I. TEIL

1. DAS PAAR UND DAS GÖTTLICHE

Unter Mythos ist die Gesamtheit sprachlichen und bildhaften Ausdrucks des wahren oder vermeintlichen Göttlichen in den Weltreligionen zu verstehen. Im abgeleiteten Sinn darf das Wort auch für jene Teile (Schöpfungsbericht) der Offenbarungsreligion gelten, die bei aller Primärinspiration sich der einkleidenden Bilder des heidnischen Mythos bedienen.

Das philosophische Denken hat im Einsturz und Umbruch unseres Jahrhunderts zugleich Erschütterung und neuen Antrieb erfahren. Denn im Wandel der Dinge stellen sich aufs neue die Fragen nach der Struktur der Welt und nach dem Sinn unseres Daseins. Dabei ist unser geistiges Erbe jedoch zu reichhaltig, als dass wir unberührt oder unbeschwert durch die geisteswissenschaftliche Vergangenheit diesen Fragen nachgehen könnten. Im weiten Horizont stellen wir uns auf jene Richtung ein, aus der uns am ehesten das Licht ontologischer Erkenntnis entgegenleuchtet. Die Sonne behält für alle Zeiten ihre Gültigkeit, ob wir uns den Zugang zu ihrem Licht und ihrer Wärme verstellen oder uns ihnen aussetzen.

Wegen der universalen Gefährdung, die heute auch der Theologie aus der Philosophie erwächst, wollen diese Ueberlegungen der Methode nach philosophisch-theologischer Natur sein. Die kritische Geisteswissenschaft, die Theologie nicht ausgenommen, beruht gern auf der stillen Voraussetzung einer notwendig kontinuierlichen Entwicklung vom weniger Guten zum Bessern. Tatsächlich beweist aber nicht nur die Kirchen-, sondern auch die Philosophiegeschichte nicht selten das Gegenteil. So ist in der Philosophie wie in der Theologie irgendwie das einseitig rationale Denken dem Erkenntnislicht der Meditation oder der Theologie des Herzens unterlegen. Dies geht nicht nur aus einer gewissen rationalen Zerfaserung des natürlichen und religiösen Mysteriums, sondern auch aus dem Mangel einmütig liebenden Geistes unter den Forschenden hervor.

Die Kirche leidet heute nicht weniger unter der einseitig rationalen Theologie und Exegese, als unter dem Absolutismus des Rechtes. Aber Bultmann wird nie Pascal, der Verstand nie das Herz, die wissenschaftliche Theorien- und Methodenbildung nie den Mythos ersetzen können.

Nach dieser Vorfrage zeitgenössischer Hermeneutik gelangen wir zum eigentlichen Thema. Angesichts der un- oder schlechtgelösten Probleme drängt sich die Sorge um die Erhellung der Grundprinzipien auf. Nachdem nicht die primitive, sondern die rationale oder mentale Denkweise uns in die Krise und zum Verlust der Ganzheit führte, ist eine erste Orientierung an der Unerschütterlichkeit der mythischen oder bildhaften Denkweise, derer sich auch die Bibel bedient, angezeigt und nützlich. Es handelt sich dabei um die Symbole der ursprünglichen Menschheitserfahrung, wie etwa die Paarigkeit von Tag und Nacht, von Mann und Frau, oder die Polarität von Himmel und Erde, von Geist und Stoff, die sich durch keine relativistische Geschichtlichkeit und durch keinen Historismus absetzen lassen. Diese Polarität oder Zwei- und Vieleinigkeit der Welt legt, was ihren seinsmässig unwandelbaren Aspekt betrifft, den eingangs gemachten Vergleich mit der Sonne nahe. Trotz vieler dialektischer Aufspaltungen, Vermischungen und einseitiger Verabsolutierungen in der Geistesgeschichte, erweist sich diese, letztlich metaphysische Tiefenstruktur der Welt, als unzerstörbares Geheimnis der Schöpfung. Konkret ausgedrückt besteht dieser Geheimnischarakter in der Vermählung Gottes mit der Welt und der Geschöpfe und Dinge der Welt unter sich, als einer Integration, die das Einzelne komplementär ins Ganze einfügt. Platon hat dieses universalste Prinzip der gegenseitigen Anziehung und Unterscheidung der Mannigfaltigkeit in der Einheit als kosmischen Eros bezeichnet. Und Thomas v. Aquin erklärt, dass "die Ordnung der Teile des Universums unter sich, durch die Hinwendung des gesamten Universums auf Gott gewährleistet wird". Nachdem diese letzte Hinordnung die der Potentialität und Intentionalität ist, stehen die Dinge der Schöpfung in keinem dialektisch antithetischen, sondern in einem analogischen, komplementären Verhältnis zueinander. In der Protologie oder Urlehre der Bibel finden wir diese Zwei- und Vieleinheit der Schöpfung bestätigt. Der Schöpfungsbericht der Genesis ruht auf der Paarigkeit des Eros wie auf zwei Säulen, oder genauer, auf den verschiedenen Säulenpaaren der Gegensätze und ihrem harmonisch ausgeglichenen Zusammenspiel, wie Gott und Mensch, Tag und Nacht, Wasser und Land, Mann und Frau, Baum der Erkenntnis und des Lebens und andere Polaritäten es darstellen.

Nach dem Modell des Sündenfalls in Gen 3 entstehen nun Krise und Unordnung in der Welt dadurch, dass der Mensch, ähnlich wie der Subjektivismus im noetischen - oder Erkenntnis - Bereich, die eine der Komponenten auf Kosten der andern einseitig verabsolutiert. Im einzelnen heisst das beispielsweise: der gottlose Mensch vergötzt die Welt, er verfällt der Erkenntnis auf Kosten des Lebens, er macht die Nacht zum Tag und gefährdet durch das männerische Wettrennen der industriellen Produktion die Welt der Frau, nämlich Familienkultur und Heimwesen. Schöpfungsordnung und Religion haben aber mindestens so viel, wenn nicht noch mehr zu tun mit der selbstlosen Hingabefähigkeit der Frau als mit dem masslosen Leistungstrieb des Mannes.

Deshalb auch gerade im A.T. die grosse Sehnsucht nach Erlösung. Jene Dinge, welche die Menschen des A.T. am meisten beschäftigen, sind wie ein Anklingen an Christus, ein Suchen, das in ihm seine letzte Erfüllung findet. Israel sucht das verheissene Gottesreich. Mose, der Führer, lässt sich nicht von Menschen, sondern von Gott beraten. "Ein anderer Mann," rufen sie, "an unsere Spitze und schnurstracks nach Aegypten zurück!" Aber Gott schickt das Volk in die Entbehrungen der Wüste. Ein neues Geschlecht wächst heran, und dieses kennt nicht mehr die Fleischtöpfe Aegyptens, es kennt nur mehr die Sehnsucht nach dem Lande der Verheissung. Das Kind! "Gib mir Kinder, sonst sterbe ich!" fleht die unglückliche Rahel ihren Mann an. Das ist die alttestamentliche Mutter. Welche Sehnsucht nach dem Kind, wegen des einen, das kommen soll! So bemühen wir uns heute nicht einmal um die Gotteskindschaft. Dann sucht Israel den Richter, den König. Wie deutlich wird die Anspielung, als David unter Schmach und Leiden, von den Eigenen verfolgt, nach dem Oelberg ging. Noch beziehungsreicher ist das Opfer, das Brot. Jenes Brot ist teuer, es kostete in Aegypten ein angstvolles Confiteor. Der Brotgeber ist Bruder und König. Wer aus bloss äusserem Eifer mehr Manna sammelte, kam nicht zum Vorteil. Ein Brot brachte das ganze feindliche Kriegslager zum Einsturz. Israel sucht den Ueberwinder des Todes. Sogar der abtrünnige, über Bord geworfene Jonas wird zum Zeichen des Guten, der Auferstehung. Also darf ich hoffen, dass auch mein Fall bezogen ist. Wie gross, wie gut ist Gott.

2. DIE KYKLADEN

Die Kykladen sind die zwischen Griechenland und Kleinasien sich im Kreise um Delos gruppierenden Inseln im Aegäischen Meer. Im Zusammenhang mit zunächst noch vergänglichen und später steinernen Wohnstätten (um 3000) hat man auf manchen Inseln (Naxos, Paros, Antiparos, Melos) in der Mitte des 19. Jahrhunderts Friedhöfe von 10 bis 15 Gräbern freigelegt, die vom Jahre 3200 an zu datieren sind. Es sind Fundstätten der sogenannten "Marmoridole" verschiedener Prägung und Entstehungszeit. Während diese zur Zeit ihrer Entdeckung und noch im 20. Jahrhundert als primitiv und unbeholfen belächelt wurden, sind sie seit den dreissiger Jahren als höchste und geistvollste Kunst anerkannt. Sie gelten zugleich als älteste Kunstwerke Europas, die in ihrer schlichten Klarheit unserem modernen Kunstverständnis entgegenkommen.

Zivilisation, Seefahrt, Kunst und Metallurgie haben in Europa im 3. Jahrtausend auf den Kykladen ihren Ursprung. Ihre Bewohner und Sitten stammen möglicherweise aus dem karischen und anatolischen Kleinasien. Bevor die grossräumigen Staatswesen des minoischen Kreta und des mykenischen Griechenland bestanden, gab es eine Kultur der Inseln. Erst gegenüber Athen und Sparta traten sie wieder an zweite Stelle. Menschen und Handel waren zwischen Kleinasien, den Kykladen und dem griechischen Festland in Bewegung, zunächst langsam, dann anschwellend, um in der Mitte des 3. Jahrtausends mit den Kykladen als Mittelpunkt einen Höhepunkt zu erreichen, den diese später nie mehr erreichten. Zu dieser Zeit hat auch Kreta überseeische Beziehungen mit Aegypten, dem Orient und den Kykladen entwickelt. Die wechselseitigen Kontakte und Einflüsse zwischen Kykladen und Kreta sind anhand von Keramik, Steingefässen und Bronzefunden belegt, insbesondere durch die "Marmoridole", die das eigentlich Charakteristische der Kykladenkultur bilden.

Ausgrabungen in Saliagos (Antiparos) brachten den Beweis für bereits neusteinzeitliche Besiedlung der Kykladen, die im 5. Jahrtausend einsetzte und sich immer mehr verbreitete (nach kalibrierten Radio-Carbon-Daten an Geräten). Schliesslich beweisen Werkzeuge aus Obsidiangestein, in mittelsteinzeitlichen Schichten, auf Kreta und dem griechischen Festland, dass man auf Melos im 7. Jahrtausend bereits Obsidian gewann und übers Meer transportiert hat - der älteste Hinweis auf Seeschiffahrt, den man kennt.(1) Aus all dem folgt, dass die Kultur der Kykladen auf ihrem Höhepunkt eine interkontinentale Welt als Hintergrund hat, und dass die "Idole" nur aus dem religiösen Gesamtcharakter jener Zeit und den möglichen Einflussgebieten zu verstehen und zu deuten sind. Was uns so in der Erfahrungswelt vorgegeben ist, Bild und Zerrbild der Schöpfung, dem suchen wir nun durch die Kultur- geschichtliche Analyse nachzuspüren.

2.1. Tod als Begattung der Grossen Mutter und als Wiedergeburt aus ihrem Schosse

Nach Ch. Picard besteht zwischen Indien, Mesopotamien, Anatolien, Zypern, Syrien und Aegypten eine Affinität der religiösen Auffassung. Becher und Vasen sprechen von einer gegenseitigen Beeinflussung bereits im Chalkolithikum.(2) Nach SCHMID-NOERR sind die Pyramiden und der ägyptische Statuarismus des Kolossalen nichts anderes als die grosse Sorge um den persönlichen Fortbestand über das Grab hinaus. Dieses Anliegen nährt die Bildmagie und die Verfertigung von Amuletten. Der Mensch ist Wesen vom Wesen Gottes, das nach dem Tod auf den Inseln der Seligen wieder aufersteht. Deshalb die Barke als häufige ägyptische Grabbeilage und der Glaube an den Lufttransport durch Horus oder den Ibis des Thot.(3) Auch Pythagoräer, Etrusker und Thraker kennen eine Reise der Verstorbenen.(4) Schon die prähistorischen Menschen bieten genügend Anzeichen dafür, dass sie das Leben hienieden nicht als Letztes betrachteten.

In Rhodos tragen die Abgeschiedenen Vogel- und Schmetterlingsschwingen. Im griechischen Raum kennt man über dem wirbelreichen Ozean ein Paradies der Guten und eine Unterwelt der Bösen im Hades. Ueber Kreta und die eleusischen Mysterien reift der Unsterblichkeitsgedanke zur Vorstellung heran, dass der Mensch "Göttersohn", "Sohn der Erde und des gestirnten Himmels" sei. Aehnlich weisen die Goldmasken von Mykenai auf den übernatürlichen, den Göttern ähnlichen Charakter der Verstorbenen. Der Mensch hat danach höhere Erwartungen, als nur das irdische Leben im Jenseits fortzusetzen.(5)

Orientalische Bilddokumente stellen schon im Neolithikum (7. Jahrtausend) Gottheiten dar, die den Menschen erscheinen. Ueber Jahrtausende wurden vom Euphrat bis zur Donau den Verstorbenen das göttliche Bild der Grossen Mutter ins Grab mitgegeben. In Aegypten finden sich Texte aus dem Alten Reich, wonach der Hingeschiedene in den Schoss der Göttermutter Isis eindringt, um dort wiedergeboren zu werden. Die gleiche Auffassung herrschte in Griechenland, auf Kreta und in Unteritalien. Es gibt minoische und mykenische Bilder der Göttin mit gespreizten Beinen zur Wiederaufnahme der Hingeschiedenen.(6)

Neueste Ausgrabungen frühneolithischer Siedlungen (4. bis 7. Jahrtausend) im kleinasiatischen Catal Hüyük und Hacilar ergaben reiches Material: Darstellungen von weiblichen Figuren mit gespreizten Beinen - dahinter in der Mauer, in einem Fall, die Gebeine eines Neugeborenen und, im andern Fall, mehrere Beisetzungen. Die Göttin schenkt und nimmt zurück. Der Tod erscheint als Begattung der Göttin und zugleich als Wiedergeburt zu neuem Leben des in die Gottheit Zurückgekehrten.(7)

Eine Beeinflussung der religiösen Anschauung der Kyklader durch Kleinasien ist naheliegend. Graffiti zeigen, dass die Kyklader ihren Alltag unter göttlichen Schutz stellten. Zahl der Gottheiten, ihre Kultstätten liegen im dunkeln. Als sicher erwiesen darf der Kult zur Grossen Mutter gelten. Erde, Sonne, Mond, Sternhimmel und besonders das Wasser sind, nach Art der sumerischen Inanna-Istar, Prärogative und Manifestationen der Göttin. Auf Vasen ist diese in der Sonnenbarke fahrend dargestellt. Der Schnabel des Schiffes trägt als Herold den phallischen Fisch.(8) Das Wasser, als das Element der Grossen Mutter, umschliesst das Reich der Toten und Wiedergeborenen, den Ort ewiger Seligkeit.

Die Gräber der Kyklader liegen deshalb am Meer. Wenn immer die Bodenbeschaffenheit es erlaubt, sind sie nach Osten, andernfalls gegen den offenen Horizont gerichtet, um der magischen Kraft zur Auferstehung teilhaft zu werden. Die Gräber sind meistens mit Steinplatten ausgekleidet (Steinkistengrab). In dem relativ kleinen Grab liegt der Tote mit angezogenen Beinen; das Haupt ruht auf einem Steinkissen. Vom Paläolithikum bis in die Bronzezeit wurden die Toten auch anderswo in dieser Hockerstellung bestattet.(9) Ueber jeder positivistischen Erklärung steht als beste Deutung: die Lage des Kindes im Mutterleib. Der Verstorbene soll, um ein neues Leben zu erlangen, in den göttlichen Schoss der Grossen Mutter zurückkehren. Als einfachste Grabbeigaben figurieren auch die Muscheln, ein bis heute bei den Naturvölkern universales Symbol der Vulva (Schoss), in unserem Fall, der Vulva der Grossen Mutter.

Im übrigen stellen die Grabbeigaben keine alltäglichen Gebrauchs-, sondern Wertgegenstände dar: Phallusperle, Stierhorn und Stierfigur als Symbole der Zeugung - wie sie dem Verstorbenen der Göttin gegenüber zugeschrieben wurde - Keramik, Osbidianklingen, Marmorgefässe und -figuren. Die bleiernen Schiffsmodelle zeugen mit all dem Kostbaren für den überweltlichen Charakter des Jenseits. Die kultischen Spendeschalen oder flachen "Kykladenpfannen" mit Sternmustern, Spiralnetzen (wirbelndes Meer) und der weiblichen Scham weisen direkt auf die Göttin. Durch die unter dem Vaginalsymbol angebrachten beinartigen Stiele oder Pfannengriffe wirken die "Syros-Pfannen" figurenartig. Mit Wasser gefüllt und als Spiegel verwendet, erkennt sich der Mensch darin gleichsam im Leibe der Göttin.

2.2. Typologie und Bedeutungsverschiedenheit der "Idole"

Die Marmorfiguren stellen die bedeutendsten, aber in ihrer Bedeutung umstrittensten Grabbeigaben dar. Bereits im 5. Jahrtausend kannten die Ackerbauern in Kleinasien, Griechenland und Südosteuropa die steatopyge Darstellung der Grossen Mutter. Diese neolithische, fettleibige Frauenfigur wird allgemein als mütterliche Gottheit interpretiert. Daneben finden sich gleichzeitig abstrakt schematische Figuren verschiedener Ausprägung. Als gemeinsames Merkmal weisen sie anstelle des Kopfes einen sich oft bis zu einer Spitze verjüngenden Fortsatz des Halses auf, der in Bronzezeit (3. Jahrtausend) phallische Pfeilgestalt annimmt. Zudem lassen diese schematischen Figuren eine ausgeprägte Angabe von Armen und Beinen - die Hauptorgane des aktivistischen Menschen - vermissen. Man spricht deshalb von "Violinfiguren" und in Bezug auf den Fundort auf Paros von Saliagos-Kultur (4800).

Wegen des gleichzeitigen Vorkommens zweifelt J. Thimme (10) an der gleichen Grundbedeutung der Steatopyg- und der Violinfigur mit Recht. K. Schefold zeigt zudem, dass Götterdarstellungen in der Frühzeit nirgends üblich sind.(11) Die während des 3. Jahrtausends entstandenen und verschiedenen Marmorfiguren aus den Gräbern der Kykladen dürften meines Erachtens nicht, wie Schefold meint, Heroen und Nymphen, sondern - was nachher zu begründen und eigentlich sehr naheliegend ist - der grossen Mutter Progenitur (Nachkommenschaft) sein, die sich auf die Wiedergeburt zu einem neuen göttlichen Leben rüsten.

Violin- und Achter-Figuren finden sich später wieder in der frühen Bronzezeit auf Naxos, Paros und Amorgos (Grotta-Pelos-Kultur, 3200-2700). Diese abstrakt schematischen Ausprägungen leiten sich wohl von Natursteinen her. Heute noch wird der Reisende von dem fantasievoll gerundeten, strahlend weissen Marmorgeröll der Kykladenstrände fasziniert. Aus der Begegnung des Meeres mit dem Land, aus ihrer Vermählung und stürmischen Umarmung werden durch Erosion die Urformen des Inselmarmors geboren. Manche dieser merkwürdigen Steine sehen den einfach stilisierten Gebilden von Menschen ähnlich, die vor 5000 Jahren auf den Kykladen den Toten ins Grab gelegt wurden.(12) Menschenhand konnte solche "Kinder" der Meeresgöttin vervollkommnen und gerade unter dieser Bedeutung als Symbol potentieller Neugeburt den Verstorbenen ins Grab mitgeben. Man konnte damit sagen, dass, ähnlich wie der Stein auf den Menschen, der Mensch auf Gott angelegt sei.

Weil die Strandkiesel beidseitig schon geglättet sind, ist die Weiterbearbeitung wesentlich erleichtert. So wurden vor mehr als 5000 Jahren in grosser Zahl Amulette und kleine Standbilder angefertigt, auch von der Grossen Mutter, wohl immer mehr aber vom heimkehrenden Menschen selbst, als Pfeil der Hoffnung, als inchoativer Teilnehmer des neuen, höheren göttlichen Lebens. Ob beide Gestalten (Grosse Mutter und die zu ihr heimkehrende Wiedergeburt) in einer Figur - nach ägyptischer Anschauung keine Unmöglichkeit - bleibe dahingestellt. Jedenfalls konnte dieses Symbol den Lebenden als kraftspendendes und Zukunft verheissendes Zeichen dienen.

Stab- und Pfeilköpfe sind das primäre und dekadieren erst später zu Rundköpfen. Der altsteinzeitliche Brauch, dem Verstorbenen den Schädel zu zertrümmern, könnte die Entsicherung des geistigen Pfeiles zum Flug ins Transzendente bedeuten. Figuren von mehr als 20 cm Höhe waren damals wegen der primitiven Werkzeuge seltene Ausnahme. Als Schmirgelstein diente Korund, dessen Härte nur vom Diamant übertroffen wird. Trotzdem liegen hier nicht nur die Grundlagen für eine hochentwickelte Bildhauerei, sondern wohl auch der erhabene Ausdruck einer religiösen Anthropologie.
Neusteinzeitliche "Grosse Mutter" Gottheit (Griechenland).   Vielleicht androgynes Idol mit phallischer Kopfform.

Neben den Violinfiguren finden sich gleichzeitig Typen mit mehr naturalistischen Details (Plastiras) und Figuren mit Armstummeln und einem grossen, aber nasenlosen Kopf (Louros). Das Ergreifende an diesem Typ ist das, auf hochragendem Hals sitzende, einem nach oben geöffneten Gefäss vergleichbare Haupt. Mit diesem Symbol des nach oben offenen und harrenden, aufnahmebereiten Gefässes ist wohl des Menschen wesentliche Haltung überhaupt getroffen.

Mit der Entdeckung von Metallwerkzeugen - wie etwa des Bronzemeissels - in der Keros-Syros-Kultur (2700-2100) nehmen die Möglichkeiten der Bildhauerei erheblich zu. Aus einer künstlerisch und religiös einmaligen Inspiration entstand die zahlen- und grössenmässige (bis 1,50 m) Hauptproduktion der frühkykladischen Kunst, die einen oder den Höhepunkt in der Geschichte der Bildhauerei überhaupt bildet. Wegen seiner über Jahrhunderte verbindlichen Gestalt wird dieser verbreitetste und vollkommenste Typ als kanonisch bezeichnet. Er zeichnet sich durch fliessende Konturen, durch eine den Körper ganzheitlich beherrschende Stromlinie aus. Diese erlaubt dem Körper weder zu stehen noch zu liegen, sondern sie macht ihn durch die abwärtsgerichteten Füsse und durch die deutlich angezogenen Knie und den zurückgelegten Kopf zum Aufwärtsschweben oder zum Zerteilen der Meeresflut geeignet.

Die an die Taille bündig vor den Leib gelegten Arme - Beispiel von Al'Ubaid, typische Haltung der Toten in Aegypten - unterstützen diesen Eindruck. Die Figuren sind nackt, weiblichen Geschlechts und bis 1,50 m gross, während die Vorgänger nur selten 30 cm erreichen. Minimale Durchbrüche zwischen Armen und Körper und zwischen den Beinen geben Tiefe und Räumlichkeit. Das konvexe Gesicht ist nur durch die lange, hervorspringende Nase, die unserer Auslegung sehr entgegenkommen wird, charakterisiert.

Die stilistische Ausformung wechselt nach Generation und Inseln: sie ist bald flacher und eckiger oder runder und voluminöser, auf einer Insel abstrakter, dort naturnäher. Man unterscheidet deshalb fünf Varianten des kanonischen Typs. P. Preziosi entdeckte, dass beim Entwurf der Kanonischen, bereits 2000 Jahre vor der griechischen Klassik, feste Massverhältnisse benutzt wurden. Bei aller Variation liegt doch ein einfaches, strenges Grundmodell von höchster Durchsichtigkeit vor. Diese schwebenden Körper nehmen irgendwie Profil des gekreuzigten und auferstandenen Corpus Christi vorweg. Wie sehr auch die fehlende Ueberlieferung uns über Bedeutung und Funktion der "Idole" im dunkeln lässt, so überzeugend dürften diese aus der schlichten, hinreissenden Wesenhaftigkeit dieser Kunstwerke hervorgehen.

2.3. Eine kritische Ueberlegung zur hermeneutischen Methode

Einem Kunstwerk wird man kaum aus dem gerade herrschenden Zeitgeist gerecht werden können. Ohne die äussern Faktoren zu leugnen, ist einem sakralen Kunstwerk - wie die "Idole" es sind - seine existenzbegründende Idee zurückzugeben. Grosse Archäologen - wie Thimme und Zervos - gehen über das Registrieren und Aesthetisieren hinaus. Um nicht Gefangener eines angelernten, materiellen Standpunktes zu bleiben, gilt es, auf die Phänomene wirklich einzugehen. Aber wie diese Kunst das Aeussere zurücklässt, so verzichten wir auf die formalistischen Transkriptionen.

Die Deutung der "Idole" hat wie kaum etwas den Archäologen Kopfzerbrechen bereitet. Zur Erheiterung und Belehrung nach vielen verzweifelten Versuchen: eine verzweifelte Wortanalyse. "Idol" rückläufig gelesen heisst "Lodi":eine lombardische Stadt. Dort hebt als Kriegermonument eine grosse Mutter ihr Kind zum Himmel. Hier wird zufällig die Lösung unseres Problems angedeutet.

Frühkykladische (ca. 3000 v. Chr.) "Violinfigur".   Der oft dabei vorhandene stabförmige Kopf dürfte phallische Bedeutung haben.

Der gesunde Geist verschreibt sich nicht einseitig einem Prinzip. Anstatt nur die Grosse Mutter zu sehen, ist es in unserem Fall naheliegend, dass auch die von ihr Geborenen oder Wiederzugebärenden Objekt der symbolschaffenden Sakralkunst sein können. Beim lebendigen Unsterblichkeitsglauben der antiken Religion muss mit dem Hinweis auf die Verbindung Diesseits-Jenseits gerechnet werden. Der Mensch lässt sich nicht durch eine Existenzform, sei es nun die diesseitige oder jenseitige, konfiszieren.

Studierte sie am "Idol" bloss den formalen Aspekt, ginge auch die akademische Archäologie unserer Zeit an der Wirklichkeit vorbei. Gerade die formale revolutionäre Neuigkeit der "Idole" weist auf eine, den äusseren Regeln und historisch bedingten Faktoren übergeordnete, geistige und mystische Idee und Motivation. Die kykladischen Künstler zeigen den Menschen in seiner materiell-spirituellen Verfasstheit, in seiner Hoffnung auf ein universales und erhöhtes Dasein.

Das kykladische "Idol" bietet die Diesseits und Jenseits umfassende Ganzheitsvision, in der bereits Aktuiertes und Potentielles sich in harmonischer Spannung halten. Die minuziöseste Beschreibung des "Idols" ist nutzlos, wenn uns die Deutung dieses Potenziellen entgeht, beispielsweise das durch die Sprungstellung der Füsse Angedeutete, oder die finale Perspektive als eines entgleitenden, oder vom Irdischen entkleideten Wesens.

Ist die hier angewandte Methode, nach der geistigen Potenz zu fragen, unhistorisch, unzünftig? Nur scheinbar, denn sie berührt lebhaft das historische Werk und das ursprüngliche Erlebnis, aus dem jenes hervorging. Beim heutigen Uebergewicht des Technischen übersieht man leicht, dass der Antrieb zur Kunst in der transzendierenden Aspiration nach dem Spirituellen und Heiligen liegt. Unser pragmatischer und materialistischer Zeitgeist erfährt durch die alle ästhetischen Schulbücher zurücklassenden "Idole" seine Korrektur.

2.4. Das "weibliche Idol" ist das enfant terrible der Archäologen und heisst, und ist in Wirklichkeit - ein Androgyn

Die Bedeutung der "Idole" ist immer noch umstritten. Man dachte schon, in Anlehnung an Mesopotamien und Aegypten, an Konkubinen (Uschebtis), am häufigsten jedoch an Grosse Mutter und Fruchtbarkeitsgottheit. Erst in jüngster Zeit wird die Hypothese von der Göttin mit Recht lebhaft bestritten. Die Grossschrift und anderseits doch nur die schematische Andeutung des weiblichen Schosses zeugt von vitaler Kraft und zugleich von einer, in der grossen Sehnsucht des Geistes überhöhten, Geschlechtlichkeit. Die Brüste sind nur angedeutet. Beides passt weder zur Konkubine noch zur Fruchtbarkeitsgöttin. Dass Mann und Frau im selben Schema dargestellt werden, weist bereits auf androgyne (mann-weibliche) Integrierung.

In den spätern Mysterien des Seelenbefreiers Dionysos ist die aus dem Tod des Leibes neuentstehende Seelengeburt zur Unsterblichkeit ein androgyner Mensch. Es geht nachweisbar auch bei den "Idolen" um den ganzen oder androgyn integrierten Menschen. In Athen findet sich ein "Idol" mit langem Hals und phallischem Schlangenkopf und weiblichem Schamdreieck. Auch der kanonische Typ mit seinem männlichen Kopf und weiblichen Schoss ist androgyn zu verstehen. Ein in die symbolische Herzform (antikes und frühchristliches Symbol der Unsterblichkeit) integriertes kykladisches Ornament lässt Gonaden und männliches Glied und zugleich, in einem, bipolares Becken und Vulva erkennen. Aehnlich vermögen alle Figuren mit Pfeil- und Stilköpfen und weiblicher Scham androgyn gedeutet zu werden. Selbst die Vorderansicht des kanonischen Antlitzes kann als Penis und Vulva - besonders bei dreieckiger Kopfform -, in einem interpretiert werden. Dies alles ohne potenzierte Sinnlichkeit oder Sinnenkitzel als Vorbild der spätern hellenischen, exemplarischen Seelenhaltung und androgynen Lebensbewältigung.

Frühkykladische "Louros" Typ mit weiblichem Schamdreieck und phallischer Kopfform (0,14 m und 0,19 m).

Mit der Einheit: Geringe Mittel und hervorragende Wirkung - Einfache Form und Höchstmass des erhabenen Ausdrucks, ist bereits, wenigstens potenziell, die spätere Lehre von der Kalokagathia, des schön-guten Menschen ausgesprochen, als Sieg des geistigen Menschen über die dämonische Urgewalt der Natur- kräfte. Von dem aus dem Reich der Mütter gesandten Hermes, dem Verkünder der Ueberweltoffenbarung, heisst es, dass der Tod ihn locke, als Ueberführer ins Hadesgeheimnis. Ein Aspekt dieses Geheimnisses war in der Frühzeit und ist es heute noch: unsere seelisch androgyne Integrierung in Gott, die uns im Jenseits jedes geschlechtlichen Bedürfnisses enthebt.

Der Umstand, dass die Grabfiguren der Kyklader auch kleinen Formats und trotz ausreichendem Grabraum für das Grab absichtlich zerbrochen oder unvollständig als Torso oder als einzelnes Bruchstück ins Grab gelegt wurden, spricht ebenfalls gegen die Hypothese der Konkubine und Göttin. (13) Es ist unwahrscheinlich, dass das Bild der Göttin in diesem Zusammenhang willkürlich zerstört werden konnte. Weil es zudem erwiesen ist, dass die Kyklader keine Kultbilder kannten, sind die "Idole", nach den Eigenschaften der Plastik zu schliessen, auf den in den Schoss der Grossen Mutter durch das Meer zurückkehrenden Menschen zu deuten. Mit dieser Annahme lösen sich auch die andern, der Grossen Mutter nur rätselhaft angelasteten, Umstände.

Eine mütterliche Fruchtbarkeits- und Vegetationsgottheit dürfte nicht ohne stehende oder liegende Beziehung zum Erdboden sein oder, anstatt die gelöste und empfangsbereite, jene strenge Haltung der Arme aufweisen. Auch sonst differieren die "Idole" von der neolitischen, anatolischen und orientalischen Grossen Mutter, die, Brüste pressend, stark übertriebene weibliche Züge aufweisen.

Ebensowenig ist das sogenannte "Streudepot" von zahlreichen Figurenbruchstücken, die in der Nähe von Gräbern auf Keros und auf Konphonisia in den Boden gesteckt wurden, in der Annahme eines Götterbildes verständlich. (14) In unserer Annahme indessen lässt sich das "Streudepot" ganz sinnvoll, sei es als Massen- oder Armenfriedhof, oder als symbolische Bestattung jener verstehen, die im Meere, oder durch wilde Tiere, oder in der Fremde umgekommen sind. Das Figurenbruchstück, aber auch die absichtlich zerbrochene Figur, hat ja auch für die Begüterten, die sich mit dem Grab je nach Mittel ein ganzes oder nur bruchstückhaftes "Idol" leisten konnten, den symbolischen Sinn von der schmerzlichen Zerstörung des Todes und der wunderbaren Reintegrierung, die jedoch allein die Gottheit schenken konnte.

Die absichtliche Zerstörung der Figur hat zudem den tiefen Sinn von der Unvorstellbarkeit der jenseitigen Verwandlung; ähnlich die gleichzeitig immer noch erscheinenden schematischen Figuren, deren langer Stabhals keine bestimmte Konkretion in einem abschliessenden Kopf findet. Im gleichen Sinne spricht die götterbildlose Welt auch andere Kulturvölker (Kreta, Israel) für sich. Sinnengötter streben nach leiblicher Sichtbarkeit. Der Gott des Geistes und des Seelischen bleibt im Unsichtbaren verborgen.

Nach unserer Hypothese, verbunden mit der Annahme von Familien- und sukzessivem Mehrfamiliengrab, sind auch die Doppel-"Idole" als neben- und übereinanderstehendes Paar mit weiteren Figuren - bis 14 Exemplare - besser zu verstehen. Beim damalig gefahrvollen Leben dürften Generationenablösung und Todesfälle sich häufiger ereignet haben. Religiöses und materielles Vermögen waren wohl entscheidend, ob eine qualitätsvolle Figur, die sogar bemalt sein konnte (Augen, Mund, Diadem) oder natürliche Strandkiesel, oder überhaupt keines von beiden, beigegeben wurde.

Nach dem gleichen Vermögen richtete sich wohl der Umstand, ob mit den kanonischen Figuren marmorne Harfen- und Flötenspieler dem Verstorbenen beigegeben wurden. Solche Spielfiguren gibt es in den zwanzig, "Idole" in den Hunderten. Das zum Himmel gerichtete Antlitz der ganz der Musik hingegebenen Harfenspieler zeugt von der transzendierenden Funktion ihrer Musik. In den Königsgräbern von Ur (3. Jahrtausend) fand man Harfen auf den Körpern von Toten. Vasenbilder zeigen den Grabkult in Verbindung mit Musik. Diese dürfte in der orientalischen Vorstellung für ein festliches Weiterleben zeugen. In Sumer traten zum Hierosgamos (Vermählung zwischen Gottheit und Mensch) Harfenspieler auf. Offensichtlich musizieren diese auch für die Kyklader zur Vermählung des Abgeschiedenen mit der Grossen Mutter.

Frühkykladische Vase.   In andern Varianten noch deutlichere Menschenkopfform (0,25 m).

Warum weisen aber die Musizierenden eine detaillierte, naturnah rundplastische Gestaltung auf, obwohl sie doch auch mit den Kanonischen der gleichen Keros-Syros-Periode entstammen ? Die Antwort auf diese Frage bestätigt unsere Auslegung der "Idole". Die Eigenart der Kanonischen entspringt nicht so sehr einer damals allgemein herrschenden Stilperiode, sondern ihrer einzigartigen Funktion als sich Hinüberbewegende.

2.5. Die kykladische Nase als Organ der Wiederbelebung

Die kanonischen Figuren sind vor allem durch Kopf und Nase charakterisiert, deren herrlich geschwungene Kurvatur sich dem Himmel entgegenhebt und sich durch den ganzen Leib fortsetzt. Man hat schon gesagt, die "Idole" seien mehr von einer haptischen (tastenden) als optischen Vorstellung geprägt. Man kann sich fragen, ob sie nicht von einer noch subtileren Kraft bestimmt werden: vom Lebenshauch, vom schwebend Atmosphärischen. Der schlanke, nur durch die markante Nase ausgezeichnete Kopf hat wenig Beziehung zum natürlichen Antlitz. Die Sehweise entspricht dem Vorgang der Neugeburt, einer in Kunstform umgesetzten Auferstehung.

Nach der Bibel "schwebte der Atem Gottes über den Wassern" (Gen 1,2), und Gott "hauchte (dem Menschen) den Atem des Lebens in die Nase" (Gen 2,7). Ps 104,29f. spricht deutlich aus, dass die Lebewesen in ihrem Dasein stets von Gott abhängig sind: "...ziehst du ihren Hauch (ruham) ein, so verscheiden sie und kehren zum Staub zurück. Sendest du deinen Atem aus (ruhacha), so werden sie geschaffen und du erneuerst das Angesicht der Erde." In Ps 33,6 heisst es: "Durch das Wort Jahwes wurden die Himmel geschaffen und durch den Hauch seines Mundes ihr ganzes Heer." Der Hauch des Mundes als Wort hat einen unkörperlichen Inhalt, und so kommt man zum Geiste als dem aktiven Prinzip des Lebens.

Die Auffassung: Atem oder Hauch als Symbol des Lebens kann in der vorderasiatischen Welt überall beobachtet werden. Im Akkadischen ist mehrfach vom guten Lebenshauch die Rede, den Marduk spendet. Der Betende ruft: "Ich möge leben durch deinen Odem." Dass die Vorstellung vom Lebenshauche auch in der Anschauung der Assyro-Babylonier herrscht, geht aus den vielen mit "Hauch" zusammengesetzten Eigennamen hervor: "Gut ist der Hauch Asurs", "Gut ist der Hauch meines Herrn", "Gut ist der Hauch Gottes"...

Wenn nun die Frage gestellt wird, von wo die Vorstellung vom Lebenshauch ausgegangen sei, muss man auf Aegypten als Ursprungsland hinweisen. Wo man dem Leben nach dem Tode soviel Aufmerksamkeit schenkt, wird man auch vernehmen, auf welche Weise das göttliche Leben mitgeteilt wird. Die Antwort auf die Frage: Wie geht die göttliche Lebenskraft auf den Menschen über, lautet, wie es später auch die Bibel ausspricht: Durch die Nase !

Ein ägyptisches Grusswort heisst: "Der Atem des Re werde deiner Nase zuteil..." In einer Grabinschrift aus der Zeit Tutmosis III. ist die Rede vom "Herr des Atems der ihn zu den Nasen bringt". Der Sonnengott wird angesprochen: "Indem unzählige Leben in dir sind, um sie zu beleben mit Lebensodem in ihrer Nase." Von Schu heisst es: "...der die Nasen atmen macht, durch den alle Menschen leben..." Isis sagt: "... Ich gebe Wind in deine Nase..." Die Hofleute sprechen zum König: "Chnum... der Luft in alle Nasen gibt...." In der Klage eines ägyptischen Bauern findet sich das Sprichwort: "Rechtes tun ist Atem für die Nase." (15)

Der am weitesten verbreitete frühkykladische "kanonische" Typ (Naxos), 0,37 m.

Zur Wiederbelebung des toten Königs Sethor I. spricht Thot: "Ich gebe dir Leben in deine Nase...." (16) In einem Lied an den ägyptischen Erdgott heisst es: "Du atmest die Luft aus, die in deiner Kehle ist, in die Nasen der Menschen - wie göttlich ist das, wovon man lebt." (17)

Indem nun der kykladische Bildhauer allein die Nase am Haupte seines Bildwerkes hervorhebt, dürfte dieser Umstand nur zu jenem Zustand passen, in dem einem Menschen (dem Verstorbenen) alles überflüssig wird mit Ausnahme eben der Nase als des Organs des wieder zu empfangenden Lebens. Ist nun zudem der Lebenshauch (Geist) im Orient - im Unterschied zum späteren griechischen und lateinischen Geist - weiblichen Geschlechtes, könnte das durch den Lebensatem neu erstandene Wesen mit dem Signet des Weiblichen gekennzeichnet werden. Der Verlegenheit über das weibliche Geschlecht der "Idole" dürfte aber wohl noch zutreffender durch die Entdeckung ihres androgynen Charakters abgeholfen werden, einer Vollendung, die dem neuen jenseitigen Leben entspricht. Gottes Geist selbst entspricht dem Weiblichen!

2.6. Der anthropologische Pfeil ins Ganze und ins Göttliche

So eindeutig nach allen bisherigen Beobachtungen die Anfertigung der kykladischen Figuren für das Grab erscheint, so sicher weisen sie über dieses hinaus. Als rein natürlich diesseitige ist diese kykladische Figur nicht zu verstehen, weil sie weder liegt noch steht, sondern schwebt und nur eine dynamische Beziehung zum Boden hat. (18) Es ist der ins innerweltlich und überweltlich Göttliche, verlängerte, finale Mensch. Der stromlinienhaft, fischartig abgeplattete Leib ist zum Sprung, zum Flug und zum Zerteilen der Meeresflut geeignet.

Diese kanonischen und schematischen Figuren entziehen sich zwar dem Unbeständigen und Zufälligen, nicht aber dem beweglich Wandlungsfähigen. Wie die ägäische Keramik ins Theriomorphe (Tierähnliche), so wächst der kykladische Mensch, nach dem durchscheinend Ewigen und Bereinigten seiner "Idole" zu schliessen, in die göttliche Verklärung. Der preisgekrönte, moderne Physiker Walter Heitler vermag die zunehmende Vergeistigung in den aufsteigenden Bereichen der Natur als innere Ausrichtung auf jene gnadenhafte Verklärung des Auferstehungsleibes zu sehen. (19)

Die "Idole" negieren nicht das Leibliche, sondern führen uns in seine letzte Möglichkeit und Wirklichkeit. Sie manifestieren seine spirituelle Intensität und die Möglichkeit seiner göttlichen Verklärung. Der stilisierte Leib mit dem gefühlvoll erhobenen Antlitz und der betonten, und doch transformierten Nacktheit, zeugt von sehnsüchtiger Begierde und sublimer Beschaulichkeit, von Bedürfnissen des Gemütes und rationaler Durchdringung, von Fantasie und geistiger Ordnung. Das sind anscheinend Widersprüche. Und doch erfährt die Antinomie und Aporie (Widerspruch) nur jener, der, anstatt sich dem Ganzen zu öffnen, der Einseitigkeit verfällt und den einen Teil zum ausschliesslichen Gegensatz verschärft. In der natürlichen Zwei- und Vieleinheit stehen die Pole in Einklang und bestärken sich, anstatt sich gegenseitig auszuschliessen.

Zur Illustrierung dieser integrativen Weltanschauung kennt die kykladische Ornamentik das Spiralmuster. So weist eine "Kykladenpfanne" eine zentrale Spirale auf (die Gottheit?), die in einen Ring von sieben kleinern Spiralen überläuft (die Zahl 7 war bei den Babyloniern ausdrücklich Symbol der Gottheit). Jedes Glied dieses Ringes läuft seinerseits auf gleiche Weise auf die beiden Nachbarspiralen über und zugleich auf drei Spiralen eines weiter nach aussen liegenden Ringes von 14 noch kleineren Spiralen: ein Bild der biologischen und moralisch-geistigen Oekologie des Kosmos. Unter anderem enthüllt sich darin das Gesetz, dass der Grössere und Mächtigere um so mehr die Verantwortung hat, für den ihm untergeordneten Schwächeren dazusein. Am Griff und entlang der Einfassung als Kerbschnittsaum: eine, wenn auch entfernte Anspielung an das später in Indien verbreitete Yantra von Shiva und Shakti, das Symbol des auf- und absteigenden Dreiecks als Integration von Himmel und Erde und aller Gegensätze.

Frühkykladischer Harfenspieler (Keros), 0,22 m.

Die Stärke der kykladischen Kunst liegt, nach J. Thimme, in der kühnen Umsetzung von religiöser Erfahrung in die suggestive, ausdrucksvolle Kunstform. Eine geistig religiöse Anregung aus dem Osten ist leicht möglich, doch für die Umsetzung ins Bildnerische gab es keine Vorbilder. Dieser Höhepunkt in der Aegäis hat vielleicht später das Einmalige in der griechischen Kunst aus der Tiefenschicht genährt: die klare strenge Form und den Sinn für Proportionen.

Natur und sinnfällige Wirklichkeit sind auch in der edlen ägäischen Abstraktion nicht negiert, sondern durch die unsichtbar machtvolle Präsenz des Göttlichen aus ihrem Wesen her verklärt und zu einem künstlerischen Höhepunkt geführt. Noch zu etwas anderem wurde hier der Grund gelegt, ohne das die klassische Kunst Griechenlands nicht wäre, was sie ist: der Verweis auf das Göttliche, als Ausstrahlung leiblicher Schönheit.

Die Kyklader setzen sich nicht vom 20. Jahrhundert ab, sondern dieses setzt sich vielmehr von ihnen ab, durch seine einseitige Diesseitigkeit, seine Masslosigkeiten im Aktivistischen, im Materiellen und im Sinnlichen. Unsere Vernebelung und Verunsicherung steht im Gegensatz zu ihrer Wahrhaftigkeit. Aus ihren Werken spricht noch das göttliche Urbild des Menschen von Hoffnung und Lebenssinn. Obwohl 5000 Jahre dazwischen liegen, fliessen ihre offene und unsere geheime Sehnsucht nach ausgeglichener Ganzheitlichkeit in eins.

Wieder einmal ist die Kunstgeschichte anhand der ältesten Kunstwerke Europas aufgerufen, sich ins Heilsgeschichtliche zu überwinden. So oder so sind die Kykladen mit ihren Auferstehenden das erste Patmos mit der andern Geheimen Offenbarung für alle Zeiten.

Anmerkungen:

3. GÖTTLICHES IN KUNST, PHILOSOPHIE UND MEDIZIN DER GRIECHEN

Nicht nur der Rufname "Sophie", auch das Wort von der "Sophia", von der Weisheit, ist in unserem Zeitalter der Maschinen seltener geworden. Anstelle der Weisheit trat die Macht. Diese Umstellung hat auf tragische Weise unsere Zeit geprägt. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts sollte zu einer Selbstbesinnung führen.

Eine Gesellschaft, die meint, man erneuere mit unseren "Olympischen Spielen" das, was die Griechen mit ihren Spielen wollten und vollbracht haben, gibt sich einer Täuschung hin. Die Griechen wollten nicht, wie die heutigen Menschen, die Erde materiell beherrschen. Aber sie besassen eine geistige Führung in der Weisheit ihrer Mythen, und diese kam als untrennbare Einheit von Leibesübung und Geisteshaltung, von Religion und Kunst, von Wissenschaft und Politik zum Ausdruck.

3.1. Zerstörung und Heilung

Der Schöpfungsmythos der Griechen zeigt, dass auch ihnen die geordnete Vieleinheit nicht in den Schoss fiel. Wohl herrschte von Anfang an das göttliche Modell der Triade in Uranos (Himmel), Gaia (Erde) und Tartaros (Unterwelt). Aus dieser gingen drei aufeinanderfolgende Göttergeschlechter hervor, die sich jedoch gegenseitig grausam bekämpften und die Erinnyen, oder Rachegeister, ins Dasein riefen. Von dieser tragischen Welt mag der Ausspruch Heraklits inspiriert sein, wonach der Krieg der Vater aller Dinge sei.

In Herakles bewunderten die Griechen ihren volkstümlichsten Helden. Zwischen Gut und Bös, Tugend und Laster gestellt, folgte der Zeussohn in weiser Entscheidung dem Ruf des Göttlichen und sagte den Blutsgewalten den Kampf an. Der Scheiterhaufen bezeichnet nur sein irdisches Ende. Er erfährt das schöpferische "Stirb und Werde", das ihn zum Olymp in den Kreis der Götter entrückt.

In der erhabensten Heroengestalt des Orpheus vollzieht sich die Verbindung des Göttlichen mit dem Naturhaften. Kein Wesen, weder Stein noch Pflanze, weder Tier noch Mensch, nicht einmal die Unterwelt, kann sich seiner musischen Weltharmonie entziehen. Als Sohn Apollons ist er Begründer der Mysterien und ihrer Weisheitslehren und gilt als Heiler. Unter allen Mysterienorten Griechenlands gilt Delphi als der hervorragendste. Seine Gründung liegt in der Vorgeschichte Griechenlands. Delphi wurde von den Griechen niemals anders aufgefasst denn als Heilstätte, nicht für physische Krankheiten, sondern für den Geist und dessen Erkenntnis. Apollon gilt als der heilende Gott.

Ihm entspricht im Bereich der leiblichen Gesundheit sein Sohn Asklepios und dessen Tochter und Gefährtin Hygieia. Mit der Schlange des Asklepios, dem Sonnen- und Weisheits-Symbol, wird die Einheit und die Beziehung zum apollinischen Bereich des Geistes angedeutet. Kurz nach dem Tod des grossen Arztes Hippokrates wurde im Haine des Apollon Kyparissios ein Asklepios-Heiligtum gegründet. Um 300 v.Chr. gab es schon die inschriftliche Aufzeichnung der "Heilungen des Apollon und Asklepios". (1)

Geographisch liegt Delphi im Herzen Griechenlands. In dieser von der Welt abgeschlossenen Gebirgslandschaft türmen sich die Felsmassen bis zu den sich 2500 Meter erhebenden Gipfelhöhen des Parnass. Der alte Weiheort mit dem späteren Tempelbezirk liegt auf 1000 Meter Höhe. Das ist der geeignete Ort für die apollinischen Naturmysterien. Ihnen entspricht eine, der Wirkungsweisen der Natur abgelauschte, Elementarweisheit. Welche zünftige Philosophie der Neuzeit wäre bei der Naturwissenschaft in die Schule gegangen? Aus geisteswissenschaftlichem Prestige übersah man die Natur mit ihrer Materie und erntete dafür Hybris und falsche Absolutheit.

3.2. "Erkenne dich selbst"

Die Pythia empfing als Priesterin des Gottes die prophetischen Bilder entweder durch die aus dem Gebirgsschlund aufsteigenden Nebeldämpfe, die von den Sonnenpfeilen des Apollons aufgelöst wurden, oder aus dem Tiefschlaf, in den sie zu bestimmten Mondphasen verfiel. Was sich so symbolisch in Luft und Licht abspielte, war ein Kampf der Elementarkräfte, von naturschaffenden und zerstörenden Kräften, ein Weltenkampf zwischen dem Sonnengöttlichen und seinem Widersacher, dem Drachen. (2)

Ein Symbol der inneren Reinigung war das Besprengen mit dem "Weihwasser" der Kastalia. Aber "irret euch nicht", rief die Pythia den Pilgern zu, "den Guten genügt ein Tropfen der heiligen Quelle, aber den Bösen wäscht kein Meer den Schmutz der Sünde weg". Indem Orpheus durch Spiel und Gesang die wilden Tiere besänftigte, wurde darauf hingewiesen, dass jener, der im tieferen Sinne erkennen will, die Triebe und Leidenschaften in sich besiegen muss. Das musische Lied des Apollon bewirkte den harmonischen Einklang der Seelenkräfte, Denken, Fühlen und Wollen mit dem geistigen Kosmos. Deshalb war Apollon der Heiler der in Unordnung geratenen Seelen. Erst im Gleichmass der Seelenkräfte wird der Mensch des Fragens und des Empfangens einer pythischen Antwort würdig.

Am Apollon-Tempel in Delphi standen drei Anrufe: 1. "Du bist." Die Seele antwortete: "Ja, ich will sein!" 2. "Nichts zuviel", und die Seele antwortete: "Ja, ich will Mass halten!" 3. "Erkenne dich selbst", und die Seele antwortete: "Ja, ich will mein Selbst erkennen!"

Der Myste (Eingeweihter eines Mysterienkultes) vermag in sich ein höheres <Selbst> zu entdecken, das über die Grenzen seines sinn- lichen. Werdens hinausreicht. Es ist vor meiner Geburt und wird nach meinem Tode sein. Meine individuelle Persönlichkeit ist ein Geschöpf dieses höheren <Selbst>. Aber es hat sich in mich einge- gliedert. Es schafft in mir, und ich bin nur ein Instrument dieses Göttlichen. (3) Ein Paulus wurde in diesem Zusammenhang zur Aussage geführt: "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir."

Der in die apollinischen Mysterien Eingeweihte schaute die innere Sonne, des Menschen Ursprung und Abstammung aus dem Reich des Göttlichen. An den delphischen Festspielen fanden neben den körperlichen auch Wettspiele für Gesang und Dichtung statt. Die Sieger wurden mit Lorbeerkränzen geschmückt, weil im Lorbeerblatt das Ineinanderwirken von Luft und Licht symbolisch die Vermählung von Natürlichem und Göttlichem darstellt.

In den dionysischen Mysterien zu Eleusis dürfte die Entwicklung des jüngeren Dionysos, der dieses höhere Ich-Bewusstsein noch nicht besass, zum älteren Dionysos oder zu einem solchen, der es besass, dargestellt worden sein.

In den Satyrn, Faunen, Panen, die den Dionysos begleiten, hat das Bewusstsein noch nicht umgestaltend gewirkt.

Diese Gestalten sind von anthropologischer Bedeutung. Es gab sie wohl in der chthonischen Urbevölkerung, im pelasgischen und atlantischen Zeitalter und dürfte sie heute immer noch geben. Beide Gestalten, der jüngere und ältere Dionysos, vermögen sogar im gleichen Menschen zu leben. In Platons "Gastmahl" wird Sokrates wegen der Hässlichkeit seiner äusseren Erscheinung und der Schönheit seiner edlen Seele mit Silen, dem Lehrer des jüngeren Dionysos verglichen, der, als Ausbund von Hässlichkeit, eine weise und edle Seele besass.

3.3. Kunst als Vorahmung der Philosophie

In der griechischen Kunst wird die menschliche Gestalt zum Ausdruck des Göttlichen. Damit ist gesagt, dass sich der Mensch nicht selbst genügt, dass er Glied des Kosmos ist, das der Einordnung ins Göttliche bedarf.

Bereits der vorzeitliche Mensch erlebte seinen Lebensrhythmus im Zusammenhang mit dem Lauf der Gestirne und wusste sich dem Göttlichen verpflichtet und verwandt. Aus der Erfahrung der Abhängigkeit und aus dem Bedürfnis nach komplementärer Ergänzung konnte die Zickzacklinie oder das Motiv des auf- und absteigenden Dreiecks entstehen. In Indien wurde dieses zum Yantra der Einheit von Himmel und Erde und aller Gegensätze. Diese elementare Symbole der Integration erschienen später als geometrische Ornamente auf der frühgriechischen Keramik. Ein besonders urtümliches und inhaltsreiches Motiv ist die Rautenform in ihrer Bedeutung von Mutterschoss, Wiedergeburt, Auge Gottes und Einheit der Gegensätze. Ein anderes ausdruckstarkes Symbol der komplementären Ergänzung und des Auf-einander-Angelegtseins der Dinge ist der Mäander. In ihm greifen das Konvexe und Konkave oder konkreter, das Männliche und das Weibliche und demgemäss alle Gegensätze hilfreich ineinander.

In einem Aufsatz über Winkelmann sieht Goethe den Menschen auf den Gipfel der Natur gestellt, von dem aus er sich zum höchsten und göttlichen Gipfel der Kunst erhebt, in der Vergangenes und Künftiges inbegriffen sei: "Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben." Damit ist das Göttliche im Menschen als ihm geschenkt oder als Gnade bezeichnet. Dieser Gedanke Goethes kann im Aufbau des griechischen Tempels gesehen werden, der ein Dreieck über dem Viereck, das heisst das Göttliche in und über dem Menschlichen und Natürlichen darstellt. Das Viereck war immer schon und überall, in Rom, in Indien und in China, Symbol für die Welt, während das Dreieck als Ausdrucksform des Göttlichen galt.

Das Vorstellungsleben der Griechen war naturgebunden, und das um so mehr, je weiter man zurückgeht. Es war eng verknüpft mit dem Lauf der Sonne, die hier wie anderswo als Bild der Gottheit galt. Die drei Phasen des Aufgangs, des Höchststandes und des Untergangs spiegeln sich beispielsweise im Ostgiebel des Parthenon.

Der Bildhauer Pheidias hob nicht nur die einzelnen menschlichen Gestalten ins Göttliche, sondern liess dem an sich schon göttlichen Sinnbild des Giebelfeldes eine triadische Gliederung zuteil werden. Nur wenige der zahlreichen Figuren des Ostgiebels haben die Zerstörung überlebt. Während in der Mitte des Giebelfeldes die Geburt der Athene dargestellt wird, zieht im Osten das Sonnengespann des Helios empor, dessen zauberhaftem Anblick die einzig vorhandene männliche Gestalt sich ruhevoll hingibt. Während diese das machtvolle Geheimnis des Sonnengottes widerspiegelt, leitet eine Gruppe von drei Frauen (Göttinnen) das naturhaft geistige Geschehen über in das seelisch-geistige der sieghaft erscheinenden Athene. Das machtvolle Anschwellen, von den Rossen des Helios bis zur Botschaft des Schöpferischen in der Giebelmitte, schwillt auf der rechten Seite über zwei weibliche Gestalten ab bis zur hingelagerten Frauengestalt, die der Selene oder Mondregion entgegensieht. 4)

In diesem Dreierrhythmus kommt ein Geheimnis des Kosmischen, Menschlichen und Göttlichen zum Ausdruck wie anderswo, beispielsweise in der Göttergruppe Poseidon, Apollon und Artemis auf dem die Cellamauer umlaufenden Fries das Parthenon. Ein ähnliches Spiel der Beziehungen kommt auf dem gleichen Fries in der Darstellung des panathenäischen Festzuges zum Ausdruck. Auf die Alten an der Spitze des Zuges folgen die Jüngeren, zuletzt die Jugendlichen als Reiterei. Weil die Alten gelassen und massvoll voranschreiten, die jugendlichen Reiter auf ihren feurigen Pferden jedoch vorwärts drängen, so läuft eine Bewegung nach vorne, wird aber dort wie eine gegen das Ufer anbrandende Welle gestaut und zurückgedämmt. So entsteht eine Balance von aufeinander abgestimmter Bewegung und Gegenbewegung, die sich nicht widersprechen, sondern gegenseitig beeinflussen und zu einem spannungsvollen Ausgleich kommen. Sogar im einzelnen Reiter kommt zugleich das Vorwärtsdrängende und das Sichzurückhaltende zum Ausdruck. An der Haltung der Jünglinge erkennt man, wie sie auf die Natur des Pferdes eingehen und diesem doch ihren geistigen Willen auferlegen.

In diesem gemeinsamen Bewegungsrhythmus kündet sich bereits die grösste Entdeckung der griechischen Philosophie an: die Zweieinheit von relativem Sein und Nicht-Sein, von aristotelischer Energeia und Dynamis, von aufeinander angelegter Aktualität und Potentialität.

Darin finden die vorsokratischen, falschen Alternativen und Verabsolutierungen von absolutem Sein (Parmenides) und absolutem Werden (Heraklit) ihren Ausgleich und ihre Lösung im organischen, seinsbezogenen Werden. Anstelle der Ausschliesslichkeit und einseitigen Polarisation tritt die Polarität oder organisch komplementäre Einheit des Gegensätzlichen und die wahre Geschichtlichkeit. Die antithetische Dialektik eines Parmenides und Heraklits und ihrer modernen Epigonen wird zur platonisch-aristotelischen Weisheit der Einheit und Analogie des Seins geführt. So wird, nach der wahren Geschichtlichkeit die Vergangenheit hermeneutisch mit ihren evolutiven Anreicherung mitgenommen. Nach Hegel jedoch wird das Vergangene relativistisch abgesetzt und aufgehoben, beispielsweise das Christentum in Hegels <Philosophie des Geistes>.

Die Weisheit von der Einheit der Gegensätze findet sich nicht nur in Philosophie und Kunst, sondern bereits schon in den griechischen Mythen und Mysterien, und das entsprechende Denken und Erleben hat seine Wirkung bis in die Heilkunst. Im Heiligtum von Epidauros weist der Tholos oder Rundbau für die Mysterienfeier an der Aussenseite helle Farben auf, während innen der Sockel der Rundmauer aus schwarzem Marmor besteht. Dem entspricht die Einheit von uranisch Apollinischem und chthonisch Dionysischem im Mysterium. Apollon selbst trägt die dionysischen Attribute, Bogen und Leier, zur Geburtsfeier des göttlichen Kindes, bei welcher der Heilswendung vom Dunkeln zum Licht gedacht wird.

Asklepios, der Gott der Aerzte und der Heilkunde, ist der Sohn der Mondgöttin Phoibe, der Geburt und Tod unterstehen, und des betont phallischen Hermes. Mit Hygieia, seiner Gehilfin, repräsentiert Asklepios wiederum die Genesung als Einheit des Gegensätzlichen. Auf der Insel Kos wurde nach dem Tod des grossen Arztes Hippokrates das Askleieion mit Tempel und Klinik aufgebaut. Es stand im Zypressenhain des Apollon Kyparissios. Die Zypresse mit ihrem dunklen Grün und ihrer männlich aufstrebenden Kraft galt als Symbol der Heilung. Das von Luft und Licht lebende grüne Blatt wurde als Frucht der Wirksamkeit von Natur und Gottheit betrachtet. 5)

Aehnlich verstand man die Heilung als Geschehen, das aus der tiefsten Schicht des Kranken selbst und von der Gottheit gewirkt wurde. Die dem "Tempelschlaf" obliegenden Patienten wurden von den Aerzten unentgeltlich behandelt. In Süditalien richteten sich auch die Pythagoräer nach dieser apollinischen Weisheit.

Helfen und Heilen wurde nur durch die innere Erkenntnis um das Emporkommen des Sonnenhaften aus der Tiefe für möglich erachtet. Wiederum ist die Sonne das ausschlaggebende Symbol für das menschliche Geschehen, hier genauer die Wintersonnwende für die Heilwendung. Deshalb bemerkte Sokrates, nachdem er den Schierlingsbecher getrunken, in seinem letzten Wort, man möge nicht versäumen, dem Asklepios einen Hahn zu opfern. Er verstand auch den Tod als Heilung oder sonnenhaften Aufgang.

In der griechischen Abhandlung "Ueber den Anstand des ärztlichen Berufes" steht der Satz: "Das philosophische Wissen ist in die Heilkunde und die Heilkunde ist in die philosophische Wissenschaft einzuführen. Denn ein Arzt, der das philosophische Wissen hat, ist einem Gott gleich."6) Dieser Satz spricht nicht der Vermischung der Disziplinen und Methoden das Wort, wohl aber einem alle Fakultäten berücksichtigenden integrierenden Wissen.

Der bekannte Psychotherapeut Balthasar Staehelin vollzieht mit andern eine sich bewährende Oeffnung der Medizin ins Metaphysische. Er spricht vom "unheilvollen Dualismus, in den uns die Einseitigkeit und die das Metaphysische ausschliessende Nur-Horizontalität" der Aufklärungszeit hineingetrieben hat. "Wir stehen offensichtlich schon mitten drin in einem wissenschaftlichen Zusammenschluss des in allen Hochreligionen prinzipiell gleichen <Elementar-Religiösen> mit der modernen Medizin und Naturwissenschaft. Dank dieser Forschungswende wird die Wissenschaft die Frage nach der Transzendenz in Natur und Mensch nach Jahrhunderten der Vernachlässigung wieder bejahen und damit erfolgreich arbeiten können." 7)

Nur diese Gesinnung oder Weisheit vermag die heutige Krise des Wissens und des Lebens zu überwinden, und anstelle der aufgespaltenen, heterogenen Fakultäten eine, auf dem analogischen Denken beruhende, wahre Universität der Wissenschaften zu begründen. Von der Wissenschaftstheorie ins Leben übertragen, impliziert diese Weisheit die wieder modern gewordene psychosomatische Medizin mit dem griechischen Ideal der "mens sana in corpore sano" (des gesunden Geistes im gesunden Körper).

Anmerkungen:

4. SYMBOLIK UND GANZHEIT IN DER MODERNEN KUNST

Das menschliche Leben ist eine Wanderung zwischen Gipfel und Abgrund. Nach dem Unendlichen greifend erfahren wir die Ohnmacht und das Wagnis unseres Daseins. Rodin geht ins Kloster, kehrt wieder in die Welt zurück und steht zeit seines Lebens mit seinem künstlerischen Werk im Banne der "Porte de l'Enfer". Unter seinen Gestalten ist nicht die menschliche Umschlingung das Letzte ("Fugit Amor"), sondern der Uebergriff nach dem Absoluten, oder das Hingeworfensein in die Verzweiflung. Zum grossen Teil sind seine Darstellungen entweder exaltierende, über sich selbst hinausweisende, aber sich letztlich in Ohnmacht reckende Pyramiden menschlicher Leiber, oder es sind, in ihrer Wirkung nicht weniger erschütternd, vor sich ins Aussichtslose hinsinnende, hintaumelnde Gestalten.

Van Gogh wirkt zunächst als Prediger Gottes, als Evangelist, und lässt es dann, um sein letztes Lebensgefühl in Bildern auszudrücken, von denen man nicht weiss, ob sie Hoffnung oder Verzweiflung, voll Jugend oder greisenhaft ("zwei Kinder"), Licht der Verklärung, oder Weltbrand sind. Trotz seiner kraftvollen, irdischen Wesenhaftigkeit ist sein Letztes doch verklärendes Licht, oder drohend quälende Flamme, die aus dem Innern der Erde bricht.

Der Künstler erlebt oder erahnt naturhaft die Spannung zwischen uns und dem Absoluten, und bringt sie bildhaft zum Ausdruck. Es mögen hier zwei Künstler zur Darstellung kommen, die im Unterschied zur zeitgenössischen Zerrissenheit, vorteilhafterweise, als Bestätigung des altertümlichen Mythos, eine Symbolik der Ganzheit zur Darstellung bringen. Diese kommt, beispielsweise, in der Sehnsucht nach Kommunikation und nach Transzendenz oder Ueberweltlichkeit in Max Bills "Pavillon" -Plastik zum Ausdruck.

4.1. Max Bills konstruktivistisches Werk

Bill (* 1908 in Winterthur) ist Architekt, Maler, Bildhauer und Kunstschriftsteller, durch das Bauhaus geprägt. Erbauer und Leiter der Ulmer Hochschule für Gestaltung; wegweisend für moderne Baukunst, "konkrete" Malerei und Plastik.

Das von der Schweizerischen Bankgesellschaft gestiftete Kunstwerk an der Zürcher Bahnhofstrasse regt zum Nachdenken an. Dazu bietet diese geräumige Anlage ja die Sitzgelegenheit. Der Fussgänger muss oder darf sich einmal setzen und Eile gegen Weile eintauschen. Der Eindruck des Passanten, dass die Anlage eher dem Bedürfnis der Vierbeiner als dem Interesse der Menschen entgegenkomme, wäre zu kurzschlüssig.

In der kühlen Jahreszeit dürfte sich der Sitzende allerdings erkälten. Damit berühren wir die Ambivalenz dieses sehr symbolischen Kunstwerks. Dass es eine geometrische Struktur in kaltem, polierten Stein aufweist, kann als eine Klage über unsere, der Lebenswärme ermangelnde technisch industrielle Zivilisation, verstanden werden. Ihre Peripetie oder Kipphöhe ins Zerstörerische bildet bereits unser Tagesgespräch. Die künstlerisch vollendete Anlage mag in ihrer Ambivalenz also auch das Perfektionistische, Zerstörerische und den bedrohlichen Ruin andeuten. Diese Zweideutigkeiten vorweggenommen, stellt das Werk jedoch die tiefste Sehnsucht der Menschheit nach Ganzheit dar.

Der "Pavillon", durch seinen elementaren Aufbaucharakter an das englische Stonehenge erinnernd, drückt das in der ältesten und universalsten Sprache der Zahlensymbolik aus. Die mystisch, aber auch philosophisch und mathematisch hochbegabten Denker Pythagoras und Platon gelangten durch die geometrische Form und durch die Zahl mit ihrer Symbolik zu den tiefsten Erkenntnissen. Die heute neu entdeckten Symmetrieerscheinungen in der Elementarteilchenphysik lassen die platonisch geometrischen Körper und die pythagoreischen Zahlen in einem neuen Lichte erscheinen. Nach diesen bilden die Zahlen das Prinzip des Weltbaus. Auf dem Geheimnis der Zahl beruht nicht nur die Theorie der Musik, sondern auch die "Sphärenmusik", oder die Harmonie des Kosmos.

Die vieldeutige Zürcher Tragpfeileranlage dreht sich zunächst um die ganzheitlichen androgynen (mann-weiblichen) Zahlenkompositionen: 2 und 3, 3 und 4. In der Symbolsprache von Ost und West stehen die geraden Zahlen (2, 4) für das Weibliche und die ungeraden (1, 3) für das Männliche. Den drei torbildenden Balken entspricht in China die männlichen Yang-Zahl 3 und dem viereckigen Durchbruch die weiblichen Yin-Zahl 4. Daran vermag man die Integration oder Ganzheit des Patriarchalischen und Matriarchalischen und erst noch die göttliche 7 der Transzendenz zu erkennen. Zudem kommt in der Paarigkeit zweier Pfeiler oder ausgeglichenen Polarität die Einheit des Gegensätzlichen zum Ausdruck, garantiert durch den verbindenen Deckstein (Architrav), der an das transzendent Göttliche denken lässt.

Was am "Pavillon" gleichsam abschliessende Elemente des Daches betrifft, bauen sich diese triadisch auf. In der Religionsgeschichte gibt es die verschiedenen göttlichen Triaden (Dreiheiten).

Nach Pythagoras und C.G. Jung ist die 4 Wurzel und Quelle der wandelbaren Natur, aller nach Quadrat und Kubus gestalteten irdischen Dinge (Haus, Zimmer, Kasten). Im Aufbau der Tore ( ) ist die androgyne oder mann-weibliche Vollzahl 5 dominierend. Zu guter Letzt zählt "Pavillon" in der Längsachse sieben Tore. Astrale und tonbaustoffliche Erfahrung ergaben in Indien, im Orient und Abendland in mittlerer und jüngerer Zeit die Siebentonmusik (Heptatonik). 7 ist die uranisch, das heisst himmlisch geprägte Allzahl und steht in der babylonischen Siebenstufenpyramide für das göttliche Sein.

Eine zusammenfassende Symbolformel stellen Anfang und Ende der Tragpfeileranlage dar: zwei Tore als Eingang, und ein Tor als Ausgang. Damit steht die ganze Komposition in der Spannung zwischen der kreatürlichen Paarigkeit oder Polarität und dem Einen, Göttlichen oder Absoluten. Nachdem je zwei Seitenportale bestehen, wird die Botschaft von der mann-weiblichen Ganzheit durch Transzendenz in alle vier Himmmelsrichtungen ausgestrahlt. Die Anlage bietet vier mal vier Bänke (in Dreier- und Vierergruppen) für die sich Einlassenden zum Ausruhen (7); in der Mitte befindet sich eine Zweiergruppe. Es gibt eine aus der Geschichte der Religion, der Kunst und Philosophie feststehende Zahlensymbolik, die aufgrund kosmischer Entsprechungen universal ist und den Bestand religiöser, künstlerischer und philosophischer Werte umschreibt.

An sich stellt "Pavillon" konkret bildende Kunst dar, mit deutlich aufzählbarem Hinweis auf die konkrete Kunst- Musik- und Geistesgeschichte. Man denke an Stonehenge in England, an die herrlichen Toriis oder Tempeltore in Japan.

Als sinnvolle Verbindlichkeit könnte man das erste Tor mit ablösbaren Elementen des japanischen Torii versehen. Und als Ergänzung zum Geist liess sich dazu ein hochwachsender schirmender Baum pflanzen. Dieser und die Natur im allgemeinen tragen zur Lösung des von "Pavillon" gestellten Problems bei: die Vieleinheit von Persönlichkeit, Paarigkeit und Gemeinschaft. Das Werk bezeugt, dass wir in diesem Leben das Ganze nur im Fragment besitzen.

Von Bills konstruktivistischen Plastiken gilt besonders die klassische Definition des Individuellen: "Individuum est ineffabile". Aristoteles spricht vom "tode ti" ("dieses etwas"). Auf das "Unbeschreibliche" vermag man nur zu zeigen: "dieses (Einzige)"! Insofern das Individuelle, beispielsweise eine Plastik aus Drei- und Vierecken, ausser seiner Einzigartigkeit, auch eine Wesenheit, eine Idee darstellt, die es mit anderem teilt, kann man weiter nach dem "et-was" fragen. Die Spannung zwischen unbeschreiblicher Einzigartigkeit und ausfragbarer Wesenheit trägt unter anderem auch zur Faszination des Kunstwerkes bei, die unserer analytisch rationalen Erkenntnis widerstrebt und sie zugleich zu weiterem Fragen und Untersuchen anreizt.

Die Griechen entdeckten die Welt als Kosmos, dh. als ornamentales Kunstwerk. Das Ornamentale oder die Zier (Kosmos, Kosmetik), besteht u.a. im Verhältnis oder in der Entsprechung der verschie- denen Teile unter sich zum Ganzen. Einer der besten Vertreter der griechischen Philosophie, Aristoteles, hat aus dieser - besonders aus der organischen Natur gewonnenen - Erfahrung das allgemein gültige Modell der Ontologie oder Seinsphilosophie erarbeitet: die Einheit in Unterscheidung.

Es scheint, dass Bills Kunst diese, aus dem Konkreten gewonnene, Erkenntnis bestätigt. Warum sollte künstlerisches Schaffen nicht auch eine Entsprechung zur biologischen Organentwicklung und kosmischen Ordnung haben können? Vielleicht vermag die Ontogenese eines künstlerischen Lebenswerkes irgendwie eine Entsprechung zur Evolution des Kosmos zu bieten.

Was ist der Kosmos? Was ist ein echtes Kunstwerk? - Wenn nicht, zunächst ganz allgemein, eine Auseinandersetzung zwischen Geist und Stoff, zwischen der Unsichtbarkeit, ewiger göttlicher Ideen und der Materie in der sie sich verkörpern oder sichtbar werden. Ein Kunstwerk möchte man als grundlegenden Dialog zwischen dem schaffenden Geist und dem Stoff verstehen, in dem sich zugleich unbewusst - und das ist nun der verborgene und letzte Sinn jeder Kunst (Michelangelo) - das ursprüngliche Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Gott und Welt widerspiegelt. Mit anderen Worten: Das Kunstwerk kann zum kristallklaren Gleichnis von "Geist in Stoff" und von "Gott in Welt" werden, zur heilsgeschichtlichen Tat, von der die grössten - vom Autor der babylonischen Siebenstufenpyramide bis Cézanne, Mondrian u.a. - schon immer wussten.

Solche Erkenntnis, wie sie sich in Bills Kunst offenbart, kann nur in der Meditation sowohl geschaffen, als auch wieder verstanden werden.

Man ist es dieser "konkreten Kunst" schuldig, ihr nicht nur allgemein geistigen Charakter anzuerkennen, sondern konkrete Deutungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Nach den Regeln wahrer Hermeneutik (Prof. Gadamer, "Wahrheit und Methode") muss der Sinn und letzte Grund irgendeines Werkes der Literatur oder Kunst nicht unbedingt vom Verfasser selbst gefunden - ja, er kann möglicherweise erst nach Jahrhunderten entdeckt - werden.

Bills plastische Werke dürften gewisse Erkenntnisse der modernen Physik der Elementarteilchen illustrieren: eine der Materie eigene grundsätzliche Gesetzlichkeit der Symmetrie und den fundamentalen Charakter der Komplementarität von Masse (Korpuskularität) und Wellennatur. Sowohl die Physik als auch ein Kunstwerk kommen über die Notwendigkeit beider Aspekte nicht hinweg. Beides bedingt die Faszination, den Zier- oder kosmischen Charakter der Schöpfung im Grossen und im Kleinen. Weil Schöpfer und Schöpfung sich darin treu bleiben, ist die Fassung in Gold sinnvollerweise angebracht.

Die physikalische Komplementarität der Materie in der Physik ist kein Einzelfall, sie hat ihre analogischen Entsprechungen. So sind die Verhältnisse von Geist und Stoff, von Subjekt und Objekt in der philosophischen Erkenntnisproblematik bis zum Verhältnis von Gott und Welt analogische und komplementäre Verhältnisse.

Analogie bedeutet Aehnlichkeit bei noch grösserer Unähnlichkeit und Komplementarität, wie sie, beispielsweise, zwischen Geist und Stoff, Gott und Welt besteht, will sagen, dass sich beide Wirklichkeiten weder ausschliessen, noch verwechseln oder die eine auf die andere zurückführen lässt.

Die beiden Pole sind in ähnlichen Verhältnissen ungetrennt, aber auch unvermischt. Man spricht richtiger nicht von Gegensatz ("Antithetik"), als verschärfte Setzung des Menschen, sondern von Polarität, in Ablehnung jeder einseitigen Polarisation, nach der sich die Pole aufspalten und einer auf den andern reduziert wird.

Analogie und Komplementarität bedeuten infolgedessen Einheit in Unterscheidung, also Zwei-, und Drei- und Vieleinheit. Diese Aehnlichkeit von Verhältnissen lässt sich in den verschiedensten Schöpfungsbereichen nachweisen. Und dieses Modell dürfte in Bills Werken illustriert und bestätigt sein.

Eine andere Deutungsmöglichkeit bietet die Zahlensymbolik. Diese bewegt sich im Bereich des archetypisch Potentiellen oder Möglichen und entzieht sich einer deterministischen Interpretation. Immerhin bediente sich bereits ein Joh.Seb.Bach bewusst dieser universalen Ausdrucksmöglichkeit.

Bewusst oder unbewusst steht der Künstler in der Spannung zwischen Stoff und Geist, zwischen der sichtbaren Welt (4 oder Viereck) und ihrem ihr einwohnenden Gott und Schöpfer (3 oder Dreieck). Diese Thematik darf zunächst ganz allgemein und andeutungsweise in den vielen Bildern, die ein Spiel von Drei- und Viereck abgeben, gesehen werden. Das kreative Spiel zwischen der 3 und 4, zwischen Gott und Welt, findet seine Dichte oder Kristallisation, beispielsweise in Bills Dreifuss: drei (Gott) in der Mitte sich kreuzende Bündel von 4 viereckigen Stäben. Diese z.T. in Uebereck- oder Rautenstellung.

Die vom Meister so deutlich in Antrag und Aussage gestellte Raute ist eines der ältesten und gewichtigsten Symbole überhaupt. Die seit der Steinzeit übliche Darstellung steht für Mutterschoss, ist Vaginalsymbol und bedeutet u.a. auch Neu- und Wiedergeburt. Wessen bedarf unsere unter- und aufgehende Zeit so sehr, als gerade dieser Neuwerdung.

Die Raute als Mutterschoss findet sich bezeichnenderweise an Bills - man kann es so nennen - Bild vom Menschen:

Dieses Symbol der Wiedergeburt (Raute) ist nicht hier in unserem Schema, sondern nur in der Seitenaussicht (Mitte) ersichtlich.

Bills einmaliges Menschenbild ist treffend. Es entbehrt Arme und Hände. Nicht grundlos, denn durch seiner Hände Werk hat sich der Mensch gründlich verhaspelt. Die Plastik insinuiert, dass der Mensch endlich auch zu manueller Ruhe kommen und meditieren soll. Die untern Extremitäten sind betont, bestimmt zur moralischen Umkehr und Heimkehr.

Gott ist ganze Unendlichkeit:  

Der Mensch ist halbe Unendlichkeit (in die Zukunft hinein):

In seinen (komplementären) Extremitäten (Beinen) manifestiert sich gegen jede einseitig reduzierende Polarisation die ganzheitliche, zwei- und vieleinige Polarität als Entsprechung zur kosmischen Ganzheit.

Als notwendiges und zugleich freies Spiel von Dreieck, Quadrat und Raute steht ein Gitterwerk für den Kosmos: die Wiedergeburt der Welt aus Gott.

Zwei sich kreuzweise überschneidende Rauten sind in einer vergoldeten Plastik dargestellt. Durch ihre Knickung bleiben sie diskret verschlüsselter Schoss; in höherer Bedeutung sind sie das Symbol für die geistige Wiedergeburt im Geheimnis des Kreuzes.

"Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis,
Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis,
Das Unbeschreibliche, hier ist's getan,
Das ewige Weibliche (Raute)
Zieht uns hinan."
                          (Goethe)

Aehnlich wie der Interpret in der Tonkunst vollzieht der Beschauer vor dem Bild eine Mitschöpfung. Dem aktuierenden Blick erschliesst sich der potentielle Reichtum des Werkes. "Man hüte sich davor, zu sagen", schreibt Seuphor, "der Blick des Betrachters lege mehr in das Werk hinein als der Künstler selbst hineinzulegen vermocht hätte: einem Kunstwerk kann man nie zuviel zuschreiben... Wir dürfen nicht übersehen, dass das Werk über seinen Schöpfer hinausgeht: es entschwindet seinem Gesichtskreis, es wird das Werk eines andern.."(M.Seuphor, Abstrakte Malerei, 1962).

Max Bill hat wie kein anderer schweizerischer Zeitgenosse internationale Anerkennung gefunden. Sein Werk dürfte auch für uns meditativer Betrachtung wert sein.

4.2. Ferdinand Gehr, Maler christlicher Wesensschau

Nomen est omen, d.h. Name ist Ahnung! F. Gehr birgt mit seinen 13 Buchstaben die Gotteszahl 13. Im Hebräischen enthält jeder Buchstabe auch einen Zahlenwert: Jahwe ergibt 26. Im Alltag wählte man die Hälfte: 13. - Maler und Kritiker reden über das Bild, das vom Maler "geborene Kind": jener gefühlsmässig, dieser symbolisch. Ferdinand Gehr wurde an Epiphanie, 1896, als Sohn des Handstickers Ferdinand und seiner Frau Josepha geb. Lenz im toggenburgischen Henau geboren. Der vom Vater ererbte klare Blick und der zähe Wille erlaubten dem Künstler das Durchhalten bis zum grossen Erfolg. Der Mutter verdankt er den Blick nach innen, Weisheit, Güte und sinnfällige Ausdruckskraft. Der berufliche Weg führte vom Stickereizeichner über textiles Entwerfen zum freien Künstler. Florenz lehrte Gehr die Freskotechnik. Paris wurde entscheidend für seinen Stil. Der deutsche Expressionismus half mit zur Reife. Die Verheiratung (1938) eröffnete dem Künstler mit einer verständnisvollen Gattin das Rheintal mit Altstätten als Wahlheimat.

Was ist es denn Besonders um diese heute berühmten, aber so ungewohnten Bilder von Menschen, Blumen und Landschaften Ferdinand Gehrs? Der von Parteien, Gunst und Hass umtobte Meister gelangte, wie so manche grosse Maler, dank seiner Treue zu sich selbst, zu seiner künstlerischen Ueberzeugung, aus der moralischen und materiellen Not der Verkennung zum späteren Erfolg, der mit dem Ehrendoktorat der Universität Fribourg gekrönt wurde. Heute rühmen sich zahlreiche Kirchen und Institutionen mit Recht, in seinen Fresken, Bildern, Glasscheiben und Fahnen vom Besten, was zeitgenössische Kunst zu bieten vermag, zu besitzen.

4.3. Das Rheintal gibt Antwort

Aber was ist es denn, nun um diese seltene, ihres einfachen Wesens wegen, gerühmten Kunst? - Versuchen wir hier wenigstens eine Seite an diesem bedeutenden Werk zu entdecken. Der grosse Künstler ist kein Zauberer, der zur Verblüffung der Leute etwas vormacht. Er will auch nichts - was Gehr sehr betont - ins Blaue konstruieren. Was er auf einfache, aber eklatante Weise (éclat) darbietet, ist nichts mehr und nichts weniger als die Erfahrung der persönlich tief erlebten Wirklichkeit.

Aber Gehrs Bilder sind doch so ganz anders in Gestalt und Farbe als die Dinge, die Menschen und die Berge. Was ist denn das für eine Wirklichkeit, die der Künstler erlebt? Auf diese Frage antwortet uns das Rheintal, wo Gehr lebt und malt.

Der grosse Dichter Hölderlin hat uns einleuchtend die Wirklichkeit am Berg und Flusslauf des Tales aufgezeigt. Der unbeweglich felsige Berg steht für alles, was ist, im Raum und über dem Raum, als ewig Göttliches. Und der fliessende Strom ist das Symbol all dessen, was im Laufe der Zeit wird und vergeht. Die Dinge dieser Welt bestehen aus beidem: aus Sein und Werden, denn auch der Gebirgszug "wogt", und selbst das Wasser des Flusses bleibt stehen, indem es des Tales Felder und Wälder befruchtet. Sein und Werden umschlingen sich innig und bilden in Einheit ein Ganzes. Aehnlich hat der Mensch mitten im Geburtsschmerz seiner Entwicklung Anteil an der unwandelbaren Gottheit und ihren Geheimnissen.

4.4. Was wesentlich ist

In der Spannung von Sein und Werden, von Gottes unendlichem Reichtum und des Menschen Armut bewegt sich Gehrs christliche Existenz und künstlerisches Schaffen. Das ist der innerste Kern der Wirklichkeit, den es in einem Kunstwerk darzustellen gilt. Nicht das Gewimmel des sinnfälligen Geschehens mit seinem Wirbel von Bewegungen und farblichen Nuancen, die nur vom Wesentlichen ablenken und zerstreuen. Wesentlich ist die Einsicht in unser Elend, in unsere Bedürftigkeit und die Erkenntnis Gottes, von dem wir abhängen, weil er allein diese zu beheben vermag. Unsere Abhängigkeit von Gott erleben wir zunächst als innerweltliche Abhängigkeit von Menschen und Dingen. Wir sind nicht wie Gott absolut (wie der Kreis, der sich selbst Mittelpunkt ist), sondern wir sind polar veranlagt (wie die Ellipse, deren einer Pol vom andern abhängt). So hängt also unser Leben nicht allein von uns ab, sondern immer auch von einem andern Pol, der ein Mensch, ein Ding, und vor allem auch Gott ist.

Unsere Abhängigkeit von Gott und unserer Umwelt oder unsere polare Konstitution (Polarität), das gehört zum Grundbau unserer Wirklichkeit. Sie bildhaft, symbolisch darzustellen ist die Aufgabe des christlichen Malers. Diese Situation unseres Lebens als Da- und Dortsein, als Abhängigkeit vom andern, ist ebenso einfach an sich als auch schwierig in einem Bilde darzustellen.

Hier hilft sich der Künstler, bewusst oder unbewusst, durch eine besondere Technik der Darstellung. Anstatt dreidimensional malt er, beispielsweise den das Abendmahl spendenden Christus in Oberwil, nur zweidimensional flächenhaft. Durch diese Reduzierung erreicht er paradoxerweise die Freilegung der Bipolarität als Manifestation unserer Tiefenexistenz. Im Dreidimensionalen würde sich Christus naturalistisch nur der gemalten Gruppe der Kommunizierenden zuwenden, so aber erreicht seine spendende Hand die hier gemalte Gruppe, während sein Blick sich auf die Anwesenden und auf die universalen Menschheit richtet. So spiegelt sich in Gehrs Bildern, im polaren Spiel der darstellerischen Mittel, immer wieder die inhaltliche Zweieinheit alles Kreatürlichen, die Polarität von Gott und Mensch, auch jene zwischen dem sichtbaren Hier und Jetzt und dem unsichtbaren überraumzeitlichen Ewigen. Deshalb ist auch Christi brotbrechende Hand von seinem Arm durch einen kurzen Unterbruch unterschieden, damit diese, als mystische überraumzeitliche Hand, die Hand aller spendenden Menschen darstelle.

4.5. "Das Bild ist fertig, ich muss es nur noch malen"

Man muss Gehrs Kirchenmalerei erleben und seine Wohnhausfassade, um die polare Zuordnung von Malerei und Architektur zu erfahren. Gehrs Fresko setzt sich nicht wie eine Faust auf des Architekten Auge, sondern gliedert sich dem Raum organisch ein und unter. Sein Wohnhaus ist ein Eldorado von Raum- und Bildwirkung. Als anderer Pol steht organisch neben dem elterlichen Haus der moderne Bau für Gehrs Tochter Franziska, in dem diese ihre eigenen Entwürfe am Webstuhl verwirklicht.

Nach Paul Klee lässt die Kunst das Unsichtbare sichtbar werden. Der Künstler ist wie der Stamm eines Baumes. Er treibt durch sein Werk für die Gesellschaft die Aeste der Wesenserkenntnis und die Krone des gegenwärtig-zukünftigen Bereichs des Göttlichen. Die künstlerische Darstellung des Kosmischen in Gott ist oft ein mühsamer Prozess. Nachdem Gehr nur schon über eine Landschaft ein Jahr lang meditiert hat, erklärte er: "Das Bild ist fertig, ich muss es nur noch malen." Im Arbeitsprozess darf der Künstler keiner Ausschliesslichkeit verfallen. Er hat sich in einem wogenden, labilen Gleichgewicht zu bewähren. Kunst ist die durch keine modesüchtige Gefälligkeit beeinflusste, kompromisslose Wahrheit, wie sie vom Künstler persönlich erlebt wird.

Gehr klagt nicht nur über den Riss zwischen Welt und Kirche, sondern auch über jenen zwischen Kirche und Kunst, Wahrheit und Schönheit. Heutiges Kunstschaffen kreist gern um sich selbst (A. Brütsch). Weil es zu wenig der guten Vergangenheit und der göttlichen Zukunft verpflichtet ist, unterliegt es dämonischen Einflüssen und dem Zerfall. Unser Meister empfiehlt sich deshalb "der Mitwirkung der göttlichen Gnade". Ein Bild erscheint gewissermassen aus einem natürlichen Nichts, aus einem Unaussprechlichen der Gnade und Erleuchtung.

Des Meisters unverdorbenes Naturempfinden versenkt sich in das Gesehene, bis er es auf das Wesen, auf die metaphysische Struktur hin, durchschaut. Dabei kommt es zu jener Vision der Polarität oder der Einheitsschau des Gegensätzlichen.

4.6. Der Zeichensetzer

Der Maler dokumentiert seine und unsere kreatürliche Begrenztheit schon durch die gegenseitige Abhängigkeit von Technik und Ausdruckskraft, von Bindung und Lösung, von Spiel und Ernst, von Form und Inhalt, von Rhythmus und Farbe. Gehr ist kein Zeichner sinnfälliger Einzelheiten, wohl aber ein Zeichensetzer. Durch Fläche und Farbe entsteht eine Ordnung. Farbe ist Symbol; sie ist nicht Schein, sondern Sein. Gehr kennt eine über jede sinnlich Spiegelung hinausgehende Farbigkeit. Vom Gelb (Symbol des Göttlichen) schreibt er, wie es sich, obwohl nicht vorgesehen, "aufdrängen" und "durchsetzen" kann. Dieses Gelb durchbricht die geschlossene Innerweltlichkeit aufs Göttliche hin.

Gross ist der Held, grösser der Weise, am grössten - das Kind. Gehr vermag noch zu staunen wie ein Kind, über das Schöpferische in der Natur und im Bild, das wie ein Wunder das geworden ist, was es ist.

Solche Malerei weiss um die Polarität von Stoff und Geist, von Kunst und Glaube. Sie lässt den grossen Zusammenhang von menschlicher Problematik, Unzulänglichkeit, Abgründigkeit des Dämonischen und vom Bereich des Göttlichen, der Gnade und Erlösung erkennen. (Bruggen). Gehrs Kunst bezeugt die erlösende Einheit und Polarität von irdischem Leben und christlichem Dogma, von Zeit und Ewigkeit.

Durch den bevorzugten Gebrauch der drei Grundfarben Blau, Rot, Gelb wird er zum Künder des Trinitarischen, das sich auch im Triadischen der Pflanzen, Blumen und Früchten manifestiert. Die Durchsichtigkeit der Temperafarben, der Scheiben und Aquarelle weist durch die physische auf die geistige, überweltliche Wirklichkeit. In der "Aufnahme Mariä in den Himmel" (Bes. d. Malers) schweben Engel, in Kugelform und in der 7-Zahl rhythmisiert (2+3+2), aufwärts. 7 war schon in Babylon die Zahl Gottes. 2 ist Symbol für Weibliches; 3 für Männliches. 2 + 3 ergibt die mann-weibliche Vollzahl 5; heute noch in Afrika Hochzeitszahl. Genauso sind auch die letzten Schläge der 5. Sinfonie Beethovens rhythmisiert: -- --- -- .

4.7. Werk der Gnade

Eine letzte Polarität nach dem Evangelium drängt sich auf: die Einheit von kindlicher Demut und sakraler Monumentalität, als Werk der Gnade im Künstler. Der alles umfassende Zusammenhang von sinnfroher Weltbejahung und Transzendenz vermag nicht durch Sinnesschärfe und Intelligenz, sondern nur durch ein Vermögen der Seele und des Herzens erfasst zu werden.

Wir schliessen unsern Kreis mit dem Berg-Tal-Symbol Hölderlins, das ein auf- und absteigendes Dreieck bildet, in Indien das Yantra von Shiva und Shakti, d.h. das Symbol der Vereinigung von Mann und Frau, von Himmel und Erde, von Geist und Stoff und aller Gegensätze, Gehrs "Antlitz Christi" (Handdruck 1960) (schematisiert) erinnert an dieses universale Symbol.

Eines Tages schenkte Gehrs Gattin Mathilde ihrem Mann einen Ring mit Lapislazuli als Zeichen, dass sie in seine Kunst nicht mehr dreinreden wolle. Ein Beispiel vorbildlicher Weisheit. - So wollte auch Job, der geprüfte und geduldige Gottesknecht, nicht mehr in seines Herrn Weltregierung hineinreden.... Ferdinand Gehrs aufwärtsstrebende Unterschrift erinnert an den Propheten Elias, der mit seinem Feuerwagen zum Himmel fuhr. Möge der 80jährige Jubilar mit seinem immer noch wachsenden Werk der in einem lauen Christentum vegetierenden Gesellschaft noch viele Jahre diesen göttlichen Dienst erweisen. Einige Beispiele von Deutung der symbolträchtigen Bildern: <Rheintal> (1949) in den 3 Grundfarben (trinitarisch): Blau, Rot Gelb. Im roten Feld: göttliche 7 und androgyne 5; 5 auch im grünen Baum; Paarigkeit oder Bipolarität (2) im Gebirge.

<Sein> (1972): Geheimnisvoller Ursprung (Schweiz), Gläubiger (violett) Mensch, zur göttlichen (Gelb) Liebe (rot) berufen. Im <Fenster> zum Jenseits (weiss) die Eucharistie.

<Mutter Natur> (1977) hält den in Musse und Meditation 5eckigen Menschen (5 blättrige Blüte) durch die Sonne (Gott) in ausgewogener Polarität.

"Urmutter" (1935): als Symbol zweiwertig. Trinitarische Ellipse birgt die Ganzheit (Polarität) von Sonne und Mond (Himmelsbarke der Urreligion). Das gähnende Oval steht auch für "die Verschlingende". "Durchblick" (1971) durchs Kosmische (Weltzahl 4) ins Göttliche (Trinitarische 3): Gott in Welt.

"Mose und Dornbusch" (1971): Ellipse (bedürftige Kreatur) vor 3er-Kreis (Gott), damit jene von diesem die "Brennpunkte" empfange. - Irdenes bedarf des Feuers.

5. DAS GÖTTLICHE IN DER MUSIK

Unser Thema wird heute nicht mehr von der Oeffentlichkeit getragen, sondern vielmehr in Frage oder sogar in Abrede gestellt. Dennoch, oder daher erst recht, empfiehlt sich seine Behandlung.

5.1. Gravitation und Polarität in Musik und Ontologie

Es gibt in der Musik, und ganz allgemein, dualistisch dissonante Systeme, in denen Aufspaltung, Isolation und Verfremdung herrschen: antithetische Sonderungen als Auswuchs der Sünde. Dann gibt es, gemäss der Schöpfung, wie sie von Gott hervorging und erlöst wurde, eine zwei- und vieleinheitliche polare Ordnung mit Ganzheitscharakter. Aufgrund ihrer ganzheitlichen und polaren Struktur erweist sich Musik als Symbol des Göttlichen.

Diesem göttlich Symbolhaften, das dem Kompositum, das heisst dem zusammengesetzten Charakter des kreatürlichen Seins, also auch der Musik entwächst, soll hier nach des Wortes ursprünglichster Bedeutung nachgegangen werden. Der ursprüngliche Wortsinn vom griechischen "symballein" (im Gegensatz zu "diaballein") bedeutet zusammensetzen. Im Altertum zerbrachen zwei Vertragspartner einen Gegenstand. Dieser liess sich an den Bruchrändern jederzeit wieder zusammensetzen. Damit hatten sie ein Symbol. Musik als Symbol ist also die sinnfällige hör- und sichtbare, aber auch geistig erlebbare Hälfte, die auf die andere, transzendierende überweltliche "Hälfte", oder besser gesagt, auf den andern Bundespartner, nämlich auf Gott, angelegt ist. Musik zeigt das Göttliche an, das die sinnfällige Welt übersteigt. Wie jedes Symbol unterscheidet und vereint also Musik zugleich. Diesem überzeugenden Zeichen der Zusammengehörigkeit haftet somit der Charakter des Begrenzten und Bruchstückhaften, mit der entsprechenden Dynamis (Potenz) oder Spannung nach dem Andern und Verschiedenen, nach dem göttlichen Absoluten, an.

So ist die Musik für den Menschen Zeichen der Integration in der Zäsur, des Unerhörten im Hörbaren, des Göttlichen im Menschlichen, des Seins im relativen Nicht-Sein, des Aktes in der Potenz. In der Wiederherstellung der Konsonanz aus der Dissonanz ist Musik (wenigstens bis zur Romantik) Zeichen der Sehnsucht nach Wiederherstellung des schuldbar gestörten Verhältnisses zur Transzendenz, also Bekenntnis zur religiösen Bindung. Ihre Symbolsprache ist Offenbarung und Geheimnis zugleich. Sie ist Sprache für das, was über den menschlichen Verstand hinausgeht, sie spricht nicht ausdrücklich von der Wahrheit, macht diese aber offenbar für alle, die sie zu hören verstehen. Es gibt zwar keine Religion "Musik", aber auch keine vollkommene Musik ohne wenigstens unbewusste Implikation des Religiösen.

Noch ein Wort zur Methodik, mit der unser Thema zu behandeln ist: Wir schöpfen aus Theologie, Philosophie, Musikgeschichte und Harmonielehre mittels der phänomenologischen und ontologischen Methode. Das heisst, wir analysieren zunächst den zahlenmässigen Aspekt des Tonsystems in seiner physikalischen Faktizität, aber als Vorstufe ihres intentionalen geistigen Gehaltes.

Die Gliederung des ersten Teils ergibt sich aus der Behandlung der Symbolzahlen 2, 3, 4, 5 und 7. Jede von ihnen hat nicht nur ihre mythische und geschichtliche Vergangenheit, sondern bleibt bis heute im diatonischen System aktuell. Ueber die kritische Scheidung der Tonalität von der Atonalität gelangen wir zum Musikerlebnis im Geist, als dem Symbol des Göttlichen.

Ausgangspunkt zur Erforschung des intentionalen, ins transzendent Geistige und Göttliche weisenden Charakters der Musik, ist die innerweltliche Komposition oder dynamische Zusammensetzung der Welt. Dieser vor allem zwei- aber auch drei- und vieleinigen Polarität der Musik schenken wir nun unsere Aufmerksamkeit.

5.2. Die Symbolzahl 2 als Paarigkeit und ganzheitliche Polarität

Tonliche Aeusserungen gehören von Anfang an zu den natürlichen Verständigungsmitteln des Menschen; sie sind schon dem Tier gegeben. Es gibt Kleinvögel, die in einer 1/100 Sekunde durch 1 1/2 Oktaven steigen und in 1 Sekunde 90 Noten singen. In Ozeanien gibt es Vögel, die 50 Vogelstimmen nachahmen, und andere, die in einer Entladung alle menschlichen, tierischen und industriellen Geräusche wiedergeben. Aber wir bewegen uns hier im Bereich der Naturlaute, weil die geistige Absicht zu musizieren fehlt (A. Portmann).

Menschlicher Gesang entsteht aus der Sprache, wenn aus kultischen oder andern Gründen Wortmotive mehrfach wiederholt werden. Solche Rhythmik mit Tanz gepaart geht bis zum Rausch, in dem sich der primitive Mensch in Verbindung und im Besitz übernatürlicher Kräfte glaubt. Eine ursprüngliche Bewegung besteht aus Hebung und Senkung. Dem betonten Schritt folgt im Tanz das schleifende Nachziehen des andern Fusses. Die Zweitonmusik der Primitiven entspricht dem Ein- und Ausatmen, der Systole und Diastole im Biologischen.

Die Vorherrschaft der 2 in der fossilen Kultur ist wohl nicht Addition, sondern Polarität. Die unter dem Schlegel dröhnende Schlitztrommel bedeutet heute noch bei den Primitiven das Menschenpaar. Aber auch sonst erscheint die Zweizahl als Paarigkeit oder Polarität im Alltag des Primitiven. Es ist bezeichnend für die Gespaltenheit des 20. Jahrhunderts, dass Psychoanalytiker den Charakter der 2 aus Wörtern wie "Zwist" und "Zweifel" ableiten.(1) Freilich steht im Leben oft tragischerweise der organischen Zweieinheit die antithetische Aufspaltung im hegelschen Sinn, das heisst als falsche Verabsolutierung der Gegensätze, gegenüber. Normativen Wert kann diese jedoch nicht beanspruchen; Paarigkeit oder Polarität in Mythos und Primitivkultur beweisen es.

Das zweireihige, durch eine symbolische Schnur verbundene Panpfeifenpaar wird unter Ein- und Ausatmung zusammengeblasen. Die Polarität von Sonne und Mond, Tag und Nacht, Feuer und Wasser usw. wird in den Primitivkulturen auf göttliche Zwillingspaare zurückgeführt.(2) Die Kulturen des Altertums kennen das Dioskurenpaar Castor und Pollux und andere Zwillingsheldenpaare. Diese gehen als Symbole der Weltpolarität auf noch ältere, zweigeschlechtliche Urvorstellungen zurück. Das altchinesische Tai-ki oder Uranfangs-Zeichen versinnbildet das Gegen- und Miteinanderwirken der polaren Weltkräfte Yin und Yang. Analog dazu ist das aristotelisch-thomistische Grundprinzip der Ontologie von Akt und Potenz zu nennen.

Polarität offenbart die älteste Zweistimmigkeit im quintierten Gesang, wie auch der Wechselgesang. Ein Inspirierter singt vor, und die Zuhörer wiederholen. Zu polyphoner Mehrstimmigkeit kann es kommen, wenn der Chor bereits eingesetzt, ehe der Vorsänger geendet hat und umgekehrt. Bis zur Romantik lebte die Musik aus der zweieinigen Spannung des diatonisch-chromatischen Systems und aus jener der Dur-Moll-Tongeschlechter. Im antiphonalen Gesang singen sich 2 Chöre wechselseitig zu. Der Polarität von Einzel- und Chorgesang entspricht jene von textbetonter (syllabischer) und musikbetonter (melismatischer) Darstellung. Der melismatische hebräische Tempelgesang legte aufgrund der Psalmen eine Ausführung durch einander abwechselnde Halbchöre oder andere responsoriale Formen nahe. Im Mittelalter war polare Zweistimmigkeit verbreitet. Dem Fortschritt im senkrecht Harmonischen folgt eine Rückbildung im Melodischen; beide stehen also in umgekehrt proportionierter Spannung zueinander.

Die Spannung der Zwei- oder Vieleinheit (zweistimmige Inventionen bei Bach) erreicht einen Höhepunkt mit der Polyphonie und der Kontrapunktik, indem mehrere selbständige und doch potentiell aufeinander bezogene Stimmlinien zu übergeordneter künstlerischer Einheit gebunden werden. Es trifft hier zu, was von der Potentialität zwischen Gott und Welt, Geist und Stoff gilt: Je höher die Spannung, je steiler der Flug, um so stärker die bindende Kraft des grundlegenden Prinzips, in diesem Fall der Musik der Dominante und Tonika.

Mit der sich aufspaltenden Motivik entstand die Form des neueren Sonatensatzes mit 2 kontrastierenden Themen in einem Satz. Darin werden 2 Themen gegeneinander gesetzt und zugleich deren Spiel als Einheit empfunden. Diese Einheit in der Unterscheidung entspricht illustrierend wiederum dem akt-potentiellen Grundmodell der Ontologie, nach dem sich die Dinge oder Seinsstufen wie das Sein vom relativen Nicht-Sein unterscheiden und zugleich aufeinander beziehen. Schliesslich bewegt sich auch der Jazz als Rhythmik des Vitalbereiches in synkopischer Paarungspolarität.

5.3. Die symbolische göttliche und männliche 3 als Rückführung der 2 zur Einheit

Als komplementäres, ergänzungsbedürftiges, dokumentiert das polare Sein seine Endlichkeit und weist über sich hinaus auf ein Drittes, Absolutes. In der Melodik bedeutet das die Entwicklung eines dritten Tones als Haupttonika, zu der die beiden anderen Töne in ein Spannungsverhältnis treten. Ueber diesen Dreitöneumfang gehen die Melodien der ältesten Primitivkulturen nicht hinaus.

Galt bei den Chinesen die 2 und 4 als weibliche Erdzahl, so die 3 als männliche Himmelszahl. Nach Laotse gibt es 3 kosmische Entfaltungen. Im Bilde der Dreiköpfigkeit kennt Indien die Dreieinigkeit von Brahma (Erzeuger), Vishnu (Erhalter) und Shiva (Zerstörer); dementsprechend birgt die himmlische Kuh Aditi: Erde, Luft und Himmel.

In Sumer-Babylon gibt es verschiedene göttliche Triaden (Dreiheiten), zum Beispiel Ana, Sin und Adad (Himmel, Erde, Wasser). Der vorgriechische Mythos spricht von drei Weltbeherrschern, Zeus, Poseidon und Hades, den drei Urelementen, Erde, Wasser, Feuer und den drei Mondphasen. Die Aufzählung der vielen griechisch-römischen Triaden würde kein Ende nehmen. Diese bestimmten auch das Brauchtum (beispielsweise in den Triklinien). (Nicht die christliche Dreieinigkeit ist synkretistische Weltreligion, sondern in dieser ist bereits die höchste Offenbarung angedeutet oder vorgebildet.)

Es ist nicht zu verwundern, dass gerade der Dreiklang und das Terzintervall als Ursprache der Musik, mit der der Mensch im Anfang angesprochen wurde, von besonderer Wirkung auf uns ist. Dreiklang und Terz wurden schon mit einem faszinierenden Spiegel verglichen, in dem sich der Mensch am besten betrachtet.

Die göttliche 3 stand denn auch im Mittelpunkt unserer Harmonik. Die musikalische Ordnung baute wenigstens in der Vergangenheit vorzugsweise auf Dreiklänge auf, wobei Grundton, Terz und Quint die Träger waren.

Das Intervall, das heisst der Abstand zweier Töne, kann als leer empfunden werden, weil in ihm das Integrierende von drei Tonschritten, die Terz, fehlt. Die übrigen Akkorde entstehen aus übereinander gelagerten grossen und kleinen Terzen. Die 4- und 5tönigen Akkorde gelten als dissonante Spannungen (4 und 5 bedeuten nach der alten Symbolsprache Welt und Mensch); die 3tönigen als konsonant. Zudem bestimmen die 3tönigen Akkorde, wenn sie als Grundakkorde für ein Tonstück gewählt werden, nicht nur das Tongeschlecht, sondern auch die Tonart.

Um den C-Dur-Dreiklang kreisen die beiden Dur-Akkorde der oberen Quinte, der Dominante, und der unteren Quinte, der Subdominante. Die Kadenz, als Grundmodell unseres bis zur Romantik herrschenden Musiksystems, verläuft von der Quarte über die Quinte zum Grundton: sie ist Abbild der in sich geschlossenen innergöttlichen dreieinigen Bewegung, oder der aus und über die Dissonanz zu Gott hin bewegten Welt.

Ansermet zeichnet zur Illustrierung der harmonisch funktionalen Bezogenheit der Töne den Grundton (Tonika) als Basis, auf der ein auf- und absteigendes Dreieck ruht. Diesen entsprechen, immer nach Ansermet, in der aufsteigenden Quinte gespannte Aktivität und Zukunft und in der absteigenden Passivität und Vergangenheit. So sei der Mensch weder absolut aktiv, noch absolut passiv.(3) Tatsächlich ist der Mensch im Werden sowohl in Akt als auch in Potenz, in der Vergangenheit bereits aktuiertes und in der Zukunft noch zu aktuierendes Sein. In Indien bedeutet das Yantra vom auf- und absteigenden Dreieck die Vermählung von Geist und Stoff, von Himmel und Erde. Damit illustriert Musik Sein und Zeit des Menschen.

Das Altertum bediente sich noch der 3-Ton-Geschlechter: Diatonik, Chromatik und Enharmonik. Das Dreieinige ist übrigens auch für den äusseren Aufbau unserer Musik bezeichnend. Im griechischen Theater des Altertums entwickelte sich das Drama zur Trilogie. Die alte Oper kannte die dreiteilige Da-capo-Arie. Diese Dreiteilung findet sich wieder in der Tripelfuge (Bach, Es-Dur), in der klassischen Sonate und im sinfonischen Satz. Die Messe kennt Kyrie, Gloria, Credo - Sanctus, Benedictus und Agnus Dei. Die Tonmeister schrieben Sonaten, Sinfonien und Quartette. Es gibt (im Mittelalter) den Taktus imperfectus nach der 2 und den perfectus nach der 3 und die Ordnungskräfte der Musik: Rhythmik, Melodik und Harmonik - Dynamik, Agogik und Kolorit. Der Tanz fusst schliesslich ähnlich dem Volkslied auf 2- und 3taktiger Rhythmik. Die Musikgeschichte spricht vom Dreieckspiel: Tonschöpfer, Interpret und Zuhörer.

5.4. Die symbolisch weibliche 4 als Weltzahl

Kommt zum Dreiklang ein Ton hinzu, dann entsteht die Erdzahl 4: Vierklang auf Dreiklang-Grundlage, das heisst, Welt auf Trinitätsgrundlage. Vierklangtonik findet sich in Asien, Afrika und Amerika. Ursprünglich musizierten die ältesten Kulturen ohne Instrumente mit dem Körper. Sie stampften und klatschten rhythmisch und schlugen auf Schenkel, Bauch und Gesäss. Die ersten Instrumente sind Projektionen der Hände und Füsse - in die Welt. China kannte die vier Pauken, Gongs, Blasinstrumente und die vierrohrige Panpfeife mit vier Löchern. Entsprechend der Vorstellung von der viereckigen Erde war das Haus des Kaisers und vieles andere nach der Yin- oder Erdzahl 4 angelegt.

Ein Viereck war die Urfurche, die bei Gründung der Stadt Rom (Roma quadrate) gezogen wurde. Nach Pythagoras ist die Vier Wurzel und Quelle der wandelbaren Natur, aller, nach Quadrat und Kubus gestalteten, irdischen Dinge (Haus, Zimmer, Kasten).

Der gregorianische Choral kennt 4 Haupttonarten. Die Synfonie als dimensionsreichste Gattung weist meistens vier Sätze auf. Die Mehrstimmigkeit beläuft sich oft auf 3 und 4. Innerhalb unserer 7er Tonleiter strebt der vierte zum dritten und der siebte zum achten Ton. Nach der Zahlensprache des Mythos kann im ersten Fall die Sehnsucht der Welt zu Gott und im zweiten die Bewegung Gottes zur Welt (Immanenz, Inkarnation) verstanden werden.

5.5. Die androgyne 5 als männlich-weibliche Ganzheit des Menschen

Die seit ältester Zeit in fast allen Kulturen herrschende 5-Ton-Musik ist als Vereinigung der männlichen 3 mit der weiblichen 2, des Göttlichen mit dem Weltlichen als vollkommene Yin-Yang-Zahl aufzufassen. Als primäres Klangempfinden und urzeitliche Gebärde erhielt sich diese ungespaltene, einheitliche Konsonanzsphäre durch Jahrtausende. Die erotische 5 in den fünfblättrigen Blüten entspricht der menschlichen androgynen, fünffingrigen Hand. Der Mensch in Spreizstellung bildet ein Fünfeck. In Afrika ist die 5 Hochzeitszahl. Sie war bereits Leitzahl der prähistorischen Megalithkultur. Neben den 5 Büchern Moses gibt es die 5 Weltalter der Azteken.

Wir kennen bei uns die 5 schwarzen Tasten der Klaviatur, die in der 5-Ton-Musik aktuell sind. Nach dem Musikologen C. Brailoin sind auf dem Balkan 2 und 3, 5 und 7 verbreitete Rhythmen. (4)

5.6. Die göttlichen Zahlen 7 und 13 als Symbole der Transzendenz

Astrale und tonbaustoffliche Erfahrung ergaben in Indien, im Orient und Abendland, in mittlerer und jüngerer Zeit, die 7-Ton-Musik (Heptatonik). 7 ist die uranisch, das heisst himmlisch geprägte Allzahl und steht in Babylon für das wandellose Sein. 7 ist eben keine Ordnungszahl der organischen oder anorganischen Natur. Sie steht für Bild- und Körperlosigkeit, als raumverneinendes und -übersteigendes Prinzip der Transzendenz. In Babylon und in der Bibel ist sie vor allem Kultzahl: beispielsweise der 7te Tag oder Sabbat. Die griechische Lyra, das Instrument Apollos, zählt meistens 7 Saiten. In der Heptatonik erlebt der Mensch durch das Drängen der Leittöne die von oben einströmenden Kräfte. Die Siebenertonleiter wurde deshalb oft abwärts gezählt. Die kosmische und Naturmusik der Pentatonik wird in der Heptatonik zur Musik der Sphären und des Himmels. Die 7er-Skala der Dur-Tonleiter enthält durch Halbtöne abgegrenzt 2 + 2 Ganztöne und damit die männliche und zugleich androgyne Zahlensymbolik, während die Moll-Skala 2 + 3 Ganztöne aufweist, also eine weibliche Zahlensymbolik.

Das Tonkolorit kulminiert in den Septakkorden. Wie der siebte Ton sich nach der Oktave (2 x 4) sehnt, so strebt Gottes Liebe nach der Erschaffung der Welt. Mit den 5 schwarzen zählt die Klaviatur 7 weisse Tasten. Das K'in, das älteste chinesische Saiteninstrument, wurde nach musikalisch-religiösen Gesichtspunkten geschaffen: 5 Saiten sind über ein, den Himmel darstellendes, gewölbtes Brett gezogen. Die tiefste Saite (C) läuft über 13 Griffmarken, von denen die siebte die Saite in 2 Hälften teilt (Oktave). 13 Saiten zählt auch das Monochord. 13 und 26 stehen im Orient symbolisch für Gott, später auch für Christus (J.S. Bach).

Es gibt also eine aus der Geschichte der Religion, der Kunst und Philosophie feststehende Zahlensymbolik, die aufgrund kosmischer Entsprechungen den Bestand religiöser, künstlerischer und philosophischer Werte umschreibt.

5.7. Johann Sebastian Bach: der Symboliker par excellence

Bach ist nicht nur durch seine Vertonung des Textsinnes, sondern bis zum Gebrauch der Symbolzahlen der grössten Symboliker. Aeusserliche Vorgänge, wie psychische Zustände, wurden gleichermassen von Bach charakterisiert: etwa Tumult, Schrecken, Seeligkeit, Schmerz, ebenso Wellen, Stürme, Gewitter, Erdbeben. Ohne die Kunst zu begreifen, wird man tief ergriffen.

Die Symbolzahl 2 steht bei Bach für die gottmenschliche Polarität Christi und die 2te Person in Gott, 3 für die Dreieinigkeit, 6 für Werk- und Weltvollendung, 13 (26) für Christus. Bach erfand viele Doppeldeutungen wie die zwischen Soli Deo Gloria (18 und 4 und 7) und J.S.B. (9 und 18 und 2), die im Zahlenwert der Buchstaben (29) aufgeht. Es findet sich bei Bach eine grenzenlose Anwendung der Zahlensymbolik und Proportionen auf die Nummern, Parzellen und Takte in seiner geistlichen und weltlichen Musik. Im "Credo" der h-moll-Messe ertönt "Credo" 7 x 7 mal; "in unum Deum" 7 x 12 mal (Zahl der Kirche und Zahl der gottverbundenen Welt 3 x 4). (5)

In China wurde nach dem Sturz einer Dynastie der Grundton neu festgelegt, in der Absicht, die bessere Entsprechung zur Weltordnung zu finden. Uralte Vorstellungen sehen den Kosmos von Harmonie durchwaltet. Die moderne Physik entdeckte tatsächlich das ausgedehnte Reich der akustischen Schwingungen und elektromagnetischen Wellen. Diese sind von grosser Gesetzmässigkeit, aber nur zum allerkleinsten Teil als Musik wahrnembar. Aber schon innerhalb dieses kleinen Ausschnittes offenbart sich eine Strukturierung, die die Ordnungen der Natur widerspiegelt. Die Obertonreihe und die unserem Ohr angenehmen Tonintervalle lassen sich in eine Zahlenreihe einstufen, die nicht zufällig ist, sondern im Aufbau des Mikro- und Makrokosmos wiederkehrt und sich auch aus der Geschichte der bildenden Kunst, der Architektur bis zur modernen Malerei, belegen lässt.

Zahl, Rhythmus und Intervall gibt es auch in biologischen und physio-psychologischen Phänomenen. Die musikalische Ordnung mit ihren Proportionen ist nur Teil eines universalen Systems von Verhältnissen und Wellenverwandtschaften. Allein schon bei den Hauptintervallen Oktav, Quint und Quart hat man Zahlenwerte entdeckt, die mit jenen im physikalischen Raumgitterbau der Kristalle übereinstimmen. (6) Kepler spricht vom "Menschen als dem unbewussten Nachahmer der von Gott erschaffenen harmonischen Verhältnisse". Die Seele reagiert spontan auf harmonische äussere Manifestationen, kraft der ihr eingeborenen urbildlichen Entsprechungen.

Weil Musik also klingendes Abbild kosmischer Ordnung ist, dürfen wir ihre Zahlenverhältnisse und deren Auswirkung auf unser psycho-physisches Befinden nicht unterschätzen. Die Bachsche Musik dürfte dies bestätigen.

5.8. Tonalität als organisch-differenzierte Ganzheit

Schon die schematische Form der akustischen Welle, wie sie im Physikbuch steht, eignet sich zum chinesischen Tai-ki-Zeichen der polaren Ganzheit und Integration der Gegensätze. Aus dem Potenzbereich der über 16000 Frequenzen oder mathematisch möglichen Töne aktuiert der musizierende Mensch die für das menschliche Ohr charakteristischen Ton- und Leitersysteme. Diese, dem menschlichen Hören entsprechenden Toneinteilungen, stimmen auffallenderweise mit den vom Kosmos abgeleiteten Proportionen überein. Man erkannte, dass die auch durch das Ohr ausgezeichneten musikalischen Intervalle (Oktave, Quint, Quart) Verhältnisse der ersten drei Grundzahlen 1, 2, 3 darstellen. Danach richtete man auch den Bau von Tempeln, Pyramiden und die Dinge des täglichen Lebens ein.

Die Zahl ist heilig, weil Mittel der Re-ligion, das heisst der Verbindung mit dem Kosmos und seinem göttlichen Ursprung. Sie ist das Mass aller Dinge und regelt den Weltlauf. Die beiden Urkräfte der Welt, das himmlische und das irdische, das helle und das dunkle, das männliche und das weibliche Prinzip sind verkörpert in den ungeraden und geraden Zahlen.

Der chinesischen Sage nach liess der Kaiser Huang ti eine Flöte aus Bambusrohr von einem Fuss der damaligen Masseinheit schneiden. Die Teilung des Rohres im Verhältnis 2:3 ergibt eine geschlossene Kette von 23 Quinten, die sich in der Oktav des Ausgangstons schliesst. In der Folge der ungeraden und geraden Töne zeigt sich das Walten des Yang und Yin, des männlichen und weiblichen Prinzips, die im Ausgangston sich vereinigen. Aus der 5-Ton-Reihe erstellte man 5 verschiedene 5er Tonleitern mit entsprechender kosmischer und menschlicher Charakterisierung.(7)

Die universale Wiederkehr der Oktav, Quart und Quint bei den verschiedensten Völkern ist auffallend. Mehr als an der Melodie haftete das Ethos auch der griechischen Musik an der Zuordnung: Haupttöne - Gestirne. Alle Musik war zunächst kultisch, und die Zahlensymbolik liegt noch weiter zurück als Pythagoras. Wahrscheinlich wurden die Zahlen der Religion und des Mythos, die mit dem Wesen der Gottheit und der Uroffenbarung zusammenhängen, durch die musikalischen Entsprechungen bestärkt. In diesen Symbolzahlen ist eine suchende Metaphysik am Werk, ein Ueberbegriffliches und Bildhaftes, das über sich selbst hinaus weist.(8)

Musik ist schöpferisch, schon von ihrer physikalischen Grundlage aus. Im Handbuch der Musik mag man lesen, dass der Ton, wie er physikalisch gegeben ist, umgebildet wird. Genau genommen ist jedoch das, was physikalisch gegeben ist, überhaupt noch kein Ton. Dieser ist im eigentlichen Sinne durch das Ohr eine Schöpfung des Geistes. Die energetische Welle ist zwar, aber auch nur, potentieller Ton. Seine Aktuierung stellt einen Uebergang

vom relativen Nicht-Sein zum Sein dar. Zwischen beiden besteht nur eine Entsprechung analogischer Art, bei der die Unähnlichkeit des Nicht-Seins im Vergleich zum Sein grösser ist als die Aehnlichkeit, wie sich das auch in den höheren analogischen Verhältnissen der Philosophie und Theologie erweist.

Deshalb kann der Ton nicht adäquat durch die mathematische Frequenz bezeichnet werden. Die höhere Stufe des Tones transzendiert bei allem darin Verankert-Sein die niedrige Stufe der akustischen Welle. Ein ähnliches schöpferisches Transzendieren des Physikalischen ins universal Geistige ereignet sich durch die "Temperierung" unseres Tonsystems. Erst dadurch wird Harmonie und Konsonanz im grossen Stil über viele Oktaven hin möglich.

Die Griechen bezeichneten die Beziehungen der einzelnen Töne unter sich und zum Grundton als Dynamis, das heisst als Potentialität oder gerichtetes Vermögen. Infolgedessen ist das Intervall oder der Tonsprung nicht nur ein örtlich-mathematischer Abstand zwischen zwei Tönen, sondern eben ein inneres Vermögen, ein Gerichtetsein der Dissonanz zur Konsonanz und von dieser zum weiteren harmonischen System. Nicht die Folge von Tönen, sondern das "die Töne Verbindende", beschäftigte bereits Scotus Eriugena.(8)

Der Obertonreihe nach bietet sich zunächst als wichtigstes Intervall die Oktave an. Die Unterteilung der Oktave verläuft über die Hauptstufen Quarte und Quinte bis zum letzten Ganz- und Halbton zweiteilig. Grundlegend ist die über verschiedene Stufen und Leittöne führende Dynamik oder Potenz der Spannung nach Entspannung und Ruhe im Grundton.

Musik ist die Idee der Welt (Nietzsche). Das heisst sie steht gleichnishaft in einem abbildlichen oder analogen Verhältnis zu den existenziell ontologischen Beziehungen, wie sie bestehen zwischen Gott und Welt und zwischen den verschiedenen Seinsstufen innerhalb der Welt. Aufgrund dieses Zusammenhanges wird heute Musik zur Sanierung gestörter Psyche und Umweltbeziehung mit Erfolg heilpädagogisch eingesetzt (besonders Musik von J.S. Bach).

Davon wussten schon das Altertum und die Kirchenväter. Musik ist der zeitliche Abglanz der ewigen Harmonie. Sie lässt den Menschen Anteil nehmen an der Schöpfung. Heilung kann nur aus dem Ganzen geschehen, indem durch Vereinigung der Gegensätze das Gleichgewicht wieder hergestellt wird oder, musikalisch ausgedrückt, durch Auflösung der Dissonanzen im harmonischen Grundakkord. Dieser liegt als Uridee oder als harmonikale Urform im kollektiven Unbewussten und vermag durch Psychoresonanz wieder reaktiviert werden.(9)

Die Körperlichkeit des musikalischen Vorgangs fördert die natürliche aber stets bedrohte Einheit von Leib und Seele. Im Hauch des Gesanges vollzieht sich die unmittelbare Begegnung von Leib und Seele. Die Möglichkeit, sich musikalisch betätigen oder als Empfänger engagieren zu können, hat reinigende und belebende Macht.

Indem Musik die Schöpfung wiedespiegelt, fügt sie den Menschen ins lebendige Ganze ein. Das zeigt sich schon bei der äusseren Ausübung, indem die Musiker Kon-zertieren. Dieser Vorgang des solidarischen Lebens wird vom Künstler auf die Kunstempfänger übertragen.

Musik ist die Kunst des vitalen Elans und der vereinigenden Integration. Mann kann Schizophrene ohne Schwierigkeit Hunderte von Zeichnungen machen lassen, aber man hat noch nie eine musikalische Komposition oder Improvisation von ihnen erhalten. Schizophrenie ist die Krankheit des vitalen Elans, und der ver- hinderten Integration. Zwischen der Musik, der Kunst des vitalen Elans, und dem Schizophrenen, dessen Lebensenergie langsam bis zur autistischen Unbeweglichkeit versiegt, dürfte eine absolute Unvereinbarkeit bestehen.

Mit Hilfe der rituellen Musik wurden in China die Volksmassen diszipliniert. In der Gefahr kollektiver Unruhen bestanden die Mandarine auf der Pflicht zur Musik der Selbstbeherrschung und Mässigung. In Afrika bestimmt die Musik seit Menschengedenken den Rhythmus der Arbeit. Ohne Musik keine Aussaat. Eine Reihe von Musikern vor sich, übergeben die Feldarbeiter auch in Reih' und Glied in sehr beschleunigtem Rhythmus, wie hingerissen von der bedeutsame Parade, den Samen dem Erdboden. Ausserdem ist die Musik in Afrika, in Zentralamerika und in Indien Kunst der Ahmung, um Regen fallen zu lassen. Ob der Regen fällt oder nicht, eines ist sicher: der Priester oder der Zauberer kommt kaum auf die Idee, mit einem Bilde regnen zu lassen, und wäre es auch eine Darstellung der Sintflut.

Musik ist die Kunst, die den, der sie erzeugt, und den, der sie hört, zur unvergleichlichen Einmütigkeit führen kann. Und das ebenso spontan wie jede Einzelbewegung innerhalb der Musik selbst ihren Sinn aus der Stellung zum Ganzen bezieht. Geistesgeschichtlich stellt ihre Form einen, zu unserem Verständnis nützlichen, Zeitspiegel dar.

5.9. Von der äusseren Struktur zur transzendenten Seele der Musik

Ist das Mysterium der Musik überhaupt begrifflich zu erfassen? Das an sich Unauslotbare kann nur umschrieben werden und setzt kontemplative Offenheit voraus. Aber dazu müssen wir uns erst den Zugang verschaffen.

Unsere Zeit ist paradox. Das Wahre aus der Vergangenheit ist uns durch den "Fortschritt" verlorengegangen, aber dem Irrtum von gestern bleiben wir so treu ergeben wie zuvor. Unsere Zeit vertraut einseitig der rationalistischen Methode. Die geistigen Väter der Neuzeit, Descartes und Kant, haben, wohl vom Laboratorium der fortschritttlichen Naturwissenschaft angeregt, den Menschen und seine Welt auch geistig seziert und in zwei Hälften geteilt: in eine geistig subjektiv innere und in eine materiell objektiv äussere.

Damit war es geschehen um das polare Verhältnis, um die aristotelische entelechiale Ganzheit und um die Beziehung zur Transzendenz. Die Summe der Teile ist aber noch nicht das Ganze. Davon ist bis heute auch die Musiktheorie bedroht. Sie kann, anstatt vorwiegend vom Geist, einseitig von den äusseren musikalischen Strukturen und Formen betrieben werden mit dem Ziel der technisch musikalischen Perfektion.

Musik als Symbol ist und bleibt vielfach zerbrochen. Wir halten ein Bruchstück Musik in Händen, dem die Empfangsmöglichkeit des göttlichen Geistes erschwert, wenn nicht versagt bleibt. Wir lassen zwar nach wie vor die Gefässe der Tonkunst erzittern, aber sie bleiben oft leer, weil das lebendige Wasser oder der göttliche Wein fehlen. Schon in der Spätromantik und im Impressionismus hinterfragte auch der Hörer nicht mehr die intentionale Rückseite, die Gestalt, sondern oft nur die klangliche Vorderseite. Jetzt konnte Kants Definition der Musik vom "spielenden Schein" wahr werden. (10) So kam man zwangsläufig zur Atonalität. Webern konnte erklären: "Wir haben das neue Gesetz nicht selbst geschaffen, es hat sich uns übermächtig aufgedrängt". (11)

Der Eindruck eines Dur-Dreiklanges ist nicht nur sinnfällig. Es ist nach Brentano ein Intentionales, Zielendes dabei, das zur Metaphysik führt. Selbst der Physiker L.Euler betont, dass Musik schliesslich nur von der Metaphysik her zu verstehen ist. (12)

Der Begriff des Intentionalen oder Gerichtetseins geht bis auf Aristoteles zurück. Nach Augustinus empfindet der Mensch als Ebenbild Gottes über die sinnlichen Einzelwahrnehmungen hinaus durch seine "intentio animi" der Töne inneren Sinn. So spricht auch Scotus Eriugena von einer "Musik", die sich im Zusammenhang mit der Komposition "um die Klänge herum bewegt". Mehr als musikalische Form, ästhetische Erkenntnisse und Kunstmittel bringt die Gestalt als Seele eines Musik- oder Kunstwerkes Urbildliches zur Darstellung. (13)

Die geistige Gestalt setzt das sinnfällige Leibliche voraus und bildet eine unzertrennbare Einheit mit Klang, Melodie, Polarität und Symbolzahl, geht aber über das nur Logische und Perspektivische hinaus ins Alogische, Aperspektifische, wo die Bedeutung der Intervalle und der Zahlen und alles Andere erst geistig erlebt und vollzogen wird. So kommt es vom Entlanghören zum Hindurchhören. Ueber die klangliche Einzelphänomen dominiert eine übergreifende Sinneinheit, so dass das Ganze nicht mehr zerlegbar, sondern als einmalige Gestalt erscheint.

Das intentionale in der Liebe und in jedem Kunstwerk lässt den Menschen vom Selbigen ins Andere gelangen, sich selbst transzendieren um das Ich im Du wiederfinden. Das kommt dem Uebergang vom relativen Nicht-Sein zum Sein gleich, kurz einer Verwandlung, durch die der Mensch sich schöpferisch erneuert, die wichtigste und gesündeste aller menschlichen Funktionen. Die Musik ging wohl der Entdeckung des Feuers voraus, weil der Mensch ihrer so bedarf.

Das Auge bleibt an die Raumdimension gebunden, während das Ohr von der dreidimensionalen Körperlichkeit befreit als ein psychoides Organ gelten kann. Damit hat das Gehör bereits die Tendenz, das alltägliche Bewusstseinsniveau zu transzendieren. Der Mensch tritt damit aus sich selbst und seiner Welt in eine Richtung, die im konventionellen Raum nicht enthalten ist. Der Widerhall, den Musik in uns findet, verrät eine Subjekt und Objekt umgreifende transzendente Ordnung. Unser Ohr ist auf die energetisch-akustischen Wellen und der darin erzeugte Ton auf das geistig musikalische Erleben angelegt. Indem die Seele mitschwingt, bekundet sie, dass ihr ein Urbildliches gegeben ist. Mehr als zur Verschönerung des Lebens dient Musik uns zur notwendigen Verbindung mit dem Seinsgrund.

In diesem "wissenden Hören" ist nach Augustinus jeder Grad von Transzendenz denkbar. Als entscheidend darin bezeichnet er das "reine Herz". Die Gesinnung soll die ästhetischen Formen "ausglühen". Der Höhrer brauche sich nicht mit der kunstvollen Melodik zu beschäftigen, vielmehr könne ihn diese zum Fluge erheben.(14) Diese ethische Auswirkung des Kunstwerkes mit seiner alles durchleuchtenden und verbindenden Strahlkraft hat allerdings auch die entsprechende Gesinnung des Komponisten und der Ausführenden zur Vorraussetzung. Musik kann auch übertrieben und ausschweifend sein. Weil die Griechen neben der Katharsis oder Läuterung im Spiel auch den wilden, dithyrambischen Ausdruck kannten, wurde die Musik zum allgemeinen Wohl staatlich überwacht.

Das intentionale Hören hebt die Musik aus ihrer akustisch zeitlichen Begrenztheit heraus und macht sie zu einem Akt, zu einer Haltung, die man erlebt und nach der man lebt. So wird Musik auch für den Nicht-Musiker, wenn er nur geistig ist, zum persönlichen Vollzug, zum geistigen Vorzug, der im Menschen die Sehnsucht nach vollkommener Gestaltung des Lebens weckt. Das geistige Erfassen ist wie das sinnliche Hören bildungsfähig. Dazu meinte schon Aristoxenos von Tarent, ein Schüler des Aristoteles: "Mit dem Gehör prüfen wir die Grösse der Intervalle, mit dem Gedanken untersuchen wir die jeweilige Bedeutung derselben".(15) Haydn erklärt von einem seiner Instrumentalstücke, "dass es dem Unerfahrensten den tiefsten Eindruck in seiner Seele erwecke". (16)

Gerade die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Klanges verleiht ihm eine unvergleichliche Akutalität durch die Hingabe an den Augenblick.(17) Oberflächlich betrachtet, ist der Augenblick das Vergänglichste, aber als geistiges "Jetzt" erfasst, ist er die Ek-stase über dem sinnfälligen Fluss der Zeit, der uns mögliche Zugang zum Ewigen, zum Nichtverklingenden und Nichtverlierbaren. Deshalb enthält alle gute Musik bei aller Zeitbedingtheit auch Ewigkeitscharakter und ist immer spielbar. Aus dieser geistigen Tiefe des ewigen "Jetzt" kommt das Faszinosum der Musik. Als Augenblick der Ewigkeit befreit die Musik vom Gewicht der Dinge, von ihrer Härte und ihrem Schmutz. Sie lässt Nacht werden über die Welt der Objekte. Sie vergeistigt unseren Leib und entproblematisiert die Lage. Man atmet und lebt auf und vergisst. Alles wird zugedeckt: Die Erde mit der Geometrie, den Zahlen, den Mauern, der Hässlichkeit (H.Michaux.)

5.10. Der gemeinsame Grund der Oralkunst und der Oration

Nach der Etymologie ist die Musik die Kunst der Musen. Danach verdiente jede Kunst, Musik genannt zu werden. Nachdem die Sprache diesen Titel der Tonkunst reserviert, deutet sie an, dass diese die eigentliche Kunst ist. Im Worte Muse glaubt man eine indogermanische Wurzel zu finden, die Erregung und Freude bedeutet. So bestätigt die Etymologie der Musik den Charakter des Jubels, der zur transzendierenden Ekstase führt.(18)

Musik wird allgemein als eine Sprache bezeichnet. Aber wenn Sprache, dann mit wem? Beim Zusammenklang zweier Töne schwingt ein tiefer Grundton mit, zu dem die beiden Obertöne sind. Unwillkürlich denkt man dabei an das höchste Analogon des Herrn: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt, da bin ich mitten unter ihnen". Eingangs hat sich das Kunstwerk als ein "Teil" einer ihm übergeordneten höheren Einheit erwiesen, ähnlich der Erde, die sich um sich selbst, aber auch um die Sonne dreht. Solcher Art ist auch das Verhältnis der Musik zum Göttlichen.

Die Völkerkunde stellt fest, dass es weder musiklose noch religionslose Kulturen gibt. Musik ist stets tief verbunden mit der kultischen Handlung. Sie ist das Symbol der göttlichen Gaben: Sonne und Regen, Befruchtung und Ernte, Leben und Tod.

In China bringt die Musik die Zweieinheit von Himmel und Erde zum Ausdruck; sie erhält ihre Wirkungskraft vom Himmel. In einer altindischen Sanskritstelle und ähnlich in Aegypten ist Musik einem Opfer an die Gottheit vergleichbar.(19)

Als Symbol im oben definierten Sinne des Wortes kommt Musik bei Platon zur Geltung. Durch die Ergriffenheit, die die Musik ausübt, wird der "Heilsbedürftige" offenbar.(20) Auch nach Aristoteles übt die Musik eine "ethisch-religiöse" Wirkung aus. (21)

Nach ältesten indischen Quellen wird der Ursprung der Musik dem Schöpfergott Prajapati, in Aegypten dem Osiris, in Griechenland dem Apollo, Dionysos und Orpheus zugeschrieben. Andere Mythen der Kulturvölker berichten vom Urlaut, der die Erschaffung, den Eintritt ins Leben begleitet oder aus dem Himmel und Erde entstehen. Musik ist Lebensfunktion und ist unlösbar mit dem Leben verbunden. (22)

Herder und Schelling definieren Musik als Offenbarung des Unsichtbaren oder des Unendlichen. Beethoven sieht in ihr eine höhere Offenbarung als in der Philosophie. Beim Anhören Bachscher Musik kommt es Goethe vor, "als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt erschafft".

Der Gesang ist der Musik vornehmster Teil, die unmittelbarste aller Künste. Er ist die einzige Kunst, die auf der Atmung, dem Urrhythmus unseres Menschseins beruht, der unsere Zeit bedingt und misst, während soviel anderes heute gegen die innere Zeit läuft und ihre hierarchische Ordnung zerstört. Darin liegt die anthropologische Wichtigkeit des Gesanges.

Der Gesang ist die eigentliche Oralkunst. Im Lateinischen heisst os, oris der Mund. Und orare heisst beten. Ursprünglich heisst also den Mund öffnen, beten. Wer seine Stimme ertönen lässt, richtet sich an das Du, grundsätzlich an das erste und letzte Du Gottes, das heisst er betet. Das Gebet ist also die geheime Wurzel der Sprache, die absolute Sprache, die heilige Sprache.

Wer aber die Stimme erklingen oder ertönen lässt. der singt. Auch das sogenannte " gesprochene Wort" hat seine Satzmelodie. Bei besonders intuitiv veranlagten Völkern, etwa bei den fernöstlichen, ist diese ausgeprägter als bei uns.

Zur Erschaffung der Welt liess Gott, nach der Bibel, seine Stimme erschallen. Aus den Schwingungen der Stimme Gottes, aus dem Gesang der göttlichen Liebe entstand die Welt. Die Schöpfung erwidert diese Liebe des Schöpfers am vollkommensten wiederum durch die Gebetsstimme der Musik. In ihr vereinigen sich deshalb die Menschen noch am leichtesten unter sich und mit Gott. Diese vereinigende Kraft entdeckten die Alten auch in der Harmonie der Sphären. Ihre reinigende Kraft erleben wir heute noch in einer ihrer Höchstleistungen: in den reichen und einzigartigen Melismen des gregorianischen Chorals, der Anfang und Wurzel der Kunstmusik innerhalb der abendländischen Kultur ist. Im Psalm 28 singt die Liturgie: "Die Stimme des Herrn schallt über den Wassern; der Gott der Herrlichkeit ertönt im Donner". Bibel und Liturgie enthalten die erhabenste Deutung der Musik. Sie ist weit entfernt von der musikalischen oder paramusikalischen Welt von heute. Machen wir aus der Uebung des Vergnügens eine Uebung der Weisheit, was die Musik im Prinzip eigentlich sein will. Was immer den Namen Kunst verdient, ist beim Heiligen beheimatet; während das, was als sakral bezeichnet wird, auch Täuschung enthalten kann. Die Kunst ist heilig, indem sie die Materie verwandelt udn transzendiert. (23)

Das alte Testament lebte in hervorragender Weise vom Geheimnis der Musik. Elisa, der Prophet, sprach: "Schafft mir einen Harfenspieler herbei!" Als der Spielmann die Saiten rührte, kam die Hand des Herrn über den Propheten, und er sagte:

"So spricht der Herr: Machet.."(24) Auch in den Apostelbriefen des Neuen Testaments lesen wir oft Ermahnungen zum Singen. "Jubel ist ein Klang", schreibt Augustinus, "durch den das Herz etwas hervorbringt, das es nicht zu sagen vermag. Und wem gebührt dieser Jubel, wenn nicht dem unaussprechlichen Gott! Ja, unaussprechlich ist er, du bist unfähig, von ihm zu reden. Wenn du ihn aber nicht in Worte fassen kannst und doch nicht schweigen sollst, was bleibt dir übrig als zu jubeln, so dass dein Herz ohne Worte frohlockt und die unermessliche Weite der Freuden keine Eingrenzung durch die Silben kennt."(25)

5.11. Beethoven als Musiker proto- und eschatologischer Spannung

Es mag zur Illustrierung der theoretischen Analyse nützen, die intentionale Geistigkeit der Musik an einem konkreten Beispiel aufzuzeigen. Die Betrachtung soll also nicht der musikalischen Form, sondern der sie umgreifenden entelechialen, das heisst zielgerichteten Sinngestalt gelten. Die Wahl fällt auf Beethoven, weil sein Lebensgefühl und Lebenswerk von der Klassik bis in unsere Zeit hineinreicht. Mozart kennt ohne Zweifel die Spannungen menschlicher Existenz, aber, darin Bach ähnlich, mehr noch die Zeitlosigkeit und überweltlich göttliche Heiterkeit.

Die Lehre (Leere) vom Menschen ist eine mit "h" und zugleich mit zwei "ee" geschriebene. Letztere im aszetisch mystischen Sinne verstanden, ist Voraussetzung der Wirksamkeit Gottes am Menschen. Solche Leere wirkt geradezu attraktiv auf die Schöpfertätigkeit Gottes. Beethovens eigentliche Thematik ist, wie es an seiner 5. Sinfonie näher gezeigt werden soll, die von der Schöpfung aus dem Nichts, wie Gott sie am Anfang, am Ostermorgen und bei der Auferstehung der Toten zum ewigen Leben schenkt. War Beethoven dafür nicht der grosse Prädestinierte, indem er, ins Nichts der Taubheit gehalten, der Menschheit grösste Tonwerke schuf?

Das Verständnis des Einzelwerkes, wie es die 5. Sinfonie ist, lässt sich am besten aus dem Vorverständnis des Gesamtwerkes oder, weil das hier nicht möglich ist, aus der Sicht des Spätwerkes erleichtern.

Beethovens Werk verläuft in einer grossen Linie über alle Selbstbekenntnisse und Erlebnisse hinaus ins Kosmische und Heilsgeschichtliche. In ihm reflektiert sich die Urform des Werdens, des Kampfes und des Siegens. Schon in den Klaviersonaten bietet sich ein ungewöhnlicher Reichtum des Empfangenen an.

Beethoven beschliesst sein Lebenswerk mit 5 Streichquartetten (mit einer androgynen 5), mit einer Folge prophetischer Visionen, in denen man sich in den Reinigungsort Gottes oder in die zukünftige Menschheitsgeschichte versetzt glaubt: ein Beschauliches, Drängendes und Stürzendes, das allerdings von Moll nach Dur hinüber glänzt oder sich in ein Tanzfinale verwandelt.

Kehren wir nun vom Absprung ins göttliche Elisium zum Ursprung zurück, den man unter anderem in der 5. Sinfonie entdecken kann. Vorauszuschicken ist, dass Deutungen unverbindlich sind, zumal in jedem Kunstwerk, ähnlich wie in der prophetischen Rede vom Unbewussten aus verschiedene Aussagen beabsichtigt sind. Weil das Kunstwerk zum grossen Teil dem Unbewussten entsteigt, ist an sich vom Künstler aus eine Deutung weder beabsichtigt noch gewusst. Und was rational in Worten ausgedrückt werden kann, ist wenig im Vergleich zur Weite und Tiefe der Intuition. "So pocht das Schicksal an", bemerkte Beethoven zu seiner 5. Sinfonie. Der Meister mochte darin sein eigenes Schicksal meinen. Beethoven spricht vom "Dichten" in Tönen. Wie grosse Dichtung Allgemeingültigkeit erreicht, so impliziert Beethovsche Musik Philosophie, Welt- und Heilsgeschichte. Sie führt vom Dunklen ins Licht und durch den Kampf zum Sieg.

Woher kommt es nur, dass die 5. Sinfonie anerkannterweise von so überzeugender Kraft und vollendeter Ganzheit ist? Es liegt an der ungewöhnlichen Strengheit ihres inneren Gesetzes. Dieses lässt sich schon äusserlich an der konsequent einheitlichen Handhabung des Rhythmus nach den grossen Symbolzahlen des Mythos 3 und 4, 6 und 7 feststellen. Diese Zahlen stehen nach ihrem im Unbewussten geprägten, uralten Symbolwert für Schöpfer und Welt, Schöpfung und Gott oder Christus. Schon aufgrund dieser, dem Unbewussten vertrauten, Zahlen ist die 5. Sinfonie so universal verständlich und einprägsam, so erlösend und welterobernd. Als Ausdruck des Logos ist sie eine geistige Macht.

Ihr Hauptmotiv: Ausgang der Schöpfung von Gott - Krise und Erlösung - erkämpfte Rückkehr zu Gott, kommt durch die intervallischen Umdeutungen des Grundmotivs zum Ausdruck. Dieses bildet zu Beginn der Sinfonie den fallenden c-Moll-Dreiklang, beginnend mit dem Abstieg der 3 Achtelsnoten in G zur halben Note in Es: Gott steigt hinab zur Weltschöpfung (die 3 zur 4), um diese aus der Krise wieder heimzuholen über den steigenden C-Dur-Dreiklang.

In der grossen, einfachen Linie der Entwicklung des ersten Satzes, mit ihrer durch alle Figuren und Ornamentik hindurchwirkenden Thematik, reflektiert sich die Urform des Werdens. Auf den vielfältigen Anruf des Schöpfers "Es werde!" erfolgt die Kosmogonie mit ihren feurig strömenden Sonnenexplosionen und antwortet die Phylogenese der Lebewesen.

Die bis ins Kleinste reichenden Variationen mit ihren melodisch harmonischen und rhythmischen Veränderungen und klangfarblichen Schattierungen verlaufen nach der Schöpfungszahl 6 mit ihren 12er- und 24er-Läufen. Der erste Satz schliesst mit 4 und 12 (3x4) oder der Welt in Gott.

Der zweite Satz reflektiert die Andacht der Kreatur und die Anbetung des Menschen. Ehrfurcht, Ergebenheit und Sehnsucht entwickeln die mächtig steigenden 6er-Rhythmen, mit herrlichem Durchbruch nach C-Dur und zum 3er-Rhythmus Gottes. Das Finale weist die Zweipoligkeit des Menschen mit der Weltzahl 4 auf: die Menschen und weltverbindende Kraft der Freude aus dem Göttlichen.

Mit dem imponierenden Bassgesang der Streicher illustriert der 3. Satz nach seiner Eröffnung das menschliche Schöpfertum im grossen Arbeitsrhythmus des Mannes. Dabei wird das göttlich gestufte Anfangsmotiv auf gleiche Tonhöhe eingeebnet. Dieser weltlichen Welt sind zaghaft leise, fragende 3er- und 7er-Rhythmen eingeflochten. In einer leeren Stille ertönt das Fagott wie die Solostimme des alten Weisen und fragt in einem nachdenklich stimmenden Melos von 21 und 9 Tönen nach der Transzendenz (3x7 und 3x3).

Danach erfolgt die Krise, ausgedrückt im Pianissimo der dumpf grollenden Paukentöne und im aufgelösten, punktförmig räsonierenden Rhythmus, der drohend anschwillt und sich zusehends triadisch reorganisiert, um einem gewaltig einfallenden Triumphgesang Platz zu machen, einem mächtig aufgestuften 4er-Lauf und den ebenso siegreich ansteigenden 6er-Läufen, die ihre Höhe in 3maligen 12er-Läufen (3x4: Gott in Welt) erreichen. Im Orchester ertönt eine virtuelle 13 (Christuszahl) als ausgehaltene 12, was ganz der diskreten sich nicht aufdrängenden Erscheinung Christi entspricht.

Was soll man in diesem Höhepunkt der Sinfonie sehen? Ganz allgemein die Ueberwindung der menschlichen Krise, den Durchbruch aus der Dunkelheit ins Licht; noch mehr aber die Ueberwindung der Stunde der Finsternis auf Golgatha durch die Auferstehung und den sich anschliessenden Kampf der guten und bösen Mächte und Gewalten bis ans Ende der Zeit.

Das zähe Ringen des 3. Satzes endet siegreich in C-Dur. Vorher stehen die 4er- und 6er-Rhythmen miteinander im Kampf: die weltliche Welt (4) mit der Schöpfung (6). Die Symbolzahlen 4 und 6 überbieten sich gegenseitig. Im ethischen Ringen wandelt sich die Dissonanz in Konsonanz und das Leiden in Freude; indessen formiert sich nach dem Auftritt der 3 ein variierendes 7er-Melos. Dieses tritt im Finale, alternierend von Streichern und Bläsern gespielt, wieder auf, um dann über eine skandierte Doppel-6 oder 12 (3x4) in den monumentalen 7 Schlussakkorden, der Zahl des transzendenten, unwandelbaren Seins auszuklingen. Diese endgültige 7 ist zugleich androgyn rhythmisiert: 2 und 3 und 2: die Komposition des ganzheitlichen Menschen, im immanenten und transzendenten Gott. Was soll man mehr bewundern: das siegreiche Melos oder den entelechialen Rhythmus? So wird der Kosmos einmal in die Arme seines Herrn stürzen.

Nach all dem ist Cassiodors Definition von der Musik als der "Disziplin, die von den Zahlen handelt" nicht mehr so befremdend. Hinter der Note steht ein geistiges Wort, hinter dem Motiv ein Anruf und hinter dem Thema eine Gestalt. Das Ganze bemächtigt sich unser und trägt uns fort. "In der Kunst", schreibt Hegel, "haben wir es mit keinem bloss angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern... mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun." 26)

Solche Musik vermittelt das Göttliche auch dort, wo keine Religion und kein ausdrücklicher Glaube mehr wäre: sie ist die Kunst immerwährender Vermählung, die Liebe ohne Bindung und Vertrag, der königliche Weg, auf dem das Unmöglichste möglich wird, die Sehnsucht ohne Verwirklichungen, ob der einen Verwirklichung der selbstlosen Leere vor Gottes gnädiger Allmacht.

5.12. Atonalität: Diskrepanz oder Usurpation

Nach Aristoxenos von Tarent (zirka 350 v. Ch.) ist unser Musiksystem der Diatonik älter als Chromatik und Enharmonik. Nach jenem sind Quint und Quart, aufgrund unseres Gehörs, innerhalb der Oktav (3/2 x 4/3 = 2/1) das Fundament unserer Tonwelt. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Zahlen, indem man sie addiert anstatt dividiert, die Zahl des androgynen oder ganzheitlichen Menschen (3 + 2) und die Zahlen des transzendent Absoluten ergeben (4 + 3; 2 + 1). Aufgrund dessen ist Musik seit jeher eine sinnvolle Gestalt. Die ihr zugrunde liegende Tonleiter ist durch die Relation eines jeden ihrer Töne zum Grundton charakterisiert. Die Töne und ihre Verbindung sind nur vom Grundton aus möglich. Diese tonale Bezüglichkeit ist dem Bewusstsein, abgesehen vom Ohr, aufgrund von naturgegebenen Schwingungsverhältnissen gegeben.

Musikalische Form verwirklicht sich demnach ganz nach dem doppelten Gesetz der ontologischen Potentialität: als Ordnung, Reihung, nach denen eines auf das andere angelegt ist, oder als Entwicklung, indem eines aus dem andern hervorwächst. In beiden Fällen ist musikalische Form nicht Addition, sondern dynamische Beziehung, die über sich hinausweist.

Warum sind die Töne also nicht beliebig konsonant? Weil unser Ohr und Bewusstsein sie nur unter der Bedingung einer bestimmten zahlenmässig darstellbaren Ordnung konsonant sein lässt. Diese Zahlen stehen auch nach ihrer mythisch-geistesgeschichtlichen Bedeutung für polares Gleichgewicht, androgyne Ganzheitlichkeit und für das transzendent Göttliche.

Wie Goethes Faust rück- und vorschauend die literarische Entwicklung eines Jahrhunderts zusammenfasst, so auch Beethoven durch seine letzten Streichquartette jene der Musik. Ist es nicht aufschlussreich zur Beurteilung der Musik unserer Zeit, dass die ersten Symptome einer schwankenden Tonalität bei einem moralisch Erschütterten zu suchen sind, der ob seiner Taubheit der Gefangene einer "atonalen" Mitternacht war? Ob auch hier, wie in der Heilsgeschichte, Gott aus dem "tiefsten Schweigen und inmitten der Nacht sein allmächtiges Wort" senden wird? (Laudes von Weihnacht.)

Was beim geistig und religiös hochstehenden Beethoven nur von aussen durch äusserstes Leiden verursacht werden konnte, geschah an seinen Nachfahren durch die innere weltanschauliche Auflösung. Weil schon das 19. Jahrhundert zwar nach der musikalischen Form, aber nicht mehr nach der geistigen und religiösen Gestalt fragte, was das Abgleiten der Musik ins handwerklich Formalistische und oberflächlich Sensualistische nicht aufzuhalten. Die Musiker beherrschten zwar die Technik eines Tonsystems, dessen Geist ihnen jedoch entschwunden war. Bruckner, der seine 9. Sinfonie dem Lieben Gott gewidmet hat, steht als einsamer Repräsentant einer vergangenen Geistigkeit. Der langsame Satz dieses tiefergreifenden religiösen Bekenntnisses gilt als eines der erhabensten Gottesgespräche der Musik. Bruckner erweiterte die sinfonische Form durch ein drittes Thema und vereinigte die drei Themen in einem eschatologisch anmutenden Schlusssatz. Die moderne Tendenz hat dem gegenüber durch Neigung zu Kleinmotiven im "punktuellen Stil" zur Aufspaltung des Klangbildes geführt.

Diese findet bereits in Wagners Alterationsharmonik einen Ansatzpunkt. Zweideutig wirkte Wagners verführerische Verquickung von Eros und Religion, von Sagenelementen mit christlichen Zügen. Die schillernde Möglichkeit monistischer Vermischung wird auch in Wagners üppig reichem Klanggewand spürbar. Gibt es noch den reinen Klang des transzendent Göttlichen? Wo bleibt, fragt Claudel, die menschliche Stimme, wo die Flöte, wo die Bratsche? Es gibt sie nicht mehr in klarer Unterscheidung, sondern von all dem ein Gemisch.27)

Wo Transzendenz vollständig in Weltimmanenz und völkischen Ideen unterzugehen droht, wird die Illusion von Absolutheit und Gottgleichheit erweckt: Dann wird Heldentum zu Pathos und das Schöne zur Bezauberung im falschen Schein. Danach ist der tragische Untergang in "Tristan und Isolde" und in der "Götterdämmerung" die unvermeidbare Folge. Hat diese nicht im Selbstmord der beiden Weltkriege ihr dunkles Echo gefunden?

Wagners universaler Einfluss, dessen positive Seite an seinem unsterblichen Werk nicht in Abrede gestellt sei, bestärkte die Tendenz, Musik im falschen Sinn zu sakralisieren und einen Religionsersatz daraus zu machen. Im 19. Jahrhundert wurde Musik um ihrer selbst willen gemacht.28) Die Musik soll sich nach Debussys Worten damit begnügen, "Vergnügen zu bereiten". Von Beethoven meinte er, es wäre besser, wenn dieser taube Musiker nie geboren wäre. Das "Wie" überspielt bei Debussy das "Was". Dabei sucht dieser in Bildern, Tönen und Rhythmen einen Religionsersatz. Seine Zerfaserung und Zersetzung der Tonalität ist Ausfluss seiner Traurigkeit und Resignation, die ihn sagen lassen: "Die Kunst ist die schönste aller Lügen". Auch Mahlers Musik will auseinanderbrechen; sie wirkt verfremdet und ist von Verzweiflung umweht.29) Unüberhörbare Traurigkeit begleitet sogar den verdächtig lauten Jazz. Welt ohne Gott ist Lüge.

Was nun mit Schönbergs Atonalität heraufzog, muss nicht verwundern. Das Abschütteln der damaligen Art zu musizieren und die Sehsucht nach Erneuerung waren mehr als berechtigt. Aber was Schönberg brachte, war nichts Neues. Schönberg verlangte den Verzicht auf ein tonales Zentrum, aber man hatte schon längst keinen geistigen Grundton, keinen moralischen festen Punkt mehr. Schönberg verlangte Emanzipation der Dissonanz und ihre Gleichstellung mit der Konsonanz. Aber die geistesgeschichtliche Situation der Philosophie und liberalen Theologie war schon lange eine Kakophonie von Kantianischen Antinomien und Hegelschen Antithesen. Der Schlüssel zur Metaphysik lag lange schon, bevor Schönberg den Tonschlüssel wegnahm, hinter Kants eisernem Vorhang begraben. Und Hegel liess Schönberg wirklich nichts mehr übrig, indem er in seiner zackigen Dialektik längst schon die Modulation und Harmonie, das heisst die Potentialität als polare Zuordnung oder organisches Angelegtsein der Dinge, durch den dissonanten Aufprall von These und Antithese ersetzte. Schönberg kann sich mit Nietzsche trösten, denn dieser konnte auch nur aussprechen, was schon war: es stand alles offen, denn alles war schon erlaubt. In Europa waren einmal die Philosophen die "fortschrittlicheren" Musiker.

Schönberg forschte nach Originellem, nach bisher Ungehörtem und Unbekanntem und ging auf die Suche den nach dem neuen "inneren Menschen". Aber stiess er dabei nicht auf den alten, äusserlichen Geometer? Indem man zur Herstellung der Musik so systematisch die Mathematik vorausschickt, stösst man nicht abermals auf Descartes und schliesst damit wieder den westlichen Reigentanz?

Erschwert eine additive Konstruktionskunst nicht die Bewegungen der Seele, aus denen allein wahre Musik wird? Jene stammt aus der naturwissenschaftlichen Methode und kann selbst im Laboratorium nur an untergeordneter Stelle dienen. Ein Tonaggregat kann ein quantitatives Gleichgewicht darstellen, Musik ist aber qualitatives Gefühl und Sinnträgerin des Seins. Wird hier der Einzelton nicht zur ausschliesslich rationalen Zahleinheit erniedrigt und etwas verwechselt, was im Mythos arationale und aperspektifische Sinngestalt ist? Wäre eine Zahlenordnung nur quantitativ, diente sie nicht dem Geist und der Gestalt, sondern unterwürfe vielmehr diese und die Musik, anstatt ihnen zu dienen, der Mathematik. Weil Addition nur eine Summe ergibt, fragt man besorgt nach der musikalischen Ganzheit und ihrer Gestalt. Ohne innere Beziehung sind Worte noch keine Sprache und Stimme noch kein Dialog. Eine kollektive Gleichmacherei und ihre Atomisierung wäre das Martyrium des Geistes und die Auflösung der göttlichen und menschlichen Gestalt.

Schönberg richtet sich gegen die Individualität des Einzeltones, weil er prinzipiell gegen die Individuation des Menschen kämpft. Die Vereinzelung des Menschen wird bedingt durch die Materie, deshalb Schönbergs Kampf gegen die "Gewaltherrschaft" der Materie. Sein Ziel ist die "Löschung des Ichs" und das "Aufgehen im All". Dieser antithetisch einseitig überspitzte Spiritualismus könnte wie die Hegelsche Dialektik in ihr gegenteiliges Extrem umschlagen: in die Knechtung der Musik durch das Gesetz der materiellen Quantität.

Zum Schluss könnte herausschauen, was in Hegels "Synthese" liegt: nicht die polare Zweieinheit, sondern die Vermischung und Identifizierung der Gegensätze. Tatsächlich schreibt Schönberg, dass er sich "wirbelnd drehe". "Nur eines zeigt sich bald: dass das Neue mir so fremd und unverständlich erscheint, wie seinerzeit und zeitweilig das Alte; dass mir, solange dieser Zustand dauert, Aelteres verständlicher vorkommt, bis schliesslich das letzte Neue mir scheinbar vertrauter wird und ich zu verstehen aufhöre, wie ich früher anders als solches schreiben konnte".30) Liegt hier nicht eine Dialektik der Extreme, Spaltung und Vermischung vor? Man nannte die Atonalität schon eine "Robinsonade".31) Vielleicht mit einem Robinson, der mit Feuer löschen und mit Wasser anfeuern will. Man hat, wenn man die Theorie von Schönbergs Kollegen J.M. Hauer liest, den Eindruck von musikalischer Alchemie oder verirrter Mystik.

Hauer sieht in der bestehenden Kultur nur "Leichenhallen" und meint, das Häuflein Griechen haben damals alles verdorben.32) Die "reine Melodie" des atonalen 12-Ton-Spiels, frei von allem Sinnlichen, sei der einzige, geistige Akt im künstlerischen und wissenschaftlichen Leben des Menschen. Hauer sieht darin die Religion, die "Bewegung an sich" und die "Musik an sich", dass man den Eindruck hat, er meine das Absolute, das, was nur in Gott selbst sein kann. Wie im dialektischen Umschlag erklärt er wiederum: "Die atonale Melodie ist die absolute Sachlichkeit der Melodie".

Ein solcher Umschlag ereignete sich ohne Zweifel in der "Aleatorik", im auflösenden Gegensatz zur atonalen, seriellen Determination. Die Atonalität erscheint einem so oder so problematisch. Dennoch braucht die heutige Situation, wie sie mit Schönberg begann, nicht absolut sinnlos zu sein. Vielleicht zeitigt sie eines Tages, so wie aus der Dissonanz eine Konsonanz hervorgehen kann, eine neue Sinnfindung, einen wirklichen Neuanfang.

Aber schon heute ist sie als Antikunst und als Demonstration von der geistigen und moralischen Beschädigung der Welt sinnvoll. Sie kann bedeuten, dass eine materialistische Lebensart zu keiner Musik mehr fähig ist oder keine Musik mehr verdient. Sie erinnert zudem an die Methode der negativen Theologie. Nach dieser verneint man alle Aussagen über Gott im Bewusstsein, dass die adäquate Aussage ganz anders sei. Weil jedoch Gott selbst in menschlicher Sprache sich uns offenbart, darf jene Negation, ob unseres letzten Angelegtseins auf Gott, nicht absolut sein. So versuchen wir im Bewusstsein unserer grösseren Unähnlichkeit als Aehnlichkeit mit Gott, durch die Vielfalt der Worte unsere Aussagen zu verbessern. An unserem grundsätzlich doch und nur potentiellen Angelegtsein auf Gott selbst lässt sich aber weder im Sinne der Unähnlichkeit noch der Aehnlichkeit etwas ändern.

Es könnte nun auch in der Musik die Einsicht reifen, dass der Mensch sinnvollerweise nicht alles ändern kann. Er bleibt potentiell auf seine Umgebung, auf die Natur und das Absolute angelegt. Also sollte die Musik so oder so ihre Zuordnung auf die ursprüngliche Struktur der Schöpfung zu bewahren und zu entfalten suchen.

Der Mensch kann sich heute allerdings, indem er sich in den schwerelosen Raum begibt, der Gravitation entziehen. Abgesehen davon, dass es ihm auf die Dauer auch materiell nicht gut bekommen könnte, zeigte uns der aus der Bibel lesende Astronaut, dass sich der Mensch nur der materiellen, nicht aber der geistigen Gravitation entziehen kann. Auch in der Musik geht es nicht um ein materiell mathematisches Ordnungsspiel, sondern um den Geist. Die alte Weisheit eines Lü Schi Tsch-un Ts'in dürfte ihr Gewicht nicht verloren haben: "Die vollkommene Musik hat ihre Ursache. Sie kommt aus dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht entsteht aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem Sinn der Welt. Darum vermag man nur mit einem Menschen, der den Weltsinn erkannt hat, über Musik zu reden.33)

Anmerkungen:

5.13. Metamusik? - Heil und Unheil in der Tonkunst

Musik ist heute wie noch nie zu einer umstrittenen Erscheinung geworden. Untersuchungen machen deutlich, dass gewisse Musikwerke selbst den Ausführenden an Herz und Nieren gehen, dass sie Stresssituationen darstellen und die Lärmbekämpfung anfordern. Der Vers von Wilhelm Busch, "Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie mit Geräusch verbunden", gilt besonders im Zeitalter der Düsenmotoren und Presslufthämmer. Indem sich Musiker unter solchen Umständen ärztlich behandeln lassen und vor belastenden Aufführungen zur Dämpfung der Schmerzen und Darmspasmen Medikamente einnehmen, ist das musikalische und menschliche Problem noch nicht gelöst. Ist man nicht vielmehr auf ein, dem "klassischen" Lebensempfinden des Menschen angemessenes und ausgleichendes Musizieren verwiesen, das der Ueberwertung von Verstand, Erfolg und Leistung die Hochschätzung von Muse, Gefühl und Gemüt entgegenstellt?

5.14. Harmonikale Einheit von Kunst und Leben

Nach Platon ist Musik in der Ordnung des Kosmos und in den göttlichen Ideen vorgezeichnet. Die Musik ist somit der Versuch einer Annäherung des Diesseits an die jenseitige "Musik", an die letzte Ordnung und Harmonie des Alls. Für Augustinus ist alles Singen in der Sehnsucht des Menschen nach seinem unsagbaren Ursprung begründet. Leibniz erkennt in der Harmonie der Zahlen und in ihrer Entsprechung in der Musik das letzte von uns aus Fassbare der Weltharmonie. Kepler sieht die "Harmonie der Welt" in Verbindung mit dem menschlichen Hören und Musizieren. Nach Schopenhauer ist Musik eine metaphysische Uebung des Geistes, in der der Mensch philosophiert.

Nach dieser letzten Wesensbestimmung erwächst unserer zeitgenössischen Musik auch noch ein Sinn. Die bedrohlichen Züge des chaotischen, des vegetativ Angreifenden und Schockierenden, sind immerhin ein Alarmzeichen und weisen auf die Ungelöstheit unserer Existenz und auf die Gefährdung unseres Daseins. Vielleicht muss die Musik unserer Tage, um uns am tiefsten zu treffen und uns den Spiegel unseres Daseins vorzuhalten, selbst todkrank werden und doch gleichzeitig zum Leben anstacheln. Aber das transmusisch Schockierende ist so wenig ein normativ gültiges Modell des Musizierens als die antithetische Widerspruchsdialektik Hegels in der Philosophie letztlich wirklichkeitsfördernd, ist und eine Verbesserung der Lebensqualität zu bieten vermag.

Immer schon wurde Musik daraufhin untersucht, ob sie den Menschen leibseelisch beeinflusse. In der Antike haben Aerzte in der Musik ein Mittel gesehen, dem kranken Menschen zu helfen. Indem Apollo zugleich der Vater des heilkundigen Aeskulap und der Musen war, galt der Zusammenhang zwischen Musik und Heilkunst als gegeben. Nicht weniger verehrte man den göttlichen Sänger und Spieler Orpheus (phönikisch Aor-rophen, grosser Arzt) als der Heilkunst mächtig. Lautstärke, Rhythmus, Melodik und Instrumente wurden auf die spezifischen Wirkweisen, die sie auf die menschliche Stimmung ausübten, untersucht. Man wählte bei verschiedenen Leiden entweder das affektvolle, ekstatische Aulospiel, das besonders dem Dionyskult eignete, oder das harmonische, sanfte Lyraspiel. Mit beiden Musikarten wurde eine ordnende heilende Wirkung, eine innere Reinigung (katharsis) bezweckt.

Solche Bestrebung lassen sich bis in unsere Zeit verfolgen. In den USA hat man eine Kartei nach Eignung der Musikwerke für die Beeinflussung spezieller psychosomatischer Krankheitserscheinungen angelegt.1) Zudem erblicken neuzeitliche Denker, wie Kepler und Leibniz, in der Musik die Vollendung der Wissenschaft. Nietzsche spricht vom Musiker als dem "Bauchredner des Absoluten"(11).

5.15. Atonalität - Notschrei unserer Zeit?!

Nun stellt aber neueste Komposition alles in Frage, was bisher als Musik angesehen wurde. Man fragt deshalb mit Recht: Handelt es sich nur um die Suche des Unergründeten oder um die Pervertierung und den Verrat des bisher Gebräuchlichen ? Zur Beantwortung dieser Frage schaltet sich neulich die medizinische Wissenschaft ein.

Nach Birkmayer leben wir in einer schizothymen, das heisst spaltungssüchtigen Epoche. In allen Bereichen dominiert heute der Leptosome, das heisst der grosse, schmale Mensch, dessen Rationalismus sich von der Gemütsart des rundlichen Menschen abspaltet. Dem schizothymen Typ eignet die Dissoziation oder Aufspaltung in extreme Rationalität einerseits und in Trieb- und Instinktivierung andererseits.

Solche Spaltungserscheinungen feiern bei Komponisten wie Stockhausen, Boulez, Nilson und Penderecki, die bald als kinderleicht, bald als unaufführbar bezeichnet werden, ihren Triumph. Vom Gemessenen und Ausgleichenden des barocken, romantischen und klassischen Lebensgefühls ist heute wenig geblieben.

Musik ist not-wendig Ausdruck ihrer Zeit. Wollte man ihr nur aus dem Weg gehen, anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen, bedeutete dies eine verhängnisvolle Verdrängung, ein Nicht-ernst-Nehmen des Symptoms unserer Zeitkrankheit. Wie das Fieber nützlich ist zur Diagnostizierung der Krankheit, so die zeitgenössiche Musik zur Erkenntnis der Uebel unserer Zeit. In diesem Zusammenhang ist der Satz Adornos zu verstehen: "Die Unmenschlichkeit der Kunst muss die der Welt überbieten um des Menschlichen willen."2) Mit anderen Worten: Der Alarmschrei der Kunst soll uns noch mehr erschüttern als der Angstschrei der Welt, damit wir endlich zu ihrer Rettung Hand anlegen.

So verhängnisvoll eine Ueberwindung des Fiebers oder der Symptome ohne Bekämpfung der eigentlichen Krankheit ist, so unglücklich wäre eine Ausräumung zeitgenössischer Musik ohne Ueberwindung des dahinterstehenden perversen Zeitgeistes. Die ärztliche Umfrage unter Musikern erreicht also erst ihren Zweck, wenn sie uns mit der Erkenntnis von der Fragwürdigkeit einer gewissen Musik auch, und noch mehr von der Not-wendigkeit geistig moralischer Umkehr überzeugt. Anstatt dem Beispiel Brahms zu folgen, den sein melancholisches Gemüt die eigene Produktion waschkörbeweise verbrennen und in die Traun schütten liess, sollten wir unsere Geistes- und Lebenshaltung ändern. Unter dieser Voraussetzung hat die Untersuchung, wie sich zeitgenössische Musik auf den psychosomatischen Gesundheitszustand von Orchestermitgliedern auswirkt, einen Sinn.

5.16. Psychosomatische Symptome und Analyse zeitgenössisch Musizierender

Untersuchungsobjekte waren zwei grosse, hochqualifizierte Sinfonieorchester, die ausschliesslich oder nur teilweise zeitgenössische Musik spielen und ein drittes, das Konzert- und Opernwerke, aber keine zeitgenössische Musik aufführt (18).

Im ersten Orchester - auf das wir uns beschränken - sind 74 Prozent der Musiker wegen zeitgenössischer Musik unbefriedigt (39). Nach Karajan sollte ein Dirigent jedem Mitglied eines Orchesters in diesem Fall zur Verfügung stehen. Nur durch den persönlichen Kontakt seien Spannungen überwindbar und eine letzte Hingabe ans gemeinsame Werk möglich. Diese Forderung ist bei so hoher Anzahl der Fälle evidenterweise unerfüllbar.

Die befragten Musiker klagen, dass sie in einer Masse verschwänden, in der ihre Fähigkeiten nicht zur Entfaltung kämen, und dass sie traditionelle Werke nicht mehr erstklassig gestalten könnten. Einige Geiger meinten, ihr absolutes Gehör verloren zu haben. Cellisten verrieten, dass sie sich für solche Aufführungen ein minderwertiges Instrument gekauft hätten (43). Manche Instrumentalisten stopfen sich während der Probe Ohropax in die Ohren und nehmen vorher Analgetica ob des "musikalisch nicht gerechtfertigten Lärms", der keine musikalische Auflösung und Entspannung böte. Bei Phonmessungen wurden Zahlen erreicht, die auf Flugplätzen registriert wurden. Es sei ein erheblicher Unterschied, sich diese "musikalische Minderwertigkeit" einmal anzuhören oder sie beruflich gestalten zu müssen (45).

Die ungerechtfertigte Anhäufung schriller oder langanhaltender Klänge oder Flattertöne sei gegen den Menschen gerichtet. Die Metrik erscheint vielen Musikern sinnlos und chaotisch. Was soll der an dreiviertel- oder viervierteltakt-gewöhnte Mensch mit einem Taktwert von 260/75 anfangen? Viele Ausführende machen sich keine Sorgen mehr über die Metrik. Die Parallele zwischen den musikalischen und mitmenschlichen Dissonanzen ist einleuchtend (47). Immer wieder kommt es zwischen Dirigent und Musikern, oder zwischen Kollegen zu Streitigkeiten, die nicht auf grundsätzliche Differenzen, sondern nur auf den psychischen Spannungszustand zurückzuführen sind. Diese Empfindung bleibt noch lange Zeit nach der Aufführung bestehen. Dabei herrscht nicht das Bewusstsein, einer künstlerischen Arbeit zu dienen, sondern im Vordergrund steht das Geldverdienen (49).

Nur 5 Prozent der Untersuchten, die zudem eine athletische Konstitution aufweisen, verstehen "abzuschalten" - in der Mehrzahl Solisten, Komponisten und Hochschullehrer, die persönlich an dieser Musik interessiert sind und durch sie erhebliche Geldsummen verdienen.

Viele betonen, dass nach einigen Aufführungen sich das ganze Orchester krank fühle, Proben abgesagt werden müssten, Tabletten- (70 Prozent) und Alkoholkonsum erheblich stiegen. Die Probezeit für das jährliche Festival sei "die schlimmste Zeit des Jahres". Der von der Intendanz empfohlene Urlaub vor dem Festival sei nutzlos, weil nur mit Angst an die bevorstehende Belastung gedacht würde. In dieser Zeit leiden viele an Gereiztheit, Kopfschmerzen, Durchfällen und Darmspasmen (51).

Manche dieser Orchestermitglieder üben in der Freizeit eine Art "Ausgleichmusik" aus, damit die Freude am Beruf nicht ganz verloren gehe. Es gehöre jedoch viel Energie dazu, sich aus der fast immer anfänglich lähmenden Lustlosigkeit aufzuraffen, und es wäre nur der Tropfen auf den heissen Stein (58). Um grössere Schäden bei den Orchestermitgliedern zu vermeiden, dürfte man nur ein Drittel des Programms zeitgenössischen Werken einräumen (60).

Ein Musiker, der sich ernsthaft mit zeitgenössischer Musik auseinandergesetzt hat - also ihr nicht skeptisch oder feindselig gegenübersteht - und selbst komponiert, ist verzweifelt über das "künstlerische Abgleiten" seiner geliebten Musik und über die Sinnlosigkeit, durch sein Mitwirken daran noch beteiligt zu sein. Ein anderer kann kaum schlafen und ist von Alpträumen verfolgt. In einer solchen Zeit habe sich ein Kollege erhängt, der noch kurz zuvor berichtete, dass er diese Musik auch im Traume höre. "Alles Scheisse, perverse Spielereien, man müsste den Tierschutzverein zu Hilfe rufen, die Komponisten seien entweder homosexuell oder impotent wie ihre Musik..."

Viele künstlerisch wertvolle Komponisten wandten sich unter Protest von den "Förderern" ihrer Musik ab, als sie die Hintergründe durchschauten, und andere wurden von den "Förderern" fallen gelassen, weil sie nicht mehr neuartig schockierend genug komponierten. Bedeutende Komponisten, die das "Festival" mitbegründeten und dort uraufgeführt wurden, distanzierten sich von ihm, weil sie nur noch "den Spektakel, Aberwitz oder die Freude am Unfug" erlebten (65).

Nach abnehmender Häufigkeit gestaffelt, leiden zeitgenössisch Musizierende viel häufiger und intensiver an Gereiztheit, Streitsucht, Kopf- und Ohrenschmerzen, Depressionen, Störungen des Ehe- und Familienlebens, allgemeiner Lustlosigkeit, schwerem Erschöpfungszustand, Schlafstörungen, Durchfall und Obstipation, Herzbeschwerden und Impotenz (49). Die Aeusserung Adornos, "die Dissonanzen, die sie schrecken, reden von ihrem eigenen Zustand, einzig darum sind sie ihnen unerträglich", möchte der Musiker in den meisten Fällen wohl umkehren.

5.17. Erschütterung des Menschen als Ende oder Wende

Musik ist ein Symptom, aus dem uns Selbsterkenntnis erwachsen soll, um das Uebel an der Wurzel zu fassen. Der zeitgenössische Komponist gibt uns den Vorgeschmack der absoluten Auflösung. Es ist keine Abstraktion, dass heute ein schizoider Psychopath auf einen Knopf drücken könnte, um die ganze Menschheit aufzulösen. Die heutige Menschheit wird zu keiner neuen Antwort und Musik gelangen, wenn sie nicht die Auflösung am Werden, das Nichts am Sein oder an Gott und das Chaos an der Harmonie misst. Hier müssen sich Philosophie, Musik, Psychiatrie und Gestaltung des Lebens treffen (10).

Bei allem Leiden an der zeitgenössischen Musik wurde bei den meisten Künstlern die Frage laut, wie schwer es doch sei, "die Spreu vom Weizen zu scheiden", eindeutig zu entscheiden, was an dieser neuen Kunstrichtung echt und unecht, bleibend oder vergänglich sei. Das produktiv Neue muss allgemein durch Schmerzen und Leiden hindurchgehen. Ob das beim Gegenstand dieser Untersuchung der Fall ist, lassen die Aerzte dahingestellt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass zeitgenössische Werke spezifische Zugänge zum Innenleben Schizophrener ermöglichen, die der traditionellen Musik verschlossen sind. Man denkt an eine Anschlussmöglichkeit zur Psychosen-Psychotherapie von Rosen, dem jedes Schockierungsmittel recht ist, um die gegen den Kontakt zu Mitmenschen aufgebaute Barriere Schizophrener zu durchbrechen (81).

Indessen sind vor allem die "Gesunden" und Mitverantwortlichen am heutigen katastrophalen Weltgeschehen nicht berechtigt, sich der erschütternden Prophetie zeitgenössischer Musik zu entziehen.

Anmerkungen:




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