Vertreter zeitgenössischen Denkens die innere Zugehörigkeit von biblischer Theologie und Philosophie dar.(1) Es gibt demnach ein Apriori, ein Vorverständnis des Christentums, das im Seinsverständnis und in den Grundverhältnissen des menschlichen Daseins liegt. Deshalb hat der Mensch Anlass, obwohl er in Sachen des Heils nichts aus seiner Subjektivität zu fordern hat, nach einem personalen Heilsbringer Ausschau zu halten.(2)

11.1. Die thomistische Integration

Wir könnten, obwohl wir sind, ebenso gut auch nicht sein. Nachdem wir tatsächlich sind, und zwar nicht aus uns selbst, schliessen wir auf eine absolute Ursache, die wir Gott nennen. Im Vergleich zu ihm, dem Absoluten, nimmt sich die Welt mit uns als Nicht-Sein aus, das eben als solches auf das absolute Sein verweist. In dieser seinsmässigen Differenz liegt die göttliche Transzendenz. Diese bewirkt, dass wir Gott nicht unmittelbar zu erkennen vermögen. Gottes Existenz ist deshalb für den Menschen nicht von selbst einleuchtend. Nur vom Erschaffenen aus, auf dem Weg des Rückschlusses, kommen wir zu der Erkenntnis, dass es einen Schöpfer geben muss. Weil das Verhältnis von einer Ursache zu ihrer Wirkung nicht auf einer absoluten Ungleichheit beruhen kann, vermag die Vernunft, wie Thomas von Aquin bemerkt, in Richtung auf eine gewisse Wesensbestimmung Gottes weiter vorzudringen. Unser im Vergleich zum Sein Gottes erkanntes Nicht-Sein verlangt, dass wir von Gott alle Bestimmungen des kategorialen oder geschaffenen Seins verneinen und zugleich aufgrund der potentiellen Beziehung unseres Nicht-Seins zum absoluten Sein eine durch die seinsmässige Verneinung gereinigte Vergleichbarkeit bejahen. Dieses, eine unvergleichlich grössere Unvergleichbarkeit als Vergleichbarkeit aufweisendes Verhältnis wird, sowohl in der Ordnung des Seins als auch des Erkennens, als ein analoges bezeichnet. So erkennen wir Gott nur in inadäquater Weise, und doch ist es eine wahre und wirkliche Erkenntnis.

Das im ersten Vatikanischen Konzil aufgrund des Römerbriefes (19-23) verteidigte Vermögen der menschlichen Vernunft, auch ausserhalb des Glaubens Gott zu erkennen, entfaltet sich innerhalb einer begnadeten Naturordnung. Tatsächlich vollzieht sich dieses philosophische Denken in einer christlich-kirchlichen Tradition und auf einer im Glauben fundierten Existenz. Der Thomismus begnügt sich deshalb mit der Aussage, dass die Erkenntnis von Gott als Schöpfer und die Erkenntnis bestimmter göttlicher Eigenschaften nicht nur in keiner Weise gegen die Vernunft verstosse, sondern eigentlich der wahre Ausdruck des Wesens und des Vermögens der Vernunft sei, auch wenn noch kein Mensch faktisch auf dem Weg des natürlichen Erkennens zur Ueberzeugung vom Dasein Gottes gelangt sein sollte. Wie gelangt aber die Vernunft zum Glauben? Einen direkten kontinuierlichen Weg gibt es nicht. Den Glauben erlangt der Mensch nur durch Gottes besondere Gnade und den Entscheidungsakt seines Willens, sich unter die Autorität Gottes zu stellen. Es ergibt sich also eine seinsmässige oder analoge Unterscheidung zwischen "natürlicher" und "übernatürlicher" Gotteserkenntnis. Und doch besteht vom Nicht-Glauben der Vernunft zum Glauben der analoge Verweis der natürlichen Potentialität zur höheren "übernatürlichen" Aktualität. Das Trachten nach Weiterkommen und Transzendenz liegt im Wesen der Philosophie. Sie stellt Fragen, die sie nicht selbst beantworten kann und wünscht in Gottes ewiges Wesen Einblick zu gewinnen, dessen Spur sie in der sichtbaren Welt erkannt hat. Sie möchte Gott erkennen wie er ist.

Die Gnade hebt die Natur nicht auf, lehrte Thomas, sondern setzt sie voraus und vollendet sie. Obwohl die Natur sich nicht selbst zur Gnade oder zur Glaubenserkenntnis erheben kann, ist sie zum Uebernatürlichen hin geöffnet. Sie ist zunächst den Gründen zugänglich, die davon überzeugen, dass Gott aus dem offenbarten Wort, das die Kirche verkündigt, spricht. Ein nur auf Vernunftsgründen beruhender "Glaube" wäre allerdings kein Glaube. Der "eingegossene Glaube" ist Gnade, Gabe Gottes, indem Gott gleichsam sein eigenes Erkenntnisvermögen dem Glaubenden mitteilt. Das Entscheidende in der Haltung des Gläubigen ist daher nicht das Hören auf die Vernunftsgründe, sondern das Gebet um Erleuchtung und die Unterwerfung unter Gottes Autorität. Weil die Vernunft von Natur aus auf Evidenzerkennen eingestellt ist, stellt der Glaube nicht eine Vervollkommnung des Intellektes auf dessen eigener Ebene dar. Und doch ist die Erkenntnis durch den Glauben ein wirkliches Erkennen und eine Zufriedenstellung des Drängens der Vernunft. Zudem kann die Vernunft geltend machen, dass die Glaubenswahrheiten sich nicht untereinander widersprechen und bei aller Inevidenz nicht eigentlich vernunftswidrig sind. Eine wirkliche Unvereinbarkeit zwischen Glaube und Vernunft ist unmöglich, da der gleiche Gott, der seine Geheimnisse offenbart, dem Menschen auch das Licht der Vernunft geschenkt hat. Der Schein eines Widerspruchs entsteht hauptsächlich, weil entweder die Glaubenswahrheiten missverstanden oder weil subjektive Auffassungen für Aussagen der Vernunft gehalten werden. (3)

11.2. Reformatorische Theologie in Angleichung zur scholastischen Vergangenheit?

In seiner Auslegung des Römerbriefes erklärt Luther: "Ich glaube, dass ich dem Herrn diese Gehorsamkeitshandlung schulde, auf die Philosophie zu schelten und zur Heiligen Schrift zu locken." Trotzdem ist Luthers Haltung zur Philosophie und zu Aristoteles nicht eindeutig negativ. Er appelierte zudem gegenüber einem falsch verstandenen Aristoteles an den echten. So sagt er im Kommentar zum Galaterbrief, dass Aristoteles sich in seinen Grenzen hielt, und dass er deshalb besser ist als die "Sophisten und Mönche".(4) Aristoteles'fünftes Buch der Nikomachischen Ethik nennt er sogar ein "herrliches" Buch. Luthers harte Urteile über Aristoteles hängen nicht nur mit seiner neuen, reformatorischen Auffassung vom Christentum zusammen, sondern sind auch durch die ockhamistische Schulung, die er in Erfurt erhalten hatte, bedingt. Die Ueberbetonung des zwischen Glaube und Vernunft errichteten Gegensatzes dürfte allerdings in Luthers zeitbedingter Paulusinterpretation und einer zu ausschliesslichen Theologie des Kreuzes liegen. Bei aller Betonung der Sündhaftigkeit durch die evangelische Theologie des 17. Jahrhunderts erscheint uns der Unterschied zwischen der lutherischen Einschätzung der "ratio renata" und der thomistischen, von der Gnade geheilten "ratio renata" nicht wesensverschieden. Die auf Augustinus zurückgehende anglikanische Stellungnahme hält sich stärker an den Thomismus als an das orthodoxe Luthertum. Die Unfähigkeit der Vernunft, selber den Weg zu finden, sieht A. Richardson in der modernen skeptischen Philosophie und in Marx' und Freuds Rede von den verborgenen Motiven, die unser Denken bestimmen, bestätigt. Anderseits befindet sich, nach ihm, selbst der atheistische Forscher durch seine ehrliche Wahrheitssuche in einer Beziehung zu Gott. Aehnlich offenbart sich Gott dem Künstler in der Schönheit und jedem Menschen im lebendigen Gewissen.(5) Indessen hat sich aber im kontinentalen Protestantismus in neuerer Zeit auch ein tiefer Bruch mit der theologischen Vergangenheit vollzogen. Kants antithetische Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft und gar Hegels berühmte "Versöhnung" von Glauben und Wissen, die einer Verschlingung des theologischen Partners gleichkommt, bedeuten des Todesstoss für den Glauben. Und Kierkegaards ebenso extremer Gegenversuch vom "Paradox", nach dem Glaube und Wissen zwei voneinander absolut unabhängige Daseinsbereiche seien, bot keine wahre Lösung, um den christlichen Standpunkt in dieser Frage zu retten. Die lutherische Gläubigkeit, der wir uns bald wieder zuwenden wollen, wurde somit in der Krise des 19. Jahrhunderts vom Rationalismus und einem sogar linksgerichteten Materialismus (A.Feuerbach, D.F. Strauss) überspielt. Während ein A. Comte, in lateinischer Klarheit, die theologische mit der echt wissenschaftlichen Stufe für unvereinbar erklärt, glaubte F. Schleiermacher die Erlösung in Christus mit einer idealistischen Immanenzphilosophie vereinbaren zu können. Dieser Versuch war im Grund jedoch keine Lösung, sondern eine kurzschlüssige Verschleierung des Problems, indem die Frage nach der Wahrheitserkenntnis kurzerhand in die Philosophie verlegt wurde, während der Religion lediglich das Gefühl zukam, so dass die christlichen Glaubenssätze nur als Modifikationen des subjektiven Bewusstseins betrachtet wurden. Schleiermacher wie auch der Hegelianer A. Biedermann waren nicht mehr christliche Theologen, sondern Religionsphilosophen. Auch A.Ritschels Harmonisierungsversuch durch die kantische Trennung zwischen "Werturteilen" und theoretisch-wissenschaftlichen Urteilen war keine Ueberbrückung, sondern nur eine Tarnung der bestehenden Kluft und der darausfolgenden Bewusstseinsspaltung. Deshalb wandte sich Ritschels Schüler W.Herrmann mit Recht gegen diesen angeblich glatt aufgehenden Lösungsversuch. Er glaubte aufdecken zu müssen, dass der christliche Glaube absolut contra naturam sei, indem die Gesetzmässigkeit der Natur mit dem Glauben an die Macht Gottes unvereinbar sei. Wir können nicht gleichzeitig erkennen und glauben. Die Lösung sieht Herrmann in einer dialektischen Bewegung, nach der bald der eine, bald der andere der beiden unvereinbaren Gegensätzen in den Vordergrund tritt. Eine solche Auffassung musste aber wie in der Hegelschen Dialektik zum Tod des Glaubens durch das unaufgehbare Erkennen oder Wissen führen.

Dem grausamen Spiel von der "doppelten Wahrheit", das seinen Ansatz schon im Mittelalter bei Duns Scotus und William von Ockham hat, wurde durch E. Troeltsch ein Ende bereitet, indem dieser alles aus dem Christentum entfernte, was nicht in das moderne Weltbild hinein zu passen schien. Seine Theologie wurde zur Religionsphilosophie, nach der die christlichen Fakten mit Einschluss der Person Christi relativiert und das Christentum um seinen Absolutheitsanspruch gebracht wurden. Ein für eine gewisse Angleichung an die katholische Tradition repräsentativer Denker und Theologe ist der dem württembergischen Pietismus entstammende und stark durch ihn geprägte Karl Heim. (6) Er hat im friedlichen Tübingen aussergewöhnlich intensiv die geistigen Krisen unserer Zeit durchlebt. Er macht K. Barth und E. Brunner den Vorwurf, so von Gott zu reden, als sei dieses Wort ein inhaltlich klarer Begriff, während viele Menschen mit diesem Wort nichts anzufangen wissen. Während Luther noch fragen konnte: wie erhalte ich einen gnädigen Gott, stellt sich im 20. Jahrhundert radikal die Frage: Hat das Wort "Gott" einen verständlichen und akzeptablen Sinn? Heim ist der Auffassung, dass die Theologen den religiösen Nihilismus viel zu wenig ernstnehmen. Im Nihilismus der Verzweiflung ist man bereits auf dem Weg der Genesung. Im jüngsten Nihilismus jedoch ist nicht einmal ein Winkel für die Frage nach Gott übrig, Gott ist nicht nur entthront, sein Begriff ist sinnlos. Nach Heim kann die Aufgabe der Religionsphilosophie nicht in einer christlichen Apologetik bestehen, sie muss sich mit der Klärung des Begriffs von Gott begnügen und erläutern wie sich das, was dieser Begriff für uns enthält, zu unserem heutigen Wirklichkeitsbild verhält. Heim spricht von der Wirklichkeit als von "Räumen", die von einander geschieden sind, nicht nur wie zwei Zimmer, die durch eine Wand getrennt sind, sondern die durch etwas, das Heim "dimensionale" Grenzen nennt, abgesondert sind. Dies ist für die nachkantianische Wirklichkeitsauffassung bezeichnend. Der dreidimensionale Raum, in dem wir die Welt der Objekte erfassen, hat notwendigerweise seinen "Gegenpol" in der besonderen Welt des erkennenden Subjekts, dem Ich Raum, der nicht zum Objekt gemacht werden kann. Die Welt ist vom beobachtenden Subjekt nicht zu trennen. Was das Subjekt betrifft, haben wir es mit einer neuen Weise des Daseins zu tun. Das Ich ist indessen faktisch nur Ich im polaren Gegensatz zu einem Du, das als Person ernstgenommen werden will.

Dieses "Polaritätsverhältnis" ist das gemeinsame Charakteristikum aller Formen der Wirklichkeit. Ueber die Polarität von Subjekt und Objekt, von Ich und Du scheinen wir nicht hinaus gelangen zu können. Es stellen sich jedoch äusserst bedeutsame Grundfragen. Woher stammt dies alles? Warum ist das Dasein so und nicht anders? Die polaritätsbestimmte Wirklichkeit kann keine Antwort auf diese Frage geben. Es liegt in der Natur der Sache, dass in einer "polaren" Welt das eine Glied das andere in einer unendlichen Reihe bedingt. Damit trifft Heim den scholastischen Kontingenzbegriff des dem Werden unterworfenen Seins. Er erinnert daran, dass die jüngste Naturforschung sämtliche innerweltliche "Absoluten", das absolute Objekt, die absolute Zeit, den absoluten Raum, die absolute Determination aufgelöst und somit die "Götzen" zertrümmert hat. Damit sehen wir uns vor die Alternative gestellt: entweder auf den Anruf des wirklich Absoluten zu hören oder uns einem radikalen Relativismus, einer zufälligen Willkür, einem blinden Schicksal, wo alles in Sinnlosigkeit endet, zu überlassen.

Dem Menschen kann geholfen werden, aber nur vom "überpolaren Ursein" her, das völlig anderer Art ist als jedes "polare" Sein. Der optimistische Glaube des Idealismus, wir seien mit dem Göttlichen identisch, zerbricht an der Wirklichkeit, in der wir unmittelbar stehen. Gott ist unendlich verschieden von uns und gleichzeitig ist er uns näher, als wir uns selbst sind. Dieses "überpolare" göttliche Sein kann kein "Neutrum", sondern muss ein einzigartig Persönliches sein. Ein unpersönliches "Es" kann nämlich kein persönliches "Ich" erschaffen oder mein Verpflichtetsein erklären. Ist aber Gott persönlich, so muss die Begegnung mit ihm die Begegnung mit einem Du sein, jedoch nicht nach menschlicher Art. Denn er ist das "allgegenwärtige Ur-Du" allen Ichs, das unmittelbar nahe Wesen. Dieses "Ur-Du" kann ich nicht als Objekt behandeln. Durch das neutestamentliche Zeugnis stehe ich unentrinnbar in einer Entscheidungssituation. In Jesus wird der Sinn des ganzen Daseins enthüllt. Das lässt sich allerdings nicht menschlich beweisen. Johannes weist den einzig möglichen Weg (Joh 7, 16-17): die Befolgung von Jesu Wort und die Erfahrung, dass der Grund trägt, dass wir den Felsengrund der Ewigkeit unter unseren Füssen haben. Es liegt nicht in unserer Macht, das "überpolare Ursein" zu erkennen, es ist dies ein Geschenk der Gnade, das uns immer wieder von neuem gegeben werden muss. Auch dass die Frage nach dem Sinn des Daseins ernsthaft in uns erwacht und wir die Unhaltbarkeit aller immanenten Antworten erkennen, ist "eine Wirkung des Geistes Gottes". Wir dürfen wohl mit Heim und Soe den Uebertritt vom "polaren" Raum zum "überpolaren Urraum" als Sprung des von der Gnade befähigten Menschen bezeichnen, wobei ihm jedoch seine natürliche Kontingenz als Potentialität zum Sprungbrett wird. (7)

11.3. Anthropomorphismus und Agnostizismus

Bei aller Irreligiosität in unserem gegenwärtigen Kulturraum stellt sich das religiöse Verhalten doch als ein "Urdatum", ein apriorisch Gegebenes heraus. Die psychiatrische Erfahrung zeigt, dass bei Nerven- und Geisteskranken das Religiöse sich äusserst häufig bemerkbar macht. Es muss deshalb als ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Psyche betrachtet werden, deren Aeusserung im Alltag weniger bemerkt wird, weil sie in einem säkularisierten Kulturmilieu verdrängt wird. Diese Tatsache wird durch den Ausspruch eines so kundigen Psychologen wie C.G. Jung bestätigt. "Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heisst jenseits 35, ist nicht ein Einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben."

Die urtümliche Sprache des Menschen, wie sie sich aus dem Unbewussten authentisch dokumentiert und deren sich auch der offenbarende Gott, um überhaupt verstanden zu werden, bedienen muss, ist nun aber das Bild. Wir kommen also um einen gewissen Anthropomorphismus nicht herum. Unsere Bilder stammen alle aus unserer sinnlichen Anschauungswelt. Sie sind deshalb wesensverschieden vom göttlichen Urgrund des Daseins. Das gilt auch von den abstraktesten Ausdrucksformen der spekulativen Theologie, nach der wir von Gottes Allmacht oder Allgegenwart sprechen. Wir sind uns also darüber klar, dass unsere Ausdrucksformen in bezug auf das, was sie ausdrücken sollen, inadaequat sind. Weil wir uns im christlichen Glauben jedoch in Verbindung mit dem transzendenten Gott befinden, wird das Entscheidende des Glaubensinhaltes zu allen Zeiten das Gleiche sein. Das in der Offenbarung vermittelte göttliche Wesen drückt sich aber in wechselnden Formen aus, die den Gesetzen der geistesgeschichtlichen Entwicklung unterworfen sind. Wenn Christus von Gott als "unserem Vater" spricht, erinnert er an das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Eltern und Kind. Dieses Verhältnis aus dem menschlichen Leben kann aber auf Gott übertragen nur im obigen Sinne als analog richtig verstanden werden. Die wahre Erkenntnis befindet sich also zwischen dem eigentlichen Anthropomorphismus, der Gott als einen zum höchsten gesteigerten menschlichen Vater auffasst, und dem vom Modernismus vertretenen und von der Kirche verurteilten Symbolismus, der diese Aussagen menschlicher Erkenntnisform nur als dichterische, als phantasievolle Ausdrücke von subjektiven Gefühlen betrachtet. Diese "symbolische" Auffassung, von Schleiermacher beeinflusst, bedeutet, dass die religiösen Aussagen streng genommen nichts über Gott aussagen, sondern nur verschiedene Seiten des christlichen Frömmigkeitserlebens beschreiben. Gott wird so, nicht im biblischen Sinn, zur realitiv, sondern absolut unerkennbaren und unaussprechlichen Wirklichkeit erklärt, was dem Agnostizismus gleichkommt.

11.4. Rudolf Bultmann oder die durch die Philosophie entrechtete Theologie

Bultmann hat scheinbar radikal mit dem Agnostizismus Schleiermachers gebrochen und sich zum lutherischen Verständnis vom "Wort Gottes" an uns, zum Kerygma, das fordert und richtet, aber auch vergibt und wiederherstellt, bekannt. Er hat sich der Botschaft von der Rechtfertigung durch den Glauben allein und vom Kommen Gottes zu uns in Christus zugewandt. Es wäre darum ein Missverständnis, wenn man in Bultmann nur den Fortsetzer der liberalen Theologie, die vor Barth herrschte, sehen wollte. Doch hält er an einer im wesentlichen kantischen Subjekt-Objekt- Spaltung fest, die ihn trotz allem nicht ernstlich mit dem Entscheidenden im "Symbolismus" brechen lässt. Sein existentialistisch ausgeformter Kantianismus lässt ihn erklären, die Botschaft habe nur in ihrer Anrede an uns Realität und Wahrheit. Jeder Rückgriff auf eine dahinterliegende, von dieser Begegnung unabhängige Wirklichkeit, wird als unberechtigt, als "Mythologie", zurückgewiesen. Selbst der Rettertod und die Auferstehung Christi, Begründung von Gericht und Erlösung, finden keine Gnade. Alle Aussagen über Gott, wie er in sich selbst in seinem innertrinitarischen Leben ist, oder über Gottes Handeln in der Welt, unabhängig von unserer Existenz, werden als "metaphysisch" abgelehnt.

Weil der Charakter des "Wortes" des "Kerygmas" als von aussen kommender Anrede beibehalten wird, kann die Frage nach einem von meiner Auffassung Unabhängigen, nach einer überweltlichen Person nicht verstummen. Erkläre ich, dass dieses "von aussen" kommende Wort Gnade verkünde, so kann doch dieses Wort wohl auch nur "symbolische" Bedeutung haben. Die Auferstehung zum Beispiel wird "entmythologisiert", damit nur das "Kerygma" der Auferstehung zurückbleibe. Warum aber soll ein göttlicher Eingriff wie die leibliche Auferstehung Jesu nur "mythologisch" sein können, während ein vonaussen, von Gott kommendes Kerygma nicht als "mythologisch"erklärt wird? Logischerweise lehnen deshalb radikalere Existentialisten Gottes Sein und Wirken ab. Gott sei nichtgegenständliche Person, sondern Beziehungsbegriff zwischen Mensch und Mensch.

Wie kann man an einer Botschaft (Kerygma) festhalten und gleichzeitig den für die ursprünglichen Ueberbringer der Botschaft ausschlaggebenden Inhalt entfernen? E. Brunner bemerkt mit Recht, dass diese Interpretation zu einer Amputation geführt habe.(9) Hier wie anderswo hat sich Kants eiserner Vorhang zwischen Sinnes- und Geisteswelt verhängnisvoll ausgewirkt. Sogar in der Theologie meinte man, nach Kant, die gesamte "Erscheinungswelt" einer unerbittlichen, kausalen Determination ausliefern zu müssen. So wurden sowohl die "Naturwunder" als auch die "geistlichen" Wunder und damit die zentrale Botschaft des Christentums von der Auferstehung unmöglich. Dass man aus Kants Erkenntniskritik nicht immer diese Folgerung zog, war eine, wenn man will, glückliche Unkonsequenz. Wenn Kant, wie er selber sagt, "das Wissen aufhob, um dem Glauben Platz zu schaffen", so handelt es sich bei ihm nicht um den christlichen Glauben, sondern um einen ethisch- religiösen Idealismus, den er schützen wollte. Dieser wurde an die aller sinnlichen Erkenntnis unzugängliche Innerlichkeit, an die Noumenwelt verwiesen. Die sichtbare Welt der Erscheinungen hingegen war von Gott verlassen.

Kant erklärte apriorisch, dass alles, was sich uns als Objekt, also die gesamte "Erscheinungswelt", darbietet, deterministisch verstehbar sei. Heute hat die Naturwissenschaft, namentlich die Atomforschung, nachgewiesen, dass sowohl eine apriorische Auffassung der wissenschaftlichen Methode als auch ein ausschliesslicher Determinismus endgültig überwunden sind. Dass bestimmte "Verstandeskategorien", wie die von Kant aufgestellten, Vorbedingung jeder Erfahrung sind, hat sich als unrichtig erwiesen. Heute weiss man, dass Kants doktrinäre Behauptung von der undurchbrechbaren Determination der Erscheinungswelt Dogmatismus war. Kant griff den Dogmatismus der Scholastik an, während diese den von Aristoteles übernommenen und heute den neuesten Erfahrungen am besten entsprechenden Begriff der Potentialität liefert.

Kant hätte niemals einen so zentralen Platz in der Erkenntniskritik, wie sie ihm die protestantische Theologie einräumte, einnehmen dürfen. Diese seine Stellung muss jedenfalls heute als überwunden betrachtet werden. Ein so einflussreicher Philosoph wie Bertrand Russell meinte: "Kant hat den Ruf, der grösste aller modernen Philosophen zu sein, meines Erachtens aber war er schlechthin ein Unglück".(10) Dies gilt nicht zuletzt auch im Hinblick auf die von Kant beeinflusste Theologie, die ihren eigentlichen Inhalt einbüsste. Denn wie der von Kant angesetzte Idealismus schliesslich durch Hegel konsequenterweise auch mit der Wirklichkeit eines "Ding an sich" aufräumte, so ist auch damit zu rechnen, dass die Nachfolger Bultmanns, wie bereits angedeutet, mit der Realität des Kerygmas vom transzendenten Gott nichts mehr anzufangen wissen. In der Forderung, dass die Heilsbotschaft des "weltanschaulichen Gewandes", das der Vergangenheit angehört, zu entkleiden sei, verdient Bultmann allerdings Zustimmung. Bultmann hat ein tieferes Verständnis des Zentralen der biblischen Botschaft als Kant oder Hegel, er will es nicht nur nicht verlieren, sondern ihm sogar grössere Klarheit verleihen. Trotz seiner richtigen Absicht unterliegt er jedoch einem über das Ziel hinausschiessenden Missverständnis. Der Gedanke von Himmel, Erde und Hölle als drei übereinanderliegenden Sphären, hat, soweit er in ein räumliches Bild gekleidet ist, mit der herrschenden Naturanschauung etwas zu tun. Die Bibel hat sich begründeterweise wenig für das astronomische Weltbild interessiert. Weil jene Vorstellungsweise im modernen Weltbild nicht mehr möglich ist, wird sie mit Recht abgewiesen. In solchen Fällen ist immer wieder zwischen Aussageform und Aussageinhalt zu unterscheiden. Die Aussagen behalten ihren Sinn, auch wenn das dazu gebrauchte Weltbild wegfällt. Dass nun aber unter der gleichen Begründung die Faktoren der Inkarnation, der Erlösung, der Auferstehung und der Wiederkunft Christi sowie das Reich Gottes in seiner Herrlichkeit abzuweisen seien, ist nicht einzusehen. (11) Man kann die Resultate der Naturwissenschaft ernstnehmen und trotzdem an all das glauben, aus dem einfachen Grund, weil es jenseits des naturwissenschaftlichen Raumes geschieht. Was die Wandlung des Weltbildes von einem orientalisch-chaldäischen über das ptolemäische zur Einsteinschen Theorie mit dem Glauben oder Nichtglauben zu tun haben soll, bleibt unverständlich.

Im Gegenteil: die Ueberwindung des ausschliesslich deterministischen Weltbildes erleichtert den Glauben, wie dies von M. Planck, A. Einstein und andern ausdrücklich bestätigt wird. Im Grunde ist es die existentialistisch gedeutete, neukantianische Erkenntnistheorie, die Bultmann erklären lässt, dass jede Rede von heilsgeschichtlichen Tatsachen, ausgenommen die Begegnung des Kerygmas mit dem Einzelnen, in der je existentiellen Situation, Mythologie sei. Ob eine "Entmythologisierung" der christlichen Botschaft am Platze ist, entscheidet sich also nicht vom Umstand her, ob ein mehr wissenschaftliches Weltbild ein mehr naives abgelöst hat. Relevant bleibt jedoch die Frage, ob bestimmte Elemente der neutestamentlichen Verkündigung durch heidnische, im üblichen Sinne des Wortes mythologische Vorstellungen der damaligen Zeit geprägt wurden. Dass die Verfasser des Neuen Testamentes sich synkretistisch religiöser Ausdrücke und gnostisch klingender Wendungen bedienten, ist noch kein Beweis für eine sachliche Abhängigkeit von diesen damals vorhandenen Kreisen. Gottes Wort musste sich unvermeidlich in ein von "Menschenhänden gewebtes" Kleid hüllen. H. Vogel macht darauf aufmerksam, dass die biblischen Verfasser das von ihnen verwendete Material bereits entmythologisiert haben.(12)

Selbst in der Voraussetzung, dass die iranische Religion auf die spätjüdische und damit auch auf die neutestamentliche Auffassung des Eschatologischen einwirkte, bleibt die Wahrheit der christlichen Verkündigung ungeschwächt bestehen. Sollte Gott nicht die richtige Verkündigung und höchste Aktualisierung der Wahrheit aus potentiellen altiranischen Vorbeständen oder aus der Religion Zarathustras wachsend, evolutiv sich formend hindurchbrechen lassen können? Die Kritik sagt: Hier zeigt das Christliche deutlich mythologische Züge, also ist es heidnisch. Wir antworten: Hier weist das heidnisch Mythologische christliche Züge auf, also ist es als Vorverständnis der Offenbarung potentiell christlich. Dieses Vorverständnis hat sich wie jede Potentialität der höheren Aktualität oder der endgültigen Offenbarung zu stellen, um sich von ihr definitiv bestimmen zu lassen. Deshalb sind die Mythen nicht Irrtum, Götzendienst und Finsternis, sondern Licht, wenn auch vielfach gebrochenes Licht, immerhin von jenem Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt (Joh.1,9). In ihrem Charakter als Vorverständnis haben sie eine vorbereitende Bedeutung und erfüllen die kühne Auffassung des Klemens von Alexandrien: Alle Lampen Griechenlands brennen für die Sonne Christus.(13) Dabei bleibt das Verhältnis zwischen iranischem Heidentum und biblischer Offenbarungsreligion ein potentielles, das heisst, dass trotz aller historisch-genetischer Verbindung und Hinordnung das Christliche als höhere Aktualisierung das Heidnische transzendiert. Jenes ist nicht ausschliesslich immanent kausalistisch, sondern letztlich nur von der transzendent göttlichen Ursache her zu erklären. Weil jede Begrifflichkeit von Bildern ausgeht und der Mensch als erkennender an die Sinne verwiesen ist, hat die Offenbarungswahrheit einen Bezug zum mythologischen Bild. Indem die mythologische Redeweise nicht zur primitiven Frühstufe, sondern zum Urvermögen menschlicher Aussage gehört, kann sie durch kein modernes Weltbild überholt werden. Jesus-Christus ist sowohl der Logos als auch das Abbild Gottes (2 Kor.4, 4. Kol.1,.(15) In Christus ist die mythische Gestalt mit der historischen Person eins geworden.

Bultmann braucht nun aber religionsgeschichtliche Parallelen als Vorwand, um die Historizität der Inkarnation, der Erlösung, der Auferstehung und Wiederkunft über Bord zu werfen. Damit sind aber Wahrheit und Wesen des Christentums angegriffen. Und zwar nicht aus wissenschaftlicher Notwendigkeit des heutigen Menschen, der begreiflicherweise nicht einer doppelten Wahrheit das Wort reden will. Nicht um bisheriges Unwissen und heute notwendig gewordene, wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um Glaube und Unglaube geht es. Dass Christi Kreuz und Auferstehung den Griechen damals lächerlich vorkam (Verhöhnungskruzifix), zeigt nur, dass das Christliche den Zeitgenossen nicht restlos als ihrer Religion immanent, sondern als ungewöhnlich und transzendent erschien. Insofern überwindet die Offenbarung das Unvollkommene, die Nivellierungen und Vermischungen des Mythos, sie ist der Uebergang von den Götterbildern zum lebendigen und wahren Gott (1 Thesl.,9). Sie bekennt die Verbindlichkeit und Exklusivität der in Jesus Christus geschehenen Selbstmitteilung Gottes, in dem allein das Heil ist (Apg., 4, 12), und der unsere existentielle Entscheidung anfordert. In ihm hat der Mythos sein Ende aber auch seine Erfüllung gefunden. Bultmanns Entmythologisierung erinnert an eine Aufgabe, um die lebendige Theologie sich stets bemühen muss. Sie ist zugleich aber auch eine ernste Mahnung, wie leicht man sich über den Umfang der Aufgabe täuschen kann. Bultmann vermischt gesicherte wissenschaftliche Resultate mit einer leider nicht allgemein gültigen Philosophie und mit ähnlich eigenwilligen historisch-kritischen Anschauungen. Dabei gibt er sich kaum Rechenschaft von seinen fragwürdigen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Er kennt nur die gesetzmässige Ordnung des Weltgeschehens. Indem die Einkalkulierung des von der modernen Atomforschung entdeckten, indeterministischen Moments fehlt, wird ironischerweise gerade Bultmann das Opfer eines veralteten Weltbildes.

Durch die Menschwerdung noch mehr als durch die Schöpfung hat Gottes Wirksamkeit, in Raum und Zeit eingehend und kausale und kategoriale Ordnung sprengend, sich in das gewöhnliche Weltgeschehen integriert. Was vermag da Bultmanns kantische, dualistische Auftrennung dagegen? Bultmann definiert das "mythische Denken" als die Vorstellungsform, "in der das Unweltliche als Weltliches und Menschliches, Jenseitiges als Diesseitiges erscheint". Das widerspricht Bultmanns rationalistisch geometrischem Ordnungssinn, der nach Kant Diesseits und Jenseits und die entsprechenden Wirkungsweisen nicht nur unterscheidet, sondern säuberlich von einander trennt. Gott, besonders indem er Mensch wurde, anerkennt jedoch diesen "eisernen Vorhang" nicht. Deshalb vollzieht sich das Verhältnis: unwelthaft-welthaft, göttlich-menschlich, jenseitig-diesseitig nicht in dialektisch verabsolutierter Aufspaltung und Vermischung, sondern in potentiell immanenter Symbiose. Ohne Gottes Transzendenz und prinzipielle Unweltlichkeit aufzuheben, bringen Schöpfung und Erlösung eine gewisse Weltlichkeit, Diesseitigkeit und Menschlichkeit Gottes zum Ausdruck.(14)

Im Hinblick auf diese Heilsordnung führt gerade das von Bultmann verpönte wunderbare Geschehen die in sich nicht geschlossene und abgeschlossene Welt zu ihrer Vollendung. So ist der absolut transzendente und unwelthafte Gott zugleich der weltimmanente Gott. Wenn eine dieser beiden Eigenschaften fehlt, ist Gott wie der Welt Wesentliches entzogen. Bultmann weitet eine deterministische Forschungsmethode zu einer Metaphysik, zu einem gegenüber aller Transzendenz geschlossenen Weltbild aus. Wie in einem solch geschlossenen Dasein sich ein Kerygma von einem persönlichen Gott ereignen soll, unterlässt er zu sagen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis konsequent Denkende seine Unmöglichkeit feststellen.(15)

11.5. Karl Barth oder die durch die Theologie entrechtete Philosophie

Von Bultmann her kann der Eindruck entstehen, als sei der christliche Glaube das Problematische und die Wissenschaft das Sichere, somit berechtigt über den christlichen Glauben zu richten. Hat man jedoch in Christus die Wahrheit gefunden, so ist es klar, dass Glaube und Theologie nicht vor den Richterstuhl der Philosophie oder Wissenschaft gestellt werden dürfen.

Es erhebt sich darum die grundsätzliche Frage, ob ein gewisses Luthertum mit seinem absoluten Nein zu jeglicher natürlicher Philosophie, wie sie in die katholische Theologie verwoben ist, recht habe, und ob die Bibel ohne Philosophie die einzige Quelle der Theologie sei.

Tatsache ist, dass jeder denkende Mensch eine mehr oder weniger entfaltete Philosophie hat, eine Art Ordnung und Deutung seines Erfahrungsmaterials. Ein Theologe, der sich prinzipiell der Philosophie entzieht, ist einem Menschen ähnlich, der aus religiösen Gründen nichts mit der Schulmedizin zu tun haben will. Wie dieser aber seiner Laienmedizin huldigt, so jener seiner ungeschulten Philosophie. Dem Theologen sollte es deshalb eine Selbstverständlichkeit sein, die Auseinandersetzung zwischen Christentum und natürlichem Erfahrungsmaterial bewusst aufzunehmen. "Reine Theologie", unbefleckt von Philosophie im weitestens Sinne des Wortes, kann es nicht geben. Es leuchtet ein, dass ein radikales theologisches Nein zur Philosophie sich als theoretische Einstellung behaupten, nicht aber als praktische Haltung durchführen lässt.

Hätten die Menschen nicht im voraus gewisse Vorstellungen von etwas Göttlichem, von Recht, Unrecht und Schuld, so liesse sich ihnen das Evangelium nicht verständlich darstellen. Wenn die griechische Umgangssprache nicht dem Hebräischen entsprechende Wörter enthalten hätte, wären die Griechen nicht für die Botschaft Christi zu haben gewesen. Man darf deshalb von einer Potentialität der heidnischen Religion und Philosophie zum Christentum sprechen.

Deshalb erklärte Paulus von den "verhärteten" Heiden, dass sie in ihrer Unwissenheit unentschuldbar sind (Röm.1, 19-25). Gottes "unsichtbares Wesen wird... an den geschaffenen Dingen denkend wahrgenommen". Gott wird also in dem ontisch erfahrenen Seienden als Hintergrund ontologisch miterfahren. Gotteserkenntnis, nach Paulus, meint das Sich-Einlassen des geistigen Geschöpfes auf den mit dem Geschaffenen erhobenen Ruf des sich zu erkennen gebenden Gottes. Sie ist Ana-logie oder Ant-wort auf das im Geschaffenen enthaltene Wort der göttlichen Weisheit. Sie ist Wesensvollzug des geistigen Geschöpfes, durch den für den Menschen grundsätzlich von Gott her die Seinsproblematik zu Ende geführt wird.

Während die Entmythologisierung in Einklang steht mit einer kantischen Auftrennung von Erscheinungswelt und Noumenwelt, widerspricht diese Gespaltenheit der Analogielehre. Die kantische Erkenntnistheorie verbietet es, die "Phänomene" als Analogie zur übersinnlichen Welt zu sehen. Gerade das, was für Kant nur der "Erscheinungswelt" angehört, ist aber Gottes Schöpferwerk. Wenn auch Barth sich nicht von dieser erkenntnistheoretischen Skepsis herleitet, spricht er einer ähnlichen Seinsstruktur das Wort. Ihm gilt die Analogielehre als eine Erfindung des Antichrist.(16)

Wer die konkret historische Existenz, die nie gnadenlos war und ist (Joh. 1, 2), als "reine" Natur wertet, dessen Beurteilung unterliegt einer theoretischen Abstraktion. Eine dialektisch abgespaltene und verabsolutierte "Natur" wäre allerdings in ihrer eigenen Endlichkeit eingeschlossen, ohne Potentialität zum Göttlichen. Nun hat aber Gott den Menschen zuerst geliebt (Joh. 4, 10), so dass er als geistiger, wenn auch endlicher, dem unbegrenzten Horizont des Seins geöffnet - in seiner je schon von Gott getragenen Freiheit fähig ist, der göttlichen Gnade Frage und Antwort zu stehen.

Von dieser irgendwie apriorisch übernatürlichen Entelechie oder Intentionalität des Menschen her lässt sich von der durch Barth zwar verpönten Eignung des Menschen für Gottes Offenbarung sprechen.(17) Denn wie die Aktualität der Gnade liegt auch schon die ihr entsprechende Potentialität nach metaphysischer Kausalnotwendigkeit bei der Erstursache des Seins, so dass der Mensch gleichsam nur suboperativ als Unterhändler Gottes zu erkennen und zu wirken vermag. Nicht wir also "verfügen messend" über Gottes Tat in der Offenbarung, sondern diese verfügt über uns.

Selbst der durch die Sünde in seiner Selbstliebe total auf sich selbst zurückbezogene Mensch wird von der Gnade umfangen. Darum ist Kierkegaards Weisung, über den Zusammenbruch im Schuldgefühl aufgrund einer gewissen Religiosität zum Christentum zu gelangen, gültig. Noch leichter lässt sich Luthers Aeusserung verstehen, dass das Leben im Beruf als Dienst am Nächsten den Menschen zum Glauben erhebe.(18) Auch die philosophische Existenzanalyse oder Existenzerhellung kann den Menschen dazu bringen, immer unter dem Einfluss der Gnade, sich nach der richtigen Antwort des Christentums zu sehnen. Wenn auch Grundtvigs Satz: "Mensch zuerst und Christ hernach" irreführend ist und die Anthropologie erst im Lichte der Soteriologie richtig verstanden werden kann, ist ein Vorverständnis zum christlichen Glauben aus menschlicher Erkenntnis und Existenz möglich.

Demgegenüber kennt auch Barth eine Analogie, zum Beispiel zwischen dem intertrinitarischen Verhältnis und Gottes Verhältnis zum Menschen, indem Gottes Liebe sich einmal innergöttlich und dann schöpferisch nach aussen hingibt. Aber, betont Barth, es ist eine "analogia fidei", eine Analogie von oben nach unten, und nicht eine "analogia entis", eine Analogie von unten nach oben. (19) Die Schöpfung enthalte keinen Anknüpfungspunkt, sie tauge nichts, es sei denn, Gott entscheide in seiner Gnade, dass sie taugen darf. So gibt es eine göttliche Offenbarung in Menschenworten, weil unsere Worte eigentlich Eigentum Gottes seien. Wir könnten jedoch den Worten diese ihre eigentliche Bedeutung nicht zurückgeben, es liege dasjenige, was das Geschöpf zu einem Analogon Gottes mache, nicht in ihm, sondern allein in Gott.(20)

Nun ist aber Gottes Aktualität dem Geschöpf als Potentiellem immanent, infolgedessen also, wenigstens potentiell, auch das, was es zu einem Analogon Gottes macht. Emil Brunner wendet mit Recht gegen Barth ein, seine eigene Auffassung bedeute, dass in der erschaffenen Welt eine Analogie zu Gottes Wesen bestehe, ganz unabhängig vom Hören auf das Wort Gottes, in dem Gott diese Analogien verwendet.(21) Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass unter der grösseren Hilfe des Heiligen Geistes im geoffenbarten Worte Gottes diese Analogie sich noch verdeutlicht und entfaltet.

Damit sei auch nicht behauptet, dass das Verhältnis zwischen Gott und uns "teilweise gleich und teilweise ungleich sei". Unsere Begriffe sind, wie Barth schreibt, völlig inadäquat und ungeeignet, Gott zu beschreiben. Unser Sein und Denken verhält sich zu Gott wie das Nicht-Sein des Potentiellen zum Sein. Jenes ist aber bei aller seinsmässigen Differenz kein absolutes, sondern ein relatives Nicht-Sein oder potentielles Sein. Deshalb streben Verstand und Wille des Menschen nach einer unbegrenzten Erkenntnis des Seins und nach einem unbegrenzten Besitz des Guten. Diese höchste Fülle kann aber schon wegen der ontologischen Differenz des Nicht zum Sein keine Exigenz oder Forderung darstellen. Auch ohne sie bliebe der Mensch sinnvoll. Als Geist vom Geiste Gottes wird er aber stets des Unendlichen fähig bleiben, wenn dieses ihm auch als Endlichem ungeschuldet bleibt und durch ihn selbst nicht erreichbar ist.

Gott selber lässt den geschichtlichen Menschen als relatives Nicht-Sein oder potentielles Sein nicht in dialektischer Koexistenz oder äusserlicher Iuxtaposition und Aufstockung, sondern in gegenseitiger Durchdringung und untergeordneter Mitwirkung zu sich und zu seiner Gnade kommen. Wie gross auch der Unterschied zwischen Gott und Mensch und der ihrer respektiven "Wirkungsebenen" ist, anstatt sie zu zerstören oder zu absorbieren, bringt die Gnade die Mitwirkung des Menschen hervor, dessen Freiheit in absoluter Abhängigkeit von der Freiheit Gottes steht. Und indem die Freiheit des Menschen aus reiner Gnade ermöglicht wird, hebt sie die Allwirksamkeit Gottes nicht auf. Die von Gott den Menschen angebotene Erlösung vollzieht sich gleichsam im Dialog gegenseitiger, freier Selbstübergabe. Dabei liegt die Initiative zum Heilsgeschehen ausschliesslich bei Gott, während die Gnade dem Menschen das freie Antworten und potentielle Annehmen erlaubt.

11.6. Christliche Wahrheit als Integration von persönlich aktuierendem Anruf und potentiellem Lehrgehalt

Die moderne Theologie erinnert sich wieder des altchristlichen Lebens, nach dem das "Dogma" nicht nur als für sich bestehende Wahrheit betrachtet, sondern als existentieller Anruf empfunden und als Gebet vollzogen wurde. Jede Wahrheit oder das Dogma ist erst potentielles und noch kein aktuelles oder existentielles Christentum. Mit Recht sagt E. Brunner, dass Wahrheit als existentielle Begegnung eigentlich mit Jesu Wort: "Ich bin die Wahrheit" gegeben ist, was von einer gewissen griechischen Auffassung her gesehen unbegreiflich ist. Christliche Wahrheit ist eine Person. Calvin konnte deshalb sagen, dass die richtige Gotteserkenntnis aus dem Gehorsam entsteht.(22) Gegen eine objektivistische "Zuschauertheologie" erklärt man heute, dass nur der Gottes Wort recht versteht, der unter der Autorität des Heiligen Geistes steht. So spricht K. Heim von Gott als dem Nichtgegengeständlichen, der nicht als eine "dritte Person" aufgefasst werden kann und vom Gottesverhältnis als einem vom "Ich-Es"- und "Ich-Du"-Verhältnis verschiedenem. Offenbarung, betont Barth, bedeutet nicht, dass wir sachlich über Gott und sein Wirken diskutieren könnten, sondern dass wir Gott ausgeliefert sind. Reine Lehre ist nicht identisch mit irgendeinem Text, auch nicht mit dem der Bibel. Reine Lehre ist ein Tun, ein Ereignis, eine Handlung des Glaubensgehorsames, indem sie als von Gott geschenkte von der Kirche auch empfangen wird.(23)

Diese so weit notwendige existentielle Betrachtungsweise erfährt ihre subjektivistische Verzerrung dort, wo man menschliche Existenz nur mehr im gegenwärtigen Augenblick und seiner stets neuen, aktuellen Entscheidung sieht, wo man im Glauben keine Inhaltsbestimmung, sondern nur eine aktuelle Gemeinschaft mit dem erhöhten Christus wahrnimmt. P. Tillich ist der Ansicht, dass historische Untersuchungen Theologen weder trösten noch beunruhigen sollten, weil Offenbarungserkenntnis keine faktischen Aussagen enthalte.(24) Für Bultmann, schreibt H. Ott, steht theologisches Denken ausserhalb der Begegnung des Glaubens. Im Horizont der Subjekt-Objekt-Spaltung kann nicht von Gott gesprochen werden. Die existentielle Begegnung ist ein sprachloser Vollzug. Theologisch von Gott reden hiesse nach Bultmann, objektivierend und also nicht glaubensgemäss reden.(24) Weil die augenblicksbestimmte Begegnung mit dem gegenwärtigen Gott stets neu ist, wird von den konsequentesten Vertretern existentialistischer Theologie jede Ethik, jede Möglichkeit im voraus das Rechte zu wissen, als unmöglich betrachtet.

All dem gegenüber steht jedoch die Tatsache, dass die älteste apostolische Verkündigung in eine bestimmte Botschaft, die weiter gegeben wurde, gefasst war. Es bildete sich eine "Ueberlieferung", über die sich Paulus und die andern Apostel einig waren, eine "Lehrform", der man entsprechen sollte (Röm 6, 17; 1 Kor 11, 2; 15, 1-11), so dass die Auffassung von der "gesunden Lehre" allgemein war (1 Tim 1, 10). Dazu kommt, dass nach der Synopse Jesu Werke nicht nur dem "Augenblick" angehörten. Er schuf sich eine Gemeinde von Jüngern, die er auf "Kefas" gründete. Er wusste sich als des "Menschen Sohn", der, wie es "geschrieben steht", viel leiden sollte (Mk 2, 12). Das von ihm verkündete "Reich Gottes" sollte sich über die ganze Welt ausbreiten. Er behandelte Tagesfragen, zum Beispiel über Ehescheidung, und liess erkennen, dass ihre Beantwortung über die augenblickliche Situation hinausreiche. Und schliesslich war in seiner Verkündigung Gott nicht nur der "Unbekannte".(25)

Das bedeutet, dass Christentum, wenigstens potentiell, auch eine Lehre darstellt, die in einem dogmatischen "Fürwahrhalten" weitergegeben werden kann. In diesem Sinn ist auch das Suchen nach Zusammenhang, nach Systematisierung vollziehbar, um die Botschaft vor dem Zerfall in zusammenhangslose Einzeleindrücke zu bewahren. Weiter geht daraus hervor, dass wirkliche Existenz des Menschen nicht nur im gegenwärtigen Augenblick mit seiner stets neuen Entscheidung liegt. Mit dem Hinweis, dass das Vergangene als Freiheitshandlung entstand, spricht Kierkegaard auch vom Historischen als dem "Gegenstand des Glaubens". Das stellt allerdings nicht in Abrede, dass christliche Offenbarung und Existenz ihre Aktualisierung erst in der stets neuen Entscheidung des persönlichen Glaubens erfahren. Weil Glaube sowohl die Freiheit als auch die Kategorie des dynamischen Werdens zur Voraussetzung hat, darf kein historisch begrenzter Begriff oder eine darauf aufbauende Dogmatik sich der unerwarteten "Anrede" Gottes durch das je neue, weil lebendige Wort Gottes in den Weg stellen. Wie das katholische Dogma der Tendenz zum reinen Objektivismus widerstehen muss, ist Barths "reine Lehre: ein Ereignis" und Brunners "Wahrheit als Begegnung" vor einem subjektivistischen Existentialismus zu schützen.(26) Die Wahrheit liegt nicht im dialektischen Widerspruch sich ausschliessender Einseitigkeiten, sondern in der Integration der potentiell einander zugeordneten Aspekte. Konkret für das zuletzt erörterte Problem heisst das: die Wahrheit liegt in der dynamischen Spannung zwischen dem Faktum, dass es wirklich etwas gibt, was "die gesunde Lehre" genannt werden kann, und dem anderen Faktum, dass die Wahrheit eine Person ist und deshalb nur in der persönlichen Begegnung mit dem Auferstandenen mitgeteilt und aktualisiert werden kann.

Anmerkungen:

12. SUBJEKTIVITÄT UND OBJEKTIVITÄT DES GLAUBENS

Es zeugt für die Einheit zwischen Himmel und Erde und für die Analogie des Seins, dass die Maxime "Ne quid nimis" (Nur keine einseitige Uebertreibung) sich auch in der Welt des Glaubens und der Theologie bestätigt. Im Zug der Erneuerung werden wir vom Uebermass religiöser und kirchlicher Veräusserlichung (Objektivierung) ins andere Extrem des kantischen Subjektivismus geführt. Dies bezeugt die Theologie Friedrich Gogartens aus dem Kreise Bultmanns.

12.1. Die einseitige Reduktion

An Stelle der Einheit in der Unterscheidung setzt Gogarten in der Gefolgschaft von Luther (zwei Reiche) und Kant die antithetische Trennung von Gott und Welt, Welt und Heil, Werken und Glauben, Heilstatsachen und geschichtlichem Selbstverständnis des Menschen. Während Teilhard de Chardin durch seinen reaktionär naturhaft-gegenständlichen Heilsvollzug im Kosmos einseitig den christifizierten, sakralen, göttlich durchmächtigen Heilsraum sehen mag, wird dieser bei Gogarten im Gegenteil zur weltlichen, heilsunbedeutsamen Welt, die restlos der herrscherlichen Einsicht und Verwaltung des Menschen anvertraut ist, der sein Heil ausschliesslich vom unmittelbaren Bezug von Gott empfängt. Nach Gogarten überwand schon Luther das metaphysisch-ontologische Denken zugunsten eines personal-geschichtlichen und darum unsakramentalen. Obwohl Luther die historischen Fakten nicht leugnet, sind sie nur mehr als geschichtliche, d.h. mich betreffend Ereignisse Gegenstand des Glaubens. Liegt der Ansatz zum Glauben weder bei Heilstatsachen noch bei metaphysischen Wahrheiten, sondern nur in meiner betroffenen Subjektivität, so ist der Glaube von allen welthaften Bedingungen befreit. Das ist die radikale Entsakralisierung und Verinnerlichung der Religion. Der Mensch braucht, um Gott zu finden, nicht bestimmte fromme Werke in der Welt zu tun, sondern Gott kommt als Heil im Glauben zu ihm. Die Welt und unser Tun haben nach Gogarten keinen Heilsbezug. Sie sind nur weltliche Welt, in der der Mensch durch einen nur weltlichen Dienst nach Massgaber der Vernunft Gott dient. Der Glaube verweltlicht die Welt und führt den Menschen vom kosmozentrischen zum geschichtlichen Verständnis der Subjektivität. Auch Bibel, Bekenntnisse und alles, was im Christentum als objektiv und gegenständlich für wahr gehalten wurde, ist dem Verweltlichungsprozess zu überlassen. Dort aber, wo der Mensch sein Heil als sein Werk betrachtet, verfällt er nach Gogarten dem Säkularismus. Gogarten sieht also im Glauben an Heilstatsachen, in objektiv metaphysischen Wahrheiten, in einer christlichen Ethik die eigentliche Verfälschung des Glaubens. Christentum und christlicher Glaube sind sich ausschliessende Grössen, weil der personale Anspruch Gottes nicht objektivierbar oder beweisbar ist.

12.2. Der gültige Ansatz

Gogartens Denken ermangelt nicht gültiger Ansätze, die eine neuere katholische Theologie, wie sie A.V.Bauer vertritt, zu würdigen weiss. Die Anerkennung weltlicher Eigenständigkeit und ihrer Ordnungen ist heute notwendiger denn je. Praktisch sucht der Katholik entweder alle Bereiche der Welt ganz (integralistisch) zu verchristlichen, oder er sondert den Glauben als einen besonderen Bezirk aus seinem Alltagsleben aus. Im ersten Fall stehen Kirchengesetz und Gehorsam im Vordergrund. Das Gewissen ist vor allem dazu da, bis ins Einzelne Weisungen kirchlicher Obrigkeit entgegenzunehmen. Diese (ideologische) Last kann zur Erblindung für die Wirklichkeit und die ihr geschuldete Verantwortung führen. Das weltliche Leben läuft Gefahr, von einer unsachlichen, religiösen Ueberformung vergewaltigt zu werden. Solcher Frömmigkeit fehlt das Bewusstsein, dass auch der Dienst in der Welt Gottesdienst sein kann, auch wenn nicht gebetet noch irgend ein Lebensbereich verchristlicht oder verkirchlicht wird.

Wir sind weitgehend durch einen Glaubensbegriff geprägt, der in erster Linie Fürwahrhalten von Heilstatsachen und - wahrheiten anstatt das persönliche Gottesverhältnis in den Vordergrund stellt. Der Glaube ist aber vor allem ein neues Verhältnis zu Gott und Menschen, das alle vorgegebenen Kategorien menschlichen Verhaltens wesentlich übersteigt. Aus der Vorherrschaft des Gesetzesdenkens erfolgt die dem Katholiken oft eigene unbeholfene Starre des Weltverhaltens. Gogarten betont mit Recht die untrennbare Verbindung von Glauben und Liebe.

Nach ihm muss jeder biblische Zeuge aus seiner durch den historischen Raumzeitpunkt bestimmten Subjektivität verstanden werden. So stehen Reformation, Aufklärung und Französische Revolution auch als von der Kirche noch unbeantwortete Anrufe Gottes vor uns.

Im Heiligenbild, in der Heiligsprechungspraxis, in Brevier und Missale kommt eine zu einseitige Ablehnung der Welt zum Ausdruck, während man über die eigene Kirchenspaltung zwischen Glauben und ungläubigen, getauften, kirchensteuerzahlenden Mitgliedern gerne schweigt. Auch ist nicht zu übersehen, dass der Versuch der Kirche, die Welt in sich aufzufangen, faktisch doch weithin zur Verweltlichen der Kirche und zur Profanierung der Welt geführt hat. Durch die Menschwerdung ist auch die Welt in ihrer Sachgesetzlichkeit angenommen und zu einer relativen Eigenständigkeit berufen. Während den Gläubigen und Fragenden das Mysterium anvertraut wird, ist es der ungläubigen "Welt" zu verbergen. Dieser ist mit Sachlichkeit und Brüderlichkeit zu begegnen, aus denen dann die Frage nach der Wurzel dieser Haltung entstehen kann. Wenn Andachtsformen und kirchliche Ordnungen Glaube und Liebe nicht ausdrücken, sind auch sie "Welt" und unterstehen dem Gericht, das über die Scheinheiligkeit am Kreuz ergangen ist.

12.3. Heideggersche Aufspaltung und leibliche Ganzheit

Nach Gogarten und zuvor nach Heidegger ereignet sich Offenbarung immer und je neu; dafür ist diese jedoch nicht objektivierbar und als göttliche Tat beweisbar. Obwohl das Heil des Menschen sich in seinem Innern ereignet, ist es falsch, diese Innerlichkeit in ihrer Angesprochenheit als weltlos zu bezeichnen. Weil der Mensch nicht nur einen Leib hat, sondern Leib ist, sind im Gegensatz zu Gogarten und Heidegger personal Geschichtliches und dinghaft Sachliches nicht einander ausschliessende Gegensätze, sondern in ihrer Einheit und Unterschiedenheit im Grundbefinden der menschlichen Subjektivität begründet. Indem der Mensch Leib ist, ist er auch Welt. Deshalb kennt das Neue Testament keinen Glauben ohne Gegenstand, kein Heil ohne Welt, noch Tat ohne Werk oder Geschichte ohne Historie.

Eine Theologie, die der historischen Gegenständlichkeit des fleischgewordenen Wortes zu entgehen sucht, weicht jenem Aergernis und somit dem christlichen Glauben aus, den Paulus zu verkünden hatte. Weil der Mensch als Leib Welt ist, kann seine Innerlichkeit nur welthaft gegenständlich angesprochen werden. Eine Entleiblichung oder Entmythologisierung dieses Glaubens lässt auch den personal-geschichtlichen Anspruch Gottes als Einbildung erscheinen. Es gibt keinen Menschen ohne Leib, keine Ontologie ohne Ontik, keine Verkündung ohne Geschichte.

Es war eine Willkürlichkeit des kantischen Subjektivismus, das Das vom Was der Erkenntnis zu trennen. Ebenso wenig kann man von weltlosem und werklosem Glauben sprechen. Der Glaube ist im Werden begriffenes Werk, er kommt erst ganz zu sich selbst im Werk, wie die Person im Leib. Aufgrund der unnatürlichen Aufspaltungen weist das Christentum nach Gogarten keinen sich nach aussen unterscheidenden Lebensstil auf. Die Apostelgeschichte bezeugt aber gerade das Gegenteil. Gogarten's Auffassung verkennt den wirklichen Menschen und dreht von der Innerlichkeit in den absoluten Subjektivismus ab: "Das ist keine Unmittelbarkeit ... wo sich noch zwei gegenüber stehen. Erst da ist Unmittelbarkeit, wo nur noch einer ist, der sich selbst erkennt".

Dem Neue Testament ist die absolute Trennung Welt - Heil unbekannt; das Heil ereignet sich mitten in der Welt. Dadurch wird an sich eine neutral-sachliche Welt unmöglich, sie ist immer Welt des gläubigen oder ungläubigen Menschen mit gutem oder bösem Tun. Weil der Glaube ein gewisses Tun als "weltlich" lasterhaft ablehnen muss, gibt es auch keine totale Freigabe der Welt. Praktisch spezifiziert auch Paulus die Welt als gläubige und ungläubige. 1 Dieses Kapitel stützt sich stofflich und in seiner kritischen Haltung auf das gründliche Buch von A. V. Bauer, Freiheit zur Welt, Paderborn, Bonifacius_Verlag, 1967.

12.4. Die christologische Wegweisung

Weil der personal-geschichtliche Glaube kein gegenständliches Dogma zulässt, wird die Christologie bei Bauer fast ganz vermisst. Die Frage nach der Inkarnation ist für das Weltverhalten des Christen jedoch von entscheidender Bedeutung. Eine vollständige Entfaltung der Menschheit Jesu gegen den populär praktisch nur göttlichen Christus hat nichts zu tun mit unfrommer Ehrfurchtslosigkeit der Gottheit gegenüber. Denn Christi Menschheit ist nicht nur als Natur zu lehren, sondern als Ich- und Existenzvollzug zu begreifen. Gerade durch diesen wird eine weltlose Verehrung eines weltlosen Gottes hinfällig. Das Unvermischt und Ungetrennt der Christologie warnt uns zugleich vor übertriebener Freigabe und voreiliger Verchristlichung der Welt. Kennt das Neue Testament jene, wie B. Metz meint, durch den Glauben säkularisierte und aufgenommene "weltliche Welt"? Ist die konkrete Welt wirklich von Gott ebenso angenommen wie die Menschheit Jesu? Wenn das zuträfe, könnten Weltdistanz und Entweltlichung im NT nicht so vordringlich sein. In der Inkarnation ist erst etwas grundgelegt oder begonnen, was am Kreuze gerichtet und erst in der Auferstehung verklärt und endgültig angenommen wird. Mehr als durch die Inkarnation, auf die sich Teilhard de Chardin und Metz berufen, wird das Weltverhältnis des Christen durch Kreuz und Auferstehung bestimmt. Einer mehr punktförmigen Betrachtungsweise von Innerlichkeit und Glaube, Menschwerdung und Welt ist das dynamische, entwicklungsreiche Geschehen im Leben des Herrn und in der Welt- und Heilsgeschichte entgegenzustellen.

Sowohl die restlose Weltlichkeit (Gogarten, Metz) als auch die restlose Heiligkeit (Teilhard de Chardin) der Welt trägt den potentiellen Charakter der Welt, ihrem dynamischen Werdeprozess zum Guten und zum Bösen zu wenig Rechnung. Dieser bedeutet eine Absage an jede einseitige Verabsolutierung und Reduktion des Heilsgeschehens auf die Innerlichkeit des Menschen oder auf den Kosmos. Der je sich vollziehende Uebergang im Heilsereignis vom Potentiellen oder vom relativen Nichtsein zum Sein zeugt zugleich für die Einwohnung und Ueberweltlichkeit des heilsbringenden Gottes und für die Analogie zwischen Gott und Welt und für deren Ansprechbarkeit durch Gott. Einseitige Verabsolutierung und Antithetik schliessen immer schon den Widerspruch und den dialektischen Umschlag einer absolut entgöttlichten Welt in eine sakralisierte göttliche Weltlichkeit ein, so dass die Positionen von Metz und Teilhard sich im Handumdrehen vermischen und in eins fallen.

12.5. Potentialität und Analogie als Einheit in der Unterscheidung

Weil die Aufspaltung in personal heilsbedeutsam und dinghaft-weltlich heilsunbedeutsam künstlich ist, kann es auch keine absolute Freigabe der Welt oder des Menschen an die Vernunft geben. Bei aller Selbständigkeit sachgerechten weltlichen Handelns untersteht dieses der Liebe und muss als brüderlicher Dienst unter dem Gerichte Gottes auf endzeitliche Vollendung hin offen bleiben. Die Welt ist nach dem Neue Testament als vom Unglauben durchmächtigte, geschöpflich gute Welt auch gefährlich. "Weltliche Werke" einer in sich gegen Gott verschlossenen Welt sind abzulegen.

Das christliche Weltverhältnis ist nicht so einfach, dass es säuberlich nach Kategorien (Kant) in Gott, Personen, Sachen und Welt eingeteilt werden könnte. Alle diese Instanzen sind potentiell aufeinander angelegt und stehen in einem dynamischen Austausch_ und Anlehnungsprozess, was die Wirklichkeit so komplex macht. Die Dinge der Welt schliessen beispielsweise den sakralen Dienst weder absolut ein noch absolut aus, sie stehen in einem potentiellen je andern und deshalb spannungsvollen Verhältnis dazu und auch untereinander. Gerade sachlich betrachtet, sind die verschiedenen Wesenheiten in der Welt Gaben Gottes, die analog unterschiedlich durch Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung gezeichnet sind, und dementsprechend einzuschätzen und einzusetzen sind. Welt, obwohl immer unter Verheissung, kann schliesslich gegen Gott stehen und ist deshalb nun unterschiedlich heimzuholen oder zu beurteilen.

Manche trösten sich über das Schwinden des Christlichen mit dem dafür überall vorhandenen "anonymen Christentum". Allerdings kann nicht übersehen werden, dass zwischen beiden ein wesentlicher Unterschied besteht, wie zwischen Sein und relativem Nicht-Sein, weil sonst die Offenbarung und der Glaube an Christus zu einer entbehrlichen Zutat würden samt dem damit verbundenen Missionsauftrag. Dieser könnte sonst nur dazu dienen, dem Heilsempfänger die Erkenntnis von dem zu bringen, was er längst schon ist, was Gottes Offenbarung überflüssig machen würde. Deshalb wird man anstatt von "anonymen", richtiger vom potentiellen Christentum sprechen. Während "anonymes Christentum" die, wenn auch getarnte, Aktualität bereits zu enthalten vorgibt enthält das potentielle Christentum den seinmässigen Sprung ins neue Leben oder das, was irgendwie schon lebt und doch noch sterben muss, um auferstehen zu können. In der Botschaft des Neue Testament steht der negative Aspekt der Welt viel mehr im Vordergrund als bei Teilhard de Chardin oder bei der Theologie der "weltlichen Welt". Deshalb ist die neue Welt oder die erlöste Schöpfung im Sterben der alten begründet und liegt mehr in der Zukunft als in der Gegenwart. Als vorläufig noch potentielle erfährt sie die empfindliche Grenze des Nicht-Seins im Sein oder das Sterben um zu leben. "Eine Menschwerdungs- theologie, die in Kulturoptimismus umschlägt, ist eine Verzerrung der Religion des Gekreuzigten und eine Verzerrung der Menschwerdung selbst, die ja ihrem Wesen nach der Beginn des Kreuzweges war" (Ratzinger). Deshalb bleibt die Menschwerdungs- theologie sich selber nur treu, wenn sie alle Elemente der Verkündigung und des Lebens, Sterbens und Auferstehens Jesu in einer Welttheologie zu verbinden weiss.

12.6. "Die Hand auf unserem Mund"

Ist Gott am Ende doch der, welcher nicht nur zuschaut, sondern auch alles erträgt und erlöst? (Vgl. "Civitas" 9, 1981)

Albert Münst mag Recht haben, wenn er wünscht, die Theologen mögen gewisse Geheimnisse "unangetastet" lassen, anstatt diese rationalistisch zu zerreden. Immerhin durfte Job, nachdem er selbst gelitten hatte, erklären: "Vom Hörensagen hatte ich von Dir, (Herr), gehört, nun aber hat mein Auge Dich gesehen" (Job 42,5). Wenn auch unser persönliches Leiden zu dieser Gotterfahrung nicht hinreicht, so vermag die Uebung in der Leidensbetrachtung des Herrn uns noch am ehesten die Augen für das Geheimnis des menschlichen Leidens zu öffnen. Aber noch mehr und schlussendlich müssen wir mit Job "die Hand auf unseren Mund" legen (Job 40,4). Albert Münst frag sich, ob Gott sich in Jesus-Christus höchst persönlich am Risiko unserer Freiheit mit all dem schrecklichen Leiden wirklich engagiere, denn dem leidenden Gottmenschen werden nicht eigene Frau und Kinder aus den Armen entrissen und zerschmettert.

Es gibt eine wirkliche theologische Antwort auf diese Frage, und zwar aus der biblischen Tatsache der Menschwerdung Gottes. Gerade hier an dieser von Albert Münst kontestierend angeführten Schwierigkeit zeigen sich die Folgen einer gewissen, vielleicht heute sogar vorherrschenden Theologie, nach der die Menschheit Jesu dermassen einseitig betont wird, dass das Geheimnis, aber nicht weniger die Tatsache des göttlichen Logos in Jesus oder der sohnhaften Person Gottes in Jesus fast vergessen, wenn nicht geleugnet wird. Sind manche der Gottesgelehrten nicht eher als Anthropologen denn als Theologen zu bezeichnen? Was nun nach dem Neuen Testament von der Gottheit Jesu gesagt werden darf, schliesst seine Menschheit mit ihren Grenzen nicht aus. In diesem Ineinander von Gott und Mensch besteht ja gerade das Geheimnis der Inkarnation. Jesus ist Mensch, aber auch authentisch und identisch Gott, so dass er erklären konnte: "Wer mich sieht, sieht auch den Vater" (Joh 14,9). Gott und Mensch sind in Jesus allerdings nicht vermischt - das ergäbe eine Monstruosität - sondern diese bilden eine Einheit in Unterscheidung. So vermag bereits ein besonders begnadeter Mensch, wie die selige Maria Taigi von Rom, Anteil am Wissen Gottes zu haben. Diese schaute, aber nur wenn es die Nächstenliebe es ihr nahelegte, in einem göttlichen Licht das Verborgene und Zukünftige. Um wieviel mehr vermochte dies grundsätzlich Jesus. Wohl noch mehr aber wollte der Herr in unser Menschsein zu heiligen und zu erlösen. Das vorausgesetzt, schliesst das göttliche Selbstbewusstsein Jesu nicht nur das unendliche Wissen, sondern auch das übermenschliche Erfahren aus dem Innern Gottes als des Schöpfers alle menschlichen Schicksale und Leiden in sich. Nicht nur ein leibliches Kind, das man nie besitzen kann, sondern seine einmalig und nicht überbietbar ihm eigensten Geschöpfe werden ihm, dem Schöpfer, und dem so teuer dafür bezahlenden Erlöser durch die Sünde entrissen. Deshalb erübrigt sich die Unterscheidung einer Theologie vor und nach Auschwitz.

In der Passion fliesst gleichsam die gesamte Menschheitstragödie - so wie es nur in dem einen Fall des Gottmenschen möglich ist - in die wiederum unvergleichlich einmalige Leidensfähigkeit der vollkommensten Menschheit Jesu ein, so dass der Herr am Oelberg vor menschlich sonst unerhörter Qual Blut schwitzte. Hier geschah also mehr als in Auschwitz. Typischerweise berichtet dieses medizinische ausserordentliche Phänomen nur Lukas, der Arzt (Luk 22,44). Dabei ist nicht nur auf Grund der neutestamentlichen Offenbarung nach den meisten Theologen, sondern auch nach dem Zeugnis der heiligen Seher und Mystiker - die sich eines übernatürlich eingegossenen und nicht nur theologisch spekulativen Wissens erfreuen - die durch die Sünde verursachte moralische Qual des Herrn noch grösser als das physische und moralische Leiden der Menschheit. Deshalb darf man die Frage von A.M. in einen Affirmativsatz verwandeln: "Christus (hat) mit seinem Leiden und seinem Tod den Leidenskelch der ganzen Menschheit, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende, ausgekostet, so dass man sagen möchte, fürderhin kann ihm keine Kreatur mehr "etwas vormachen", sich an seinem Leiden zu messen versuchen." Am Kreuz leidet einzig der Mensch dem Menschen und Gott an. Gott lässt es zu, nicht aus blutigem Sadismus, sondern weil er den Menschen die Freiheit lässt. Und er muss uns die Freiheit um der Liebe willen schenken. Für Gott dreht sich alles um die Liebe. Die Liebe ist die eigentliche Erfüllung, der wahre Gebrauch der Freiheit, während Hass und Bosheit Missbrauch darstellen, den sich der Mensch ganz allein auf eigene Rechnung leistet und antut. Gott selbst erleidet also in Jesus die grösste Passion, damit sich am abgründigsten Hass, am spektakulärsten Missbrauch der Freiheit, der alles überragende Wert der Freiheit, die vollkommenste Liebe offenbare. Wenn Jesus durch seine alles durchdringende Gottheit, ausser dem eigenen, auch alles Leid der Menschen erfahren will, dann deshalb, um alle und alles durch seine allumfassende Liebe zu erlösen. Wenn wir nur an den Menschen Jesus und nicht an den "einzigen Sohn des Vaters" glauben dürften, wären sein Protest und sein Kreuz zwar bewundernswert, aber vergeblich und kein Neuanfang. Wir müssten zu ihm wie der Schächer sagen: "Hilf dir selbst und uns!" Wo wäre dann der "liebe Gott" so lieb, wenn er den gekreuzigten Menschen allein liesse? Nun hat Gott aber seinen einzigen Sohn am Kreuz "dahingegeben". Realistischer kann Gott gar nicht da sein. Er ist so diesseitig, dass uns schaudert. Aber gerade hier, wo Gott im Fürchterlichen anwesend ist, wird offenbar, wer Gott ist. Wenn der am Kreuz Sterbende bloss der Mensch wäre, dann wäre "Gott tot" (Hegel, Nietzsche). Nun aber ist der anscheinend ferne Gott ganz nahe. Er hat sich nicht herausgehalten, er hängt selbst am Kreuz, er ist im Elend und im Hass der Welt festgenagelt. Und dies Fürchterliche kommt nicht von ihm, sondern von uns, von unserem Ungehorsam, der uns und Gott trifft. Am Kreuz tut sich die Tür in der Wand, vor der wir stehen, auf. Und der sie öffnet, ist keine kalte Majestät, sondern ein Liebender (M. Grünwald).

Vor seinem moralischen Leiden schwindet jede Gehirnwäsche der Konzentrationslager. Nach Berichten aus Südamerika werden den Gefolterten die Geschlechtsteile zerschlagen. Jesus hat wohl durch die Geisselung Aehnliches erfahren, denn nach dem Propheten blieb "kein heiler Fleck" an ihm. Am Kreuz werden göttliche Grösse und zynischer Sadismus geschlechtlicher Liebe offenbar, denn das Lendentuch der Gekreuzigten ist eine fromme Erfindung.

Der sterbende Herr rief: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46), aber auch: "Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist" (Lk 23,46). Aus dieser Bilanz der Passion Christi kommt auch den in den Konzentrationslagern Gefolterten die Gnade, dass sie, trotz aller Verzweiflung, wie E. Wiesel, nicht nur von Augenblicken schreiben, "die meinen Gott und meine Seele mordeten", sondern auch ein Zeugnis wie dieses: "...ich bin dankbar, dass ich mit Emil Davidovic bekennen darf: Es war kein Moment, wo ich an Gott gezweifelt habe.." Bezeichnenderweise schreibt E. Wiesel: "...die meinen Gott...mordeten", das ist eben wie bei Job nur der "Gott" vom "Hörensagen", d.h. eine unzulängliche menschliche Vorstellung von Gott, die in der Prüfung nicht standhält und deshalb sterben muss, um einer tieferen Gotteserfahrung Raum zu geben. Gott bleibt trotz Auschwitz Gott, und d.h., die Liebe. Denn wie A.M. selbst nach Günther B. Ginzel zitiert: "Die Frage, warum Gott Auschwitz zuliess, (ist) grundfalsch. Richtig lautet sie: Warum liess der Mensch Auschwitz zu?" Wenigstens liegt auch nach biblischer Theologie der Akzent auf der zweiten Frage. Wenn man in die Augen halbverhungerter Kinder oder (in Indien) schrecklich verkrüppelter Menschen blickt, traut man ob des tiefen, ja strahlenden Blickes seinen Augen nicht. Es ist, als ob der Herr in ihnen leuchte und erleuchte. Jesus hat tatsächlich durch sein Kreuz und seine Auferstehung alle gutwilligen Menschen erlöst. Wenn Gott nach seiner Vorsehung uns Leiden "zumutet", dann als erlösende Teilnahme an seinem Leiden und an seiner Auferstehung, als Gnade, weil er die Liebe ist, Gott, der sich aus Liebe zu uns am Kreuze selbst verliess. Nach dem N.T. - irgendwie auch nach der indischen Karma- und Nirvana-Lehre - ist die Eschatologie eine kompensierende Antwort auf das Leiden (Vereinigung mit Gott oder Verwerfung), was nicht als ewige Dauer, sondern als ewiges Jetzt, nach der Daseinsweise des Vergeistigten, zu verstehen ist. Das übersteigt wiederum unsere schwache menschliche Vorstellungskraft, so dass uns nichts anderes übrig bleibt, als mit Job "die Hand auf den Mund" zu legen.

Wer für die Wahrheit einsteht, wird verfolgt. Das christliche Leiden steht vor allem in organischer Bezogenheit zum christlichen Bekenntnis. Aus diesem Verhältnis gestaltete sich die gottmenschliche Dramatik im Leben Jesu. Wir probieren diesen Zusammenhang zu umgehen. Wir machen natürlich der Bedeutung des Kreuzes den Mittelpunkt nicht streitig. Deshalb bringen wir Opfer, wir suchen uns sogar solche aufzuerlegen. Wie weit sind diese aber von Nutzen, wenn wir dem eigentlichen Kreuze des Herrn, dem unerschrockenen Wahrheitsbekenntnis aus dem Wege zu gehen suchen? Wenn wir nicht zusammenhanglos beim Kreuze stehen wollen, müssen wir in ähnlichem Masse wie Christus für die Wahrheit Zeugnis ablegen. "An dieser Aktion scheiden sich die Geister. Und es wird offenbar werden, wer da in seinem Schaffen und Ruhen, in seinen Erfolgen und Enttäuschungen und in jeglichem Tun sich selbst - Amt und Ehren, Titel und Pfründen - sucht und wer das Reich Gottes sucht." Wir folgen Christus nach, wenn es sich machen lässt, wenn wir deshalb keine Schwierigkeiten bekommen und auf nichts zu verzichten brauchen. Darum ist unser Christenleben ohne Schönheit, ohne Glut, ohne Würde. Diese "satte Bürgerlichkeit eines spannungslosen, charakterlosen, wohlbehäbigen Allerweltschristentums" ist im Armen von Assisi offen vor der Welt gekreuzigt. "Wir sind alle aufgerufen zur offenen Stimmabgabe, zu einem unbestechlichen Ja oder Nein! Mit der oft so klug eingefädelten Neutralität in den Dingen um Gott, um Ewigkeit und Seele und mit den Folgen daraus für die Gestaltung der Welt ist es vorbei. Und das ist gut! Denn nichts ist so verächtlich wie dieses vornehme Getue, das nicht warm und nicht kalt ist, das auf zwei Hochzeiten zugleich tanzen und in allen Töpfen kochen möchte. Es ist dem Himmel und der Erde ein Greuel. Und des Menschen, des Getauften unwürdig. Darum trifft auch Dante diese "Neutralen", diese Gesinnungslosen und Charakterlosen an jenem "verächtlichsten aller Orte", der zwischen dem Höllentor und dem Acheron gelegen ist. Dort hausen sie in unendlicher Oede, diese so Gescheiten und Vorsichtigen, diese gewiegten Taktiker und geschickten Eiertänzer, die sich immer so grosszügig mit den vollendeten Tatsachen abzufinden verstanden haben, die auf beiden Schultern zu tragen wussten.

Die akt-potentielle Zusammensetzung unserer Natur legt den metaphysischen Grund zu einem in unterschiedenen und doch wieder aufeinander bezogenen Gegensätzen gespannten, ganzheitlichen Charakter. Da nun aber die nach relativem Sein und Nichtsein, nach Akt und Potenz metaphysisch geordnete Struktur des Menschen in ihrer hierarchisch geordneten Unterschiedenheit reduziert, verabsolutiert und infolgedessen pervertiert wird (der Akt wird zur Potenz und die Potenz zum Akt), ist die Nivellierung und Dissolvierung des psychologischen und moralischen Charakters des Menschen eine notwendige Folge. So mag man, beispielsweise im diktatorialen Staat, ausschliesslich auf die Gutmütigkeit reduziert sein (passiver Herdenmensch) oder dann auf den Hass (ruheloser Demagoge). Aeusserlich herrscht absolute Identität zwischen der demagogischen Diktatur und dem Volk, in Wirklichkeit aber unorganische, widerspruchsvolle Zusammenhanglosigkeit an Stelle der organisch unterschiedenen und aufeinander bezogenen, akt-potenziellen Einheit. Oder man mag, z.B. in der heutigen Demokratie, gut und hart zugleich sein, aber in falscher Beziehung: gutmütig gegenüber dem Irrtum und darum hart gegenüber den Irrenden. Oder man ist überhaupt nichts mehr als eine nivellierte, charakterlose Vermischung, ein Mensch scheinbar ohne metaphysischen Akt, ohne Entelechie, ohne Zielsetzung, wie der Akt nach Aristoteles heisst.

"Wohin die Masse denkfauler Menschen hintreibt, da folgt man gedanken- und willenlos. Darum hat heute die Masse einen solch verheerenden Einfluss auf das Tagesgeschehen und die Massenmedien, weil es überall an selbständig denkenden Menschen gebricht." Das gilt auch in der modernen Demokratie, in der die von Natur aus und durch Gottes Gnadenordnung Bestimmungsmächtigen (Akt) oft aus eigener Schuld zu Bestimmungsbedürftigen (Potenz) und die Bestimmungsbedürftigen zu Bestimmungsmächtigen werden. Die soziale Existenz des Christen darf sich jedoch nicht nach dem Gesetz des geringeren Widerstandes oder der sich der Umgebung anpassenden Gleichschaltung vollziehen, sondern sie untersteht den Grundsätzen der von der Gnade bestimmten, naturrechtlichen Person. Die Wahrheit erträgt nicht die alles auflösende Vermischung, sie bedarf der geordneten Unterscheidung und der vitalen Auseinandersetzung. Wer mit den christlichen Interessen, der vollkommenen Beziehung zu Gott, zurückhält, in der Absicht, der Einheit der Menschen unter sich mehr zu dienen, bewirkt gerade das Gegenteil, indem er das Fundament dieser Einheit lockert und dadurch den Ruin der Gesellschaft beschleunigt. Die liberale Aera war dem Bösen gegenüber so hemmungslos tolerant, dass in ihr die kulturhemmendste Intoleranz geboren und aufgezüchtet werden konnte. Erst die Erkenntnis dieses Zusammenhangs vermöchte der heutigen Katastrophe ein Ende zu setzen.

"Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz schal wird, womit kann man dann salzen? Es taugt zu nichts mehr. Man wirft es aus dem Haus und lässt es von den Leuten zertreten." (Matth. 5, 13). "Nicht der, bemerkt der hl. Augustinus, wird von den Leuten zertreten, der um der Wahrheit willen Verfolgung leidet, sondern jener, der aus Furcht vor der Verfolgung zum Tor wird." (In III. Noct. Com. Doct.) Schliesslich möchten wir noch auf einen Zusammenhang hinweisen, dessen wir uns vielleicht zu wenig bewusst sind. Der Erfolg des inneren Ringens scheint gerade proportioniert zu sein zur mannhaften Auseinandersetzung nach aussen mit der Welt und umgekehrt. Zur hl. Katharina von Siena sagte der Herr: "Ich bin derjenige, der ist, du bist diejenige, die nicht ist." In dem Masse, als der Mensch durch Selbstverleugnung und Abtötung seine ungetrübte Potentialität zurückgewinnt, lebt er in der Aktualität Gottes. Je inniger bezogen, desto vollkommener.

Was die Kirche in den verschiedenen Ordensidealen anstrebt und zu verwirklichen sucht, das enthält eminent, in harmonischer Unterschiedenheit, die eine gottmenschliche Person Jesus Christus. Die sichtbare Grösse der gottmenschlichen Person Jesu Christi liegt vor allem in ihrer, trotz maximal gegensätzlicher Unterschiedenheit, einheitlich bewahrten Ganzheit. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hat man sich alle Mühe gegeben, die Gestalt des Heilandes ihrer tatkräftigen, energischen, starken Züge zu entkleiden. Das Christusbild wurde immer mehr zu einer Schattenfigur gestempelt, süsslich, weich und unmännisch, kraftlos und verschwommen, so dass der aufklärerische Christusforscher Hurnack in Christus nur mehr die Gestalt eines ohnmächtigen Predigers, einer schwächlichen, grossväterlichen Allerweltliebe sah. Dagegen erheben die Evangelien und die urchristlichen Schriftsteller einen flammenden Protest. Sie erblicken in der Erscheinung Jesu die Verkörperung der Kraft, der Gewalt und des Mutes. "Meinet nicht, dass ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf die Erde (Christus meint hier einen faulen Kompromissfrieden, der Gottes Gesetz und Grundsätze verrät), nicht bin ich gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Matth. 10, 34). So ist Christus, als starkmütige und tatkräftige Persönlichkeit das Vorbild eines männlichen, unnachgiebigen Charakters, wenn es um ewige Grundsätze geht. Durch sein Evangelium und sein Gottessohnbekenntnis stellt er sich in dauernden Widerspruch mit dem Bestehenden. Er heisst seine Jünger das Höchste wagen und das scheinbar Unmögliche unternehmen. Er fordert das Opfer des ganzen Besitzes für das Reich Gottes. Das Himmelreich ist gleich einem Perlenhändler und Schatzgräber, der alles verkauft, was er hat, um den Schatz und die Perle des Himmelreiches zu erwerben. Wegen seiner unbedingten Wahrhaftigkeit zieht sich Jesus den Hass der Grossen und die Verfolgung der Massen zu. Er steht zur Wahrheit, auch wenn ihm das Bekenntnis unangenehm ist und sogar schadet. Für die Wahrheit lässt sich Jesus zum Tode verurteilen.

Und doch wandelte der Herr auf der Höhe seines königlichen Gottesbewusstseins mit solcher Herablassung gegen andere und mit so unergründlicher und freigewollter Verdemütigung, als wäre er der Letzte und Kleinste von allen. Wir haben, um das Bild unserer Zeit zu korrigieren, den unbeugsamen Starkmut im Dienste der Sache besonders hervorgehoben. Man könnte mit ebenso vielen Belegen zeigen, dass Jesus, wenn es nicht um die Sache, sondern um seine Person geht, eine Demut lehrt, die niemandem widersteht und den Todfeinden verzeiht. "Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel des Himmels ihre Nester, der Menschensohn aber hat keine Stätte, wohin er sein Haupt hinlegen könnte" (Matth. 8, 12).

Wir lassen gerne Klugheit walten. Aber unterscheiden wir auch genug zwischen der des Geistes und jener des Fleisches? Den Gesandten des Herodes sagt Christus: "Geht und sagt diesem schlauen Fuchs: Siehe, ich treibe böse Geister aus." Auf die verstockten Pharisäer saust es wie mit Keulenschlägen nieder: "Heuchler, Vipern, Natternbrut, übertünchte Gräber! Törichte und blinde Führer!" Die Tempelreinigung muss eine gewaltige Szene, ein Kraftausbruch des heiligen Zornes Jesu gewesen sein. Freilich handelt er dabei nicht aus persönlicher Kränkung und Verbitterung, sondern aus glühendem Eifer für die Ehre Gottes. Christus hält erst am Ende seines Lebens inne, das Schwert des Geistes zu führen, als er selbst es wollte, um seinem Lebenswerk durch die äusserste Hingabe und Selbstaufopferung am Kreuz die Krone als <Es ist vollbracht> aufzusetzen.

Wie auf andern Gebieten, so trat, entsprechend der seinsphilosophischen Entwicklung, auch in der Berufswelt an Stelle der in organischer Unterschiedenheit möglichen Einheit von Geisteswissenschaft und Technik ihre respektive Trennung und einseitige Verabsolutierung. Wie, metaphysisch gedacht, die Potenz durch Trennung vom Akt, ihre relative Bezogenheit einbüssend, zum absoluten Nichtsein wird, so kann auch die Technik, wenn sie ihrer Unterordnung und ihres Bezuges auf das Ganze vergisst, sich den übergeordneten Normwissenschaften gegenüber absolut entfremden und schliesslich selbst zerstören. Allerdings sind diese, wie der Fall Galilei zeigt, an dem verhängnisvollen Bruche mitverantwortlich. Der Umstand jedoch, dass bereits vor dem grossen Missgeschick der Verurteilung Galileis der Humanismus die Kultur von Gott loslöste und den Menschen in den Mittelpunkt stellte, hat zur Folge, dass man diesen Abfall der Naturwissenschaft (die grössten Erfinder waren übrigens gläubig) nicht so sehr der Kirche zur Last legen darf. Tragischer ist die Tatsache, dass die Menschheit, während sie in der Naturwissenschaft kopernikanisch, als weltaufgeschlossen wurde, weltanschaulich weitgehend vom "kopernikanischen" dem "ptolemäischen" Standpunkt verfiel, indem sie nicht mehr Gott, sondern die Erde mit dem Menschen in den Mittelpunkt stellte. Diese seit dem Humanismus immer mehr angestrebte Beziehungslosigkeit zu Gott (Akt), scheint der eigentliche Grund zu sein, dass die akt-potentiellen Bezogenheiten der Menschen und Kulturwerte unter sich der Aufteilung, Verabsolutierung und der darauf folgenden Selbstaufhebung oder Selbstvernichtung verfielen.

Das Entscheidende liegt nun darin, dass die Menschen die Not der Aufspaltung fühlend, die Einbeziehung von Technik, Geisteswissenschaften und Religion vollziehen mussten. Ehrfurcht, unvoreingenommene Verständnisbereitschaft vor den Eigenwerten der verschiedenen Berufsklassen werden als notwendige Voraussetzung zur gegenseitigen beruflichen und moralischen Einbeziehung und zur religiösen Wiedergewinnung gefordert. Das Hindernis darf nicht in uns, es kann höchstens in den heutigen Umständen der Sache liegen.

Es erhebt sich die Frage, ob die modern organisierte Technik an sich, also abgesehen vom Menschen, Christus und seinem Evangelium gegenüber ohne weiteres bezugsfähig ist. Wenn in Folge der Loslösung von Gott alle Kulturgebiete sich deformierten, wie hätte die Technik diesem Schicksal entgehen können. Weil sich diese Frage auf Gott und die Ordnung des Ganzen bezieht, können wir sie nicht vom untergeordneten Führungsfeld aus, der Technik selbst, entscheiden. Jedwelches System, z.B. eine Uhr, kann in sich logisch sein und präzis funktionieren und doch in bezug auf die übrigen und das Ganze falsch gehen. Tatsächlich glauben wir in Folge der modern aufgezogenen Maschine im heutigen Leben auf eine Anzahl von Beziehungsmängel zu stossen, in denen wir die wachsende Aussaat jener ersten Spaltung mit Gott erkennen.

Weil es sich also um die Beziehung irdischer Güter zum Menschen und zu Gott handelt, ist die Frage zunächst aus dem Führungsfeld der Gotteswissenschaft zu beurteilen. Die höchste Erkenntnis schöpfen wir nicht aus den Sinnen, noch aus der natürlichen Vernunft, sondern aus dem Lichte des Glaubens. Unser Urteil wird sich also nicht nach dem Scheine der Sinne, noch nach dem Vorurteil der menschlichen Vernunft, sondern nach dem Worte Gottes richten.

Was sagt Gott über die Ordnung der Werte im ganzen genommen? "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und das alles (Nahrung, Kleidung, Kultur) wird euch dazugegeben werden." Die ewigen Güter sind die Hauptsache, die irdischen die Nebensache. Unter diesen nebensächlichen sind die einen notwendig, die andern überflüssig. Die überflüssigen sollen wir auf den Rat des Herrn den Armen geben, zum sozialen Ausgleich benützen. Wenn es das höhere Gut der Seele verlangt, entzieht uns Gott zeitweise auch die notwendigen, so wie ein kluger Arzt die Speisen vorschreibt und verbietet im Hinblick auf das höhere Gesamtwohl des Organismus.

"Macht euch die Erde untertan" (Gen. 1, 28), bezieht sich auf das Nebensächliche, hat also relative Bedeutung. "Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet", hat absolute Bedeutung. Im Unterschiede zum A.T. mit seiner materiellen, zeitlichen Prosperität, legt das N.T. das Schwergewicht auf die ewigen Güter. Daraus folgt, dass die moderne Technik, die sich, wie wir zu zeigen versuchen werden, stark im Ueberflüssigen bewegt, dem Menschen nur in untergeordneter und in unadaequater Weise zur Erfüllung seines Endzieles Hand bietet. Darum verschafft sich Christus zwar durch ein Handwerk die notwendigen irdischen Güter, verlangt aber die Preisgabe aller überflüssigen, um die ewigen zu besitzen. "Macht euch die Erde untertan" stellt so wenig den Gesamtsinn der neutestamentlichen Heilsbotschaft dar, dass Christus, sein Vorläufer und die Apostel, weit entfernt die irdische Kultur zu verherrlichen, ihr möglichst entsagen und sie nur als Gleichnis, als Bild benützen für das Ewige.

Ist nicht neben der Wirtschaft die moderne Technik die Veranlassung, dass heute sehr viele Menschen nicht nur technisch arbeiten, das taten immer auch die Handwerker, sondern an der Herstellung überflüssiger Güter arbeiten, die künstlichen Bedürfnissen und deshalb zugleich einer unlauteren Art der Bereicherung dienen?

Beispielsweise in bezug auf das Trinken: Wasser und Wein sind notwendig, Kaffee, Tee, Bier, alle Spirituosen und Limonaden sind mehr oder weniger überflüssig. In der Bäckerei ist das Brot notwendig, alle Konditoreien überflüssig. In Drogerie, Textil-, Hut-, Haushaltungs-, Juwelen- und anderen Geschäften findet sich stets mehr Ueberflüssiges als Notwendiges. Und in der Buchhandlung? Der grösste Teil der Tageszeitungen, Illustrierten, Magazine, Belletristik und sogar der "wissenschaftlichen" Literatur ist überflüssig und oft sogar schädlich. Wir wollen nicht sagen, dass das Ueberflüssige in jedem Fall ungeordnet ist, aber dass es leicht zur Unordnung und Sünde Anlass gibt. Und nun zeigt sich der dialektische, d.h. ins andere Extrem umschlagende, sich selbst aufhebende Charakter dieser Kultur. Man verfügt über viele Bücher und Bibliotheken, während man dabei in immer grössere Unwissenheit in der wichtigsten Lebensfrage gerät: Warum sind wir auf Erden? Man macht technische Fortschritte und wird seelisch ärmer. Man hat äusseren Komfort und innere Fried- und Freudlosigkeit. Warum das? Weil die Technik als Kultur des Nebensächlichen und Ueberflüssigen den Menschen zwar ein Stück weit seelisch bereichern kann, dann aber auch, besonders heute, stark überlastet. Wer war mehr dem Geiste geöffnet und vom Animalischen emanzipiert, die Väter und Einsiedler, die sich mit einer Bibel in eine Höhle zurückzogen, oder wir mit unserer raffinierten Kultur?

Nebensächliches und Ueberflüssiges verdrängen die Hauptsache, die Güter den Menschen, wenigstens schieben sie sich zwischen die Menschen und setzen diese in Beziehungskrisen. So mag das Buch zwar belehren, verdrängt aber auch den persönlichen, lebendig wirkenden Einfluss des Erziehers, der neben dem Wissen zugleich auch die Tat verkörpert. Man weiss zwar mehr und erwirbt mehr, ist dadurch aber oft oberflächlicher und hat vor lauter überflüssigen und schablonenhaften Erzeugnissen keine Zeit und kein Geld für qualitatives Hand_ und eigentliches Kunstwerk. Eine Unflut pharmazeutischer Mittel hilft in gewissen Fällen, schiebt sich aber auch zwischen Arzt und Patient, erschüttert oft das gegenseitige Vertrauen, wenn sie nicht sogar an Stelle der persönlichen Behandlung tritt, oder des Gebetes des Kranken zu Gott. Die Eisenbahn bringt nicht nur den Arzt, sondern auch den Makler schneller ans Ziel. Sie beraubt uns der gastfreundschaftlichen Beziehungen und des natürlichen Erlebnisses besinnlicher und angestrengter Wissenschaft, als wertvolle Mahnung und Abbild unserer irdischen Pilgerfahrt zu Gott. Es ist nicht zufällig, dass dem Eifer in der Erfindung und Vermehrung der irdischen Güter die Missachtung der ewigen folgt. Wir bezahlen oft die allzu grosse Kultur der Mittel mit dem Verlust des Zieles.

Aber nicht nur, was moderne Technik schafft, sondern auch die Art und Weise, wie sie es schafft, richtet sich gegen den Menschen und die Ordnung des Ganzen. Wo der natürlich arbeitende Landwirt und Handwerker auf das Kausalverhältnis der Dinge aufmerksam wird, verlangt die Bedienung einer Maschine ein im Vergleich wenig naturverbundenes, zusammenhängendes, ganzheitliches Denken, so dass der Proletarier, dem natürlichen Denkprozess enthoben, weniger veranlasst wird, an die natürliche Erstursache, an Gott zu denken. Er kann vielmehr dem oberflächlichen Eindruck erliegen, dass es der Mensch ist, der alles schaffe. Die Arbeitsteilung in Kopf- und Handarbeiter ist in der modernen Technik bereits extrem dialektisch, zu ausschliesslich geworden. Sie bewirkt ähnliche Nachteile wie die einseitige Summierung des politischen Denkens im absoluten Staat, wo ein einzelner oder der Staat in ungeordnetem Masse an Stelle der Untergebenen denkt. So besteht die alles bis ins einzelne fein durchdringende, in die Maschine gelegte Geistigkeit des Ingenieurs oft auf Kosten einer ungebührlichen Einschränkung geistiger Tätigkeit auf Seiten des Arbeitenden und sogar auch auf Seiten aller Gebraucher hochentwickelter technischer Güter. Die Menschen werden um so gedankenloser, je automatischer alles geht.

Noch mehr als unter sich, trennt die Technik ihre Arbeiter von den übrigen Menschen. Jurist, Kaufmann, Offizier, Lehrer, Handwerker erschöpfen sich in Beziehungen zur Kundschaft.

Sie bilden berufsmässig Gesellschaft, während der Techniker vielleicht mit einem Handgriff machtvolle Aktionen auslöst, aber mit kalten, leblosen Maschinen, die keiner moralischen, menschlichen Reaktion fähig sind. Der einsame Maschinist in der Turbogeneratorenhalle kommt uns noch einsamer vor als Daniel in der Löwengrube (Taf. 10). Lehrer, Schalterbeamter, Gerichtsdiener, Putzfrau haben eine einförmige, untergeordnete Arbeit, aber sie ist im Unterschied zur Maschinenarbeit mehr auf die Menschen bezogen. Es ist nicht zu leugnen, dass der Fabrikarbeiter im Gedanken, den Bedürfnissen (aber welchen?) seiner Mitmenschen zu dienen, eine hohe ethische Haltung einnehmen kann. Aber gerade der Umstand, dass er nur für die "Brüder Unbekannt" arbeiten kann, also nicht wie der Handwerker in persönlichem Verkehr mit dem Konsumenten steht, will seine Bruderschaft schwieriger erscheinen lassen. Gerade weil auch das persönliche Verhältnis fehlt, empfinden wir die Arbeitsmystik im Marxismus als unecht. Wo Gemeinschaft sich weniger auf persönliche Beziehungen, als auf materielle Güter stützen muss, da wird die Bruderschaft leicht zur Genossenschaft (= Genuss- gemeinschaft). Daher der spezifisch sozialistische Ausdruck.

Schliesslich ist auf die Gefahr der "Subalternität" im grösseren technischen Betrieb hinzuweisen. Sie bewirkt die verhängnisvolle Spaltung zwischen dem mit verantwortungsvoller Hingabe verfertigten Werk (finis operis) und seiner späteren Ablieferung und Benützung (finis operantis). Würde der Techniker sich nicht so leicht von der Verantwortung über die Abgabe und spätere Verwendung seines Werkes dispensieren, dann wäre sein Berufsobjekt oft ebenso umstritten wie das des Politikers. Wenn der Arbeiter nicht nur zur Hälfte denkender Mensch sein will, wird er sich mehr als über die innere Zweckmässigkeit des Werkes über die Umstände seiner Ablieferung und Ausnützung Rechenschaft geben müssen. Demnach scheint uns ein Betrieb nur so weit menschenwürdig, als er dem einzelnen Arbeiter die Möglichkeit lässt, über die Abgabe seiner erzeugten Güter mitzubestimmen. Christus konnte Handwerker sein, weil er als solcher in persönlicher Beziehung zum Konsumenten stand und sich über die Art der Erzeugnisse die Freiheit wahren, als auch über ihre Abgabe (wem, wieviel, wozu) ein Bild machen konnte. Der dialektische Umschlag und Widerspruch ist da erreicht, wo der bedürftige Proletarier dazu erniedrigt wird, seine Arbeitskraft zur Herstellung überflüssiger Luxusgüter der Reichen einzusetzen.

"Macht euch die Erde untertan." Die moderne Maschine antwortet darauf: "Immer schneller und immer mehr." Ja, aber nicht auf beliebige Weise, sondern in Beziehung auf die menschliche Person und auf die Ordnung des Ganzen. Wie das "Wachset und mehret euch" nur so weit gehen darf, als man noch weiss, wessen Kinder das sind, und als man persönlich zu erziehen vermag, so ähnlich darf auch die technische Erzeugung nur so weit gehen, als die Erzeugnisse in würdiger Beziehung zur verantwortungsschuldigen Person des Erzeugers stehen.

Die Weltgefahr liegt heute in der Umkehrung der Wissenschaftsordnung. Die Theologie und Geisteswissenschaften könnten eher noch ohne moderne Technik auskommen, als diese ohne Theologie.


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